21 bis 40

Ein Besuch im Kanzleramt. Ein frei gelassenes Käfighuhn. Kaputte Autos in Kenia. Rammstein, Idi Amin und Oma Obama. Und ein Redakteur, der sich beim Skirennen blamiert.

    Moment 21: 2007

    Deutschlands Gesellschaft wird immer älter. Deshalb überlässt die Redaktion eine Ausgabe den erfahrensten Journalisten des Landes: Anneliese Friedmann, Hans Ulrich Kempski, Joachim Kaiser, Peter Sartorius und vielen anderen. Das Klassenfoto macht Stefan Moses. Eine große Erinnerung an die Großen ihres Fachs.

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    Moment 22: 2013

    Der Redakteur Till Krause erinnert sich an eine bizarre Ausflugsattraktion seiner Jugend: ein Liliputaner-Dorf in der Pfalz. Also nimmt er Kontakt auf zu den Menschen, die damals dort lebten.

    Selten so einen lieben Menschen getroffen wie Brigida Saar. Sie hat viele Jahre als Attraktion in einem Freizeitpark verbracht, als Kleinwüchsige in der sogenannten Liliputaner-Stadt, wo sie in einer Art Puppenstube leben musste. Sie zeigte an die Decke ihrer Altbauwohnung und sagte einen Satz, auf den sie (1,40 Meter) und ich (1,89 Meter) uns sofort einigen konnten: Es gibt nichts Schöneres als hohe Räume.

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    Moment 23: 1997

    Eine ganze Ausgabe lang erzählt das SZ-Magazin ausschließlich erfundene Geschichten - und schickt unter anderem einen falschen Idi Amin durch die Gegend. Der Fotograf Enno Kapitza erinnert sich an einen denkwürdigen Auftritt des Doppelgängers:

    Die Idee für das Cover: Idi Amin fährt Wasserski auf dem Gardasee. Unser perfektes Amin-Double, ein Amerikaner, den die Fotochefin Eva Fischer wie durch ein Wunder gefunden hatte, behauptete: »No problem.« Er ist uns aber auf dem Gardasee fast abgesoffen. Zum Coverbild wurde, wie er lässig in einem Motorboot über den See schippert. Dann ein Foto mit drei Mädels und Möpsen, völlig absurd: Wir hatten extra eine Mopstrainerin mit Ersatzmops dabei (»Wird schnell mal ohnmächtig, so ein Mops.«) Das Beste aber war: Noch Monate später riefen Redaktionen aus aller Welt an, um an die vermeintlichen Sensationsfotos zu kommen. Sie dachten immer noch, das alles wäre echt gewesen.

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    Moment 24: 2009

    Die Schauspielerin Nina Proll ist zum ersten »Stadtgespräch« in Wien eingeladen. Das ist für alle Beteiligten ein Experiment, eine neue journalistische Form: ein Ort, viele Menschen im ständigen Wechsel, ein Kommen und Gehen, zwei, drei, viele Dialoge durcheinander. Mittlerweile sind die Stadtgespräche ein wiederkehrendes Element im SZ-Magazin.

    Als die Einladung zum Kaffeehaus-Gespräch in Wien kam, habe ich erst gedacht: Das kann doch alles nicht ganz ernst gemeint sein. Da stand, es sei ganz egal, zu welcher Uhrzeit man komme, die Redakteure würden einfach den ganzen Tag über im »Café Engländer« warten. Man solle nur bitte zwei Stunden lang bleiben. So was hatte ich noch nie erlebt - und die anderen elf Eingeladenen wohl auch nicht. Und dann schrieb die Redaktion noch: »Wir haben kein Ziel. Kein bestimmtes Thema. Wir lassen uns treiben.«

    Keiner von uns hat wohl gedacht, dass das wirklich stimmt. Aber ja: Die Interviewer haben uns gefragt, wo wir im Urlaub waren und ob wir vor dem Café einen Parkplatz gefunden hätten. Es klingt banal, aber es war eine hervorragende Taktik: So haben wir die richtigen Themen selber finden müssen. Zwölf Österreicher haben sich angeregt unterhalten, manche kannten einander, andere niemanden. Wir haben über das Land geredet, den Wasserkopf Wien, die Kulturszene, die Politik, sogar über Fußball und Skifahren - die Besucher aus Deutschland mussten nur zuhören. Und manchmal eine neue Flasche Sekt oder Wein bestellen.

    Marlene Streeruwitz sagte damals: »Nina Proll macht ein Gesicht, als ob sie alles wüsste.« Seitdem versuche ich rauszufinden, was das wohl für ein Gesicht war. Nur, falls genau das beim Drehen einmal von mir verlangt werden sollte.

    Mittlerweile sind diese riesigen Gesprächsrunden in fremden Städten ja ein Markenzeichen des Magazins geworden. Immer wenn ein neues Stadtgespräch erscheint, Istanbul, Athen, Moskau oder Jerusalem, muss ich an dieses erste Experiment in Wien denken und freue mich, dass ich Teil des »Prototyps« war.

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    Moment 25: 2010

    Für eine Titelgeschichte über die neuen Konservativen in Deutschland ändert der damalige Art-Director Daniel Bognár ausnahmsweise den Schriftzug des SZ-Magazins.

    Das war gewagt: ein schwarzes Cover mit Frakturschrift drauf. Prompt haben sich etliche Deutschlehrer und ältere Mitbürger echauffiert - aber nicht über die Optik, sondern über die angeblich falsche Orthografie und vor allem über die Trennung der Wörter, das habe man früher nicht so gemacht. Ich fand es trotzdem ein gelungenes Cover.

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    Moment 26: 2015

    Alois Loew, Inhaber der PR-Agentur Loews München, erinnert sich an ein besonderes Interview:

    Jede Ausgabe des SZ-Magazins bietet unerwartete und überraschende Einblicke. Besonders lesenswert fand ich das tiefsinnige Gespräch mit der großartigen Schauspielerin Bibiana Beglau. Manchmal entdeckt man in solchen Geschichten auch einen überraschend persönlichen Bezug: Mich verbindet mit ihr, dass sie beinahe Bäuerin geworden wäre und ich beinahe Bauer.

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    Moment 27: 2003

    Der Redakteur Rainer Stadler erfüllt sich einen Jugendtraum: Der leidenschaftliche Skifahrer rast die weltberühmte Streif herunter.

    Wir sprachen in der Redaktion über die Herrenabfahrt auf der Streif in Kitzbühel. Von uns käme da keiner runter, meinte der Chef. Die Runde nickte. Ich war als Jugendlicher Skirennen gefahren und sagte: Ihr Nullen, ich brauch dafür höchstens drei Minuten! Die Kollegen waren begeistert und forderten, ich müsste aber wie ein Profi trainieren und mir eine richtige Ausrüstung besorgen. Ich rief beim ehemaligen Streif-Sieger Sepp Ferstl an. Er trainierte gerade Zehnjährige beim Ski-Club Traunstein und ließ mich mitmachen. Ich war bei allen Übungen der Langsamste. Dann fuhr ich zur Ausrüsterfirma des Streif-Siegers Stefan Eberharter, wo ich den größten vorrätigen Rennanzug bekam. Er rutschte erst über meine Oberschenkel, als zwei Verkäuferinnen daran herumzogen. Schnee fiel dann auch keiner, und so brauchte ich sieben Minuten länger für die Streif als angekündigt. Ich schrieb die Blamage nieder und kam aufs Cover des SZ-Magazins. Klingt toll, aber wer macht sich schon gern öffentlich zum Trottel? Als das Heft erschien, habe ich mich erst mal drei Tage zu Hause verkrochen. Dabei gab es eigentlich nur eine kritische Reaktion auf das Titelbild: Der Rennanzug, meinte ein Freund, der war dir