Moment 141: 1990
Stephan Lebert, heute Reporter der »Zeit«, schreibt in einer der ersten Ausgaben über das Rennpferd Ourasi.
Sehr faul und sehr erfolgreich. Irre müde sein und trotzdem ein Gigant. Dauernd schlafen und verehrt werden wie kein Zweiter. Wie soll das funktionieren? Tja, ausgerechnet bei einem Rennpferd hat das funktioniert, bei Ourasi, dem größten Traber der Geschichte. Vielleicht auch, um mir ein wenig von ihm abzuschauen, bin ich vor mehr als zwanzig Jahren nach Frankreich gefahren und habe Ourasi besucht, den faulen König, der nur gemeinsam mit einer weißen Ziege verreist ist und mehrere Millionen Euro verdient hat. Er hatte die Eigenschaft, bis unmittelbar vor dem Start wie ein alter, verschlafener Esel zu wirken - und dann zu gewinnen, immer, beinahe immer. Bei meinem Besuch fraß er einen Apfel aus meiner Hand und machte ansonsten den Eindruck, ein schönes Leben zu haben, ein wunderschönes, jetzt, wo er Rentner war und nur noch schlafen konnte. Das wichtigste Trabrennen der Welt, den Prix d’Amérique, hat er als Einziger vier Mal gewonnen, und deshalb wurde auf der Rennbahn in Paris-Vincennes ein Denkmal von ihm aufgestellt. Als ich damals wieder nach Hause fuhr, hatte er noch mehr als zwanzig Jahre Lebenszeit vor sich, er starb 33-jährig am 12. Januar 2013. Es war noch eine lange Idylle voller weißer Ziegen, knackiger Äpfel, französischem Himmel und voller was weiß ich noch alles. Und ab und zu kamen Fernsehteams vorbei, um nachzuschauen, wie -
es ihm geht, und Fans, die sich in den Faulpelz verliebt hatten. Ach, apropos Liebe, mit der Fortpflanzung hat es nicht so geklappt, Ourasi hatte nur wenige Nachkommen, und die taugten nichts, zumindest als Rennpferd. Sie hatten die Faulheit vom Vater geerbt, sonst nix. Vielleicht muss man doch feststellen: Faulheit und Sex, nicht die ideale Verbindung.
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Moment 142: 2014
Nass und Gewalt: Der Autor Patrick Bauer beschreibt das schwierige Miteinander der Cliquen, Schichten, Kulturen im Berliner Columbiabad. Eine Saison später fragt er den Bademeister Oli Ost, wie es seitdem lief.
Bald geht die Badesaison im Columbiabad wieder los. Freuen Sie sich?
Die geht ohne mich los. Ich habe aufgehört. Bin jetzt Schwimmlehrer in Schöneberg.
Aber nicht wegen unseres Berichts im SZ-Magazin?
Doch, auch deswegen!
Oh, das tut uns leid …
Ach, Quatsch! Das war richtig, richtig geil, ihr habt endlich mal beschrieben, was da los ist. Das hat natürlich einigen nicht gefallen, es gab richtig Alarm. Manche Kollegen waren sauer, weil sie im Artikel nicht so oft vorkamen wie ich oder weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnten. Ich wurde ein paarmal blöd angekackt nach dem Artikel, darauf hatte ich keinen Bock mehr.
Gab es auch positive Reaktionen?
Unglaublich viele. Ständig haben mich irgendwelche Leute angesprochen. Freunde haben gesagt: Wir wussten gar nicht, was du jeden Tag erlebst! Aber die beste Reaktion auf euren Besuch war tatsächlich meine berufliche Veränderung. Mein Leben ist jetzt viel entspannter.
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Moment 143: 2002 bis heute
650 Gewissensfragen hat Dr. Dr. Rainer Erlinger bisher beantwortet. Die mit Abstand häufigste ist eine, die jedes Jahr vor Weihnachten wieder kommt: Wohltätigkeitsorganisationen verschicken oft Leer-Postkarten und werben um Spenden - darf man die Karten verwenden, ohne zu spenden? Gute Frage. Und was hat Erlinger geantwortet? Also bitte, Sie lesen seine Kolumne seit dreizehn Jahren, da kommen Sie langsam selbst drauf, oder?
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Moment 144: 2013
Für ein Gespräch im SZ-Magazin spricht Helmut Schmidt zum ersten Mal öffentlich mit Hanns Martin Schleyers Sohn Hanns-Eberhard Schleyer. 1977 hatte der damalige Bundeskanzler einen Austausch des entführten Schleyer gegen inhaftierte RAF-Häftlinge verweigert.
Es hat mich berührt, mit Hanns-Eberhard Schleyer noch einmal ausführlich über die Geschehnisse von damals zu sprechen. Ich habe Hanns Martin Schleyer gut gekannt. Sein Leben bis 1977 spiegelt die deutsche Nachkriegsgeschichte. Als Schleyer im Herbst 1977 von Terroristen entführt und seine Begleiter erschossen wurden, gelang es uns nicht, den Entführten zu finden. Wir, die Verantwortlichen in Bonn, haben den Tod Schleyers nicht verhindern können, weil wir nicht erneut zulassen konnten, dass freigepresste Verbrecher ihre mörderische Tätigkeit fortsetzen. So waren wir in Schuld und Versäumnis verstrickt. Umso mehr hat mich die Entscheidung der Familie Schleyer zutiefst berührt, mit der Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises öffentlich ihren Respekt gegen-über meiner damaligen Haltung zum Ausdruck zu bringen.
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Moment 145: 2013
Der Autor Moritz Baumstieger verliert sein Handy in Nepal. Dass es jemand gefunden hat, merkt er, als auf seinem neuen Handy plötzlich Bilder auftauchen, die er nicht kennt - sie wurden per iCloud hochgeladen. Auf die Weise nimmt Baumstieger plötzlich am Leben eines ihm unbekannten Menschen teil.
Die Geschichte von Bijay und mir muss einen Nerv getroffen haben, die Reaktionen waren überwältigend: Unzählige Tweets, Mails und Nachrichten erreichten mich, Radiosender wollten sich das Abenteuer meines iPhones noch einmal live erzählen lassen. Auf Journalisten-Treffen werde ich nach wie vor als »der mit dem iPhone« begrüßt oder vorgestellt. Wenn ich erzähle, dass ich bald verreise, kommt meistens ziemlich schnell der Ratschlag, ich solle auf mein Telefon aufpassen.
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Moment 146: 1995
Moritz von Uslar interviewt den Modeschöpfer Helmut Lang. Darf man sagen, dass Lang erst daraufhin einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird? Man darf. Zum Jubiläum hat Lang das Cover von damals noch mal rausgekramt und ergänzt.
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Moment 147: 2011
Das SZ-Magazin erscheint auch auf Handys und Tablets. Wolfgang Luef leitet die digitale Ausgabe.
Die vielen Filme, die bei unseren Shootings entstanden sind, während Recherchen oder innerhalb der Redaktion, vermitteln einen ganz neuen Blick auf unsere Arbeit. Manchmal singen die Redakteure sogar. Hier können Sie eine kleine Auswahl sehen.
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Moment 148: 1997
Seit vielen Jahren denkt sich Hans Gerlach für das SZ-Magazin Rezepte und Koch-Geschichten aus. Einmal musste er dabei ganz besonders Gas geben.
Ich hatte etwas über Trucker gelesen, die ihre Bohnenbüchsen auf dem Motorblock warm machen, damit sie schneller wieder auf der Straße sind. Also habe ich ein komplettes Rinderfilet auf einem Jaguar V12 gebraten. Hat wunderbar geklappt, wurde sehr zart. Das war in den Neunzigern ein Vorläufer des modernen Garens bei niedriger Temperatur. Leider gehörte der Jaguar nicht mir, sondern dem Fotografen.
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Moment 149: 1996
Stefan Kornelius, der heutige Außenpolitik-Chef der »SZ«, steigt für das SZ-Magazin in einen Kampfjet. Es bekommt ihm mittelgut.
Zwei Dinge sind es, die auf immer im Gedächtnis bleiben: Tempo und Tüte. Tempo ist bei einem Kampfflugzeug eigentlich selbstverständlich. Aber diese Erkenntnis ist neu: Geschwindigkeit im Raum hat nichts mit der Überholspur auf der A8 zu tun. Jetfliegen ist ein Tempoerlebnis in Höhe, Breite und Tiefe. Du bist auf einem schmalen Schalensitz festgeschnallt, über dir eine Haube aus Plexiglas, unter dir nur die Andeutung von Flügeln. Ansonsten: nichts. Eigentlich will die Fliehkraft das Blut aus den Zehen treiben, die Anti-g-Hose presst es zurück in den Körper. Wenn die Maschine nach links abfällt, dann fällt der ganze Körper ins Nichts. Wenn der Pilot die Maschine nach rechts legt und dabei Schub gibt, dann verweigert das Gehirn die Orientierung. Beschleunigung bei gleichzeitiger Drehung um zwei Achsen - das verkraftet kein Gleichgewichtssinn. Die Erde rotiert, Berge und Himmel verschwimmen, wenn die Flugzeugnase steil in die Stratosphäre steigt. Dann der Kipp-Punkt, die Maschine fällt hinten rüber, ein kurzes Glücksgefühl in der Schwerelosigkeit, ehe zwanzig Tonnen im freien Fall auf die Erde zurasen. Rapid descent in Schallgeschwindigkeit - kein so glückliches Gefühl. Dann: Rollen, Loopings, Luftkampfmanöver mit einem anderen Jet. Das Innenohr hat längst kapituliert, der Körper reagiert mit Schweißausbrüchen und Hitzeschüben. Deswegen gibt es die Tüte. Die Tüte presst dir vor dem Start ein netter Mensch vom Bodenpersonal in die Hand. »Wenn du danebenspuckst, und wir müssen das Cockpit reinigen, kostet das einen Kasten Bier«, sagt er. Also alle Konzentration auf die Tüte. Groß ist sie nicht, aber es ist früher Morgen, die Nerven hatten das Frühstück verweigert, viel kann die Tüte nicht erwarten. Bei der zweiten Rolle gibt der Magen auf. Dann die schnellen Turns - Augen und Gehirn funktionieren nicht mehr als Einheit. Die Tüte füllt sich. Aber sie reicht gerade so, und die Kanzel bleibt sauber. Gute Miene beim Ausstieg, nur nichts anmerken lassen. Die Tüte wird dezent entsorgt.
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Moment 150: 2013
Der Reporter Michael Obert kommt gesund von einer Reportage in Mogadischu zurück, alles ist gut. Und der Chefredakteur Timm Klotzek hat - wieder einmal - Gelegenheit, über seinen SZ-Magazin-Moment nachzudenken: einen Moment, der hoffentlich nie eintritt.
Der Reporter Michael Obert reist regelmäßig für das SZ-Magazin. Zum Beispiel zum Bürgermeister von Mogadischu, dem Islamisten im April 2012 diese SMS schickten: »Wir sehen dich, du stehst vor deinem Haus, du trägst ein Khakihemd und eine Sonnenbrille und sprichst mit einem weißen Journalisten - in zwei Minuten bist du tot.« Oder zu den geheimen Foltercamps auf der Sinai-Halbinsel, zu verfolgten Christen in Oberägypten, ins brodelnde Kairo, zu den Albino-Jägern in Ostafrika. Oberts Recherchereisen sind minutiös geplante Expeditionen, sie sind sehr teuer und sehr aufwändig, vieler Wochen Vorbereitung bedarf es, in unsicheren Weltgegenden Kontakte zu knüpfen, verlässliche Führer, Fahrer und Übersetzer zu suchen. Stets schwingt die bange Überlegung mit: Was ist wem wo mein Leben wert oder eben auch nicht, wer könnte uns verraten, wem lässt sich trauen? Am Ende der Reisevorbereitungen, am letzten Abend vor dem Abflug, schickt er stets noch eine kurze Mail mit immer wortgleichem Inhalt an Regina Burkhard, die Assistentin der Chefredaktion, und mich: Wen wir benachrichtigen sollen, so ihm etwas zustößt. Regina Burkhard kämpft dann stets mit den Tränen, sie hat mir erlaubt, dies hier zu erwähnen. Ich vergrabe mich am Schreibtisch, starre auf die bei Oberts vergangener Reise im Handy gespeicherte Nummer - hat sie sich in den vergangenen Monaten geändert? Ist mir beim Abtippen auch wirklich kein Zahlendreher unterlaufen? Ist es tatsächlich wieder verantwortbar, Michael Obert zu schicken, gibt es von München aus noch irgendetwas zu tun, was seine Recherche sicherer machen könnte?
Seit 25 Jahren schickt das SZ-Magazin fast täglich Reporter um die Welt, sie fahren Auto durch Sturm und Nacht, fliegen natürlich auch von Barcelona nach Düsseldorf oder überqueren zu Fuß eine sechsspurige Straße in Athen. Wie wohl allen meinen Vorgängern in der Chefredaktion geht mir immer diese Frage durch den Kopf, bei jedem Zugunglück, jedem Hotelbrand und jedem großen Erdrutsch: Ist da jetzt jemand von uns? Mein SZ-Magazin-Moment ist eigentlich dessen Abwesenheit, das Verschontbleiben von der schrecklichen, unsere eigene Redaktion betreffende Nachricht, das Verschontbleiben von der verdammten Pflicht, eine wie die von Michael Obert gewünschte Nummer zu wählen. 25 Jahre Vorbereitungszeit auf eine Grabrede: Ist das viel oder wenig?
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Moment 151: 2014
Der Reporter Roland Schulz besucht eine NASA-Station in den USA und trifft einen Mann, der die weiteste Reise der Menschheit möglich macht, aber selbst nie aus Kalifornien herauskommt.
Vor der Begegnung war ich aufgeregt. Larry Zottarelli ist eine Legende: Er programmiert die Bordcomputer der Voyager-Raumsonden, die unser Sonnensystem bereist haben - Jupiter, Saturn, Uranus. Er sprach sehr leise, wie viele Menschen, die niemandem mehr beweisen müssen, wie bedeutend ihr Tun ist. Zottarelli ist 78. Die Sonden fliegen seit 38 Jahren; Zottarelli ist der Einzige, der ihre Maschinensprache noch beherrscht. Weil er so leise sprach, hätte ich einen Satz fast überhört. Er sagte, er wäre auch gern auf Reisen gegangen, aber nun sei er zu alt. Ich verstand nicht. Auf Reisen? Seine beiden Sonden ließen gerade die Grenzen des Sonnensystems hinter sich. Nein, sagte er, er meine einfach das Ausland. Am liebsten Rom oder Alia, das Dorf seiner Ahnen. Wollte er immer sehen. Hat nie geklappt. Die Arbeit. Die Familie. Das Leben. Nicht mal nach Tijuana habe er es geschafft, sagte er, gleich hinter der Grenze. Und nun hatten ihm die Ärzte alles Reisen verboten. Ich fand das traurig und schön: Zottarelli ist Teil der weitesten Reise, die Menschen je wagten. Seine Heimat aber hat er nie verlassen.
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Moment 152: 2004
Uli Myrzik und Manfred Jarisch haben einen Fototermin bei Reinhold Messner. Der Termin beginnt ungewohnt.
Wir haben viele große Fotogeschichten für das Magazin gemacht. Aber wir mussten nur ein einziges Mal jemandem die Füße waschen. Reinhold Messner wollte seine Füße auf keinen Fall ungewaschen fotografieren lassen. Also erst das Wasser, dann die Kamera. Das war neu für uns.
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Moment 153: 1993
Dieter Hoeneß spricht im SZ-Magazin ungewöhnlich offen mit seinem Bruder Uli. Interview (damals und heute): Carolin Schuhler
Nachdem Sie und Ihr Bruder Uli 1993 im SZ-Magazin die Tipp-Kick-Turniere im Elternhaus erwähnt hatten, erlebte das Spiel eine wahre Renaissance: Plötzlich sprachen wieder alle darüber.
Ist ja auch eine prima Sache. Meine Söhne haben es auch gespielt. Meine Enkelinnen sind noch zu klein, aber später - wer weiß?
Übrigens wirkten Sie beim Gipfeltreffen damals auf mich wie der Ältere.
Wieso, sah ich so alt aus?
Nein, weil Sie mehr Ruhe ausstrahlten. Sonore Stimme, relaxter Auftritt.
Vielleicht lief es da bei mir im Job gerade rund und beim Uli weniger. 1993 waren wir beide Fußballclub-Manager, er bei den Bayern, ich beim VfB Stuttgart - und das bedeutete: sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag unter Strom, immer erreichbar sein, immer damit rechnen, dass irgendetwas passiert. Und wenn dann etwas passierte, hat das die persönliche Stimmung schon beeinflusst. Das konnte man nie ganz abschütteln.
Das Aufwachsen als Jungs mit nur einem Jahr Altersunterschied, die sportliche Konkurrenz, die Zeit beim FC Bayern, wo Sie Spieler waren und Uli als Manager quasi Ihr Vorgesetzter: Mit Anfang vierzig dachten Sie, die toughen Brüder-Situationen endlich hinter sich zu haben. Aus heutiger Sicht, nach der Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft für Uli wegen Steuerhinterziehung: ein Irrtum?
Nein, unser Verhältnis heute ist völlig unbelastet, durch die jüngsten Ereignisse eher noch enger geworden.
Was ist das für ein Gefühl, zu wissen: Mein Bruder sitzt im Gefängnis?
Kein gutes. Das, was Uli durchmacht, belastet natürlich alle, die ihm nahestehen, vor allem seine Familie. Wir machen uns große Sorgen um ihn, besonders in den ersten Monaten. Durch den Freigang hat sich seine Situation verbessert, aber es ist noch ein langer Weg.
Und Sie als Bruder können nichts tun.
Diese Hilflosigkeit hat mir sehr zu schaffen gemacht. Aber ich weiß auch, dass wir ihm allein dadurch helfen, indem wir ihn als Familie bedingungslos unterstützen.
Sie sagten damals, dass Sie Ihren Söhnen den Druck, der in der Fußballbranche herrscht, ersparen möchten. Hat das geklappt?
Nicht so richtig: Der eine ist heute Marketingdirektor beim FC Bayern, der andere will Fußballtrainer werden. Irgendwie ließ sich das nicht verhindern, aber beide machen ihre Sache richtig gut.
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Moment 154: 2010
Zwei Nasen tanken Tolstoi: »Krieg und Frieden« erscheint als Hörbuch auf 57 CDs, zwei Redakteure wollen es ganz hören. Und wann oder wie sollte man Tolstoi besser hören, als wenn man währenddessen mit dem Auto nach Russland fährt? Andreas Bernard über eine gute Reise.
2500 Kilometer, durch Österreich, die Slowakei, Tschechien, Polen und die Ukraine, »davon nur 648 Kilometer Autobahn«, wie es auf dem Routenplaner hieß. Lars Reichardt und ich kamen viel schneller durch als erwartet, und als wir feierlich vor dem Grab auf Tolstois Landgut Jasnaja Poljana standen, lag erst CD Nr. 29 im Wechsler. Wir fuhren also einen Umweg über Borodino, um das berühmte Schlacht-feld von 1812 zu besuchen, zurück über Lettland und Litauen, und als wir am neunten Tag die deutsche Grenze bei Frankfurt an der Oder überquerten, erklangen die letzten von Ulrich Noethen vorgelesenen Sätze. Um es in Anlehnung an den ersten Satz eines anderen großen Tolstoi-Romans zu sagen: Alle vernünftigen Journalisten gleichen einander, jeder bescheuerte Journalist ist auf seine eigene Weise bescheuert.
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Moment 155: 2013
Ein Heft über Mode und Film, für das Cover soll Batman fotografiert werden. Der Fotograf Julian Baumann weiß: Es kam dann ein bisschen anders.
Der gecastete Batman war überraschenderweise ein kleiner dicker Mann, kam eine Stunde zu spät, hatte kein Kostüm dabei und wunderte sich, dass er eine Maske tragen sollte: »I thought you wanted me for myself.« Wir mussten improvisieren - und ein Kerl mit Spidermanverkleidung war der Nächstbeste, den wir auftreiben konnten.
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Moment 156: 2008
Auf dem Platz sieht der FC-Bayern-Spieler Luca Toni oft aus, als wäre er einem Renaissance-Gemälde entstiegen. Der Redakteur Marc Baumann sucht die Originale dazu.
Wie kann es sein, dass der 1977 geborene Fußballprofi Luca Toni bereits im Jahr 1478 von Sandro Botticelli gemalt wurde, als Giuliano de’ Medici? Und 62 Jahre später, 1540, noch einmal als Portrait eines jungen Mannes mit Papagei und Granatapfel von Nicolò dellAbate? Eine direkte Antwort auf die Frage habe ich nicht gefunden, ich habe aber erfahren, wie die Entdeckung bei Familie Toni ankam: Der Manager fragte, ob wir die Bilder nicht schön groß auf schwarzem Hintergrund aufziehen könnten - zum Dank bekäme ich ein getragenes Bayern-Trikot. Denn Tonis Freundin Marta wollte die Bilder in der Wohnung aufhängen. Leider wurde nichts daraus.
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Moment 157: 1993
Moritz von Uslar hat 1993 seinen Einstieg beim SZ-Magazin mit einem Interview, das scheinbar überhaupt nicht zum Heft passt - und es gerade deshalb tut.
Es war die Zeit, als auf Themenkonferenzen im SZ-Magazin noch geraucht wurde: Frühjahr 1993. Meistens brannten gleichzeitig zehn Zigaretten. Die Redakteure sahen anders aus als heute, sie waren deutlich über dreißig, trugen komische Strubbelfrisuren und dicke Strickpullover. Ich war damals 22 und auf Einladung des stellvertretenden Chefredakteurs Christian Kämmerling in die Run-de gekommen - es war meine ers-te Themenkonferenz beim SZ-Magazin. Einer schlug die Oliven-ernte in der Toskana als Thema vor. »Sehr schöne Geschichte«, sagte der andere stellvertretende Chefredakteur Uli Brenner, der später die Münchner Journalis-tenschule geleitet hat, »das machen wir.« Einer hatte eine sehr ernste Reportage vom Drogenkrieg in Kolumbien. »Sehr schöne Geschichte«, sagte Brenner, »muss man machen.« Ich war nun an der Reihe und erzählte, dass ich vier Jungs in München kannte, die die Jacken des kalifornischen Designers Shawn Stüssy trugen: »Mit denen würde ich ein großes Gespräch machen. Über Jacken. Und so.« Es gab eine Pause. Dann sagte Uli Brenner: »Wollen wir jetzt über Jacken berichten? Ich meine, dann könnten wir doch genauso über dicke Uhren schreiben. Über Modemacher. Oder über Fotomodelle. Das ist nicht unsere Aufgabe.« Christian Kämmerling - er steckte sich immer eine an, während die im Aschenbecher noch brannte - fragte in die Runde: »Sagt mal, ist euch nicht warm mit euren Pullovern? Ich finde, dass auf Konferenzen im SZ-Magazin zu viel Pullover getragen wird.« Die kluge Bildredakteurin Eva Fischer sagte: »Stüssy-Jacken? Ich finde, das klingt ganz -lustig.« Kämmerling sagte nun -etwas, was bei SZ-Magazin-Kon-ferenzen der nächsten Jahre eine Art Mantra wurde, es wurde immer wieder zitiert: »Ich finde, dass wir in unseren Themen zu weit draußen in der Welt unterwegs sind. Man muss gar nicht so weit weg. Ein gutes Thema, das liegt hier auf dem Tisch.« Und er zeigte auf den Redaktionstisch, auf dem zwei Kulis lagen und der große Redaktions-Aschenbecher stand. Kämmerling bat nun darum, dass ich der Runde die Jacke vorführte, die bei mir über der Stuhllehne hing. Im Juni 1993 erschien im SZ-Magazin mein Interview mit Dennis, Oschi, Raffi und Daniel auf sechs Seiten. Unter der Überschrift »Wir haben kapiert, dass Jacken die Welt aufmischen können«.
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Moment 158: 2006
Terrorist oder Redakteur? Eine Fotostrecke stellt die Wirksamkeit von Fahndungsfotos in Frage. Auch der heutige Artdirector Thomas Kartsolis ist auf einem der Bilder zu sehen (hier der gefährliche Typ oben links).
Es gab in dem Sommer eine hysterische Terrorismusdebatte, Boulevardzeitungen forderten fast unverhohlen auf, Bürger mit Migrationshintergrund zu denunzieren. Wir wollten zeigen, wie schnell jeder von uns zum scheinbaren Terroristen werden kann. Die Handykameras waren damals so schlecht, das ging wie von selbst. Wir haben einen echten Terroristen unter die Bilder gemischt und auf der Straße den Test gemacht: Kaum ein Passant hat ihn gefunden. Die meisten tippten auf mich, auf Philipp Oehmke, damals Redakteur, und auf Mirko Borsche, damals Artdirector. Die ganze Geschichte halte ich für sehr typisch SZ-Magazin: mit einer guten Idee und einfachen Mitteln auf Zeitgeschehen reagieren.
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Moment 159: 2015
Markus Peichl, Chef der Lead Award Academy, über seinen SZ-Magazin-Moment:
In meinem Fall ist der Moment ein Murmeltier. Es grüßt mich jährlich, wenn wir die Lead Awards in Angriff nehmen. Dann kommt eine Kiste mit dem gesamten letzten Jahrgang von SZ-Magazinen an. Wir öffnen sie, blättern, durchsuchen jede Ausgabe, schneiden gelungene Beiträge heraus und hängen sie an lange Wände. Wir vergleichen sie, wägen ab und geraten jedes Mal wieder ins Staunen. Seit 25 Jahren machen wir das, so lange es die Lead Awards und das SZ-Magazin gibt. Am Ende entlädt sich unser Staunen stets in einem Preisregen. 287 Mal haben wir das SZ-Magazin bisher ausgezeichnet, öfter als jedes andere Magazin und jede andere Publikation in Deutschland. Das SZ-Magazin ist und bleibt eine Ausnahmeerscheinung auf dem deutschen Printmarkt, ein seltenes Murmeltier. Und Murmeltiere stehen unter Naturschutz. Aus gutem Grund.
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Moment 160: 1996
Juergen Teller fotografiert das Model Kristen McMenamy - so neu und ungewohnt, dass Angelika Taschen bis heute begeistert ist.
Ich werde nie vergessen, wie ich das SZ-Magazin aufschlage und diese Bilder sehe. Das war 1996, die Zeit der Supermodels, mit ihren perfekten Fönfrisuren und dem gesunden, vitalen Teint. Und McMenamy? War damals auch ein Supermodel, aber kriecht auf einem Bild auf allen Vieren auf einem fiesen Filznadelboden herum, im Hintergrund ein alter Heizlüfter. Auf den meisten Bildern ist sie nackt, einmal hat sie eine Kippe im Mund, auf der Brust ein mit Lippenstift gemaltes Herz, in dem »Versace« steht. Ich sah diese Fotos und wusste: Das ist der Moment, in dem eine Ära aufhört und eine neue beginnt. Mir war klar, diese Bilder markieren eine Zäsur in der Modefotografie. Von jetzt an mussten Frauen nicht mehr perfekt zurechtgemacht sein, um als schön zu gelten. Juergen Teller hat das erkannt. Und Ihr eben auch, indem Ihr diese Bilder veröffentlicht habt. Das war mutig und ganz weit vorne. Und im Rückblick habt Ihr richtig gelegen: Neulich habe ich jemanden mit einem Jutebeutel durch die Gegend laufen sehen, auf dem einfach nur »Juergen« stand. Kein Zweifel, wer damit gemeint war.
Fotos: Andy Kania, Getty Images; Armin Smailovic, Elfie Semotan, Michael
Schinharl, Lilli Carré; Jan Grarup; Myrzik + Jarisch, Konrad R. Müller; Julian Baumann, Bogdan Braikov, dpa /sampics; Getty Images, Mirko Borsche, Juergen Teller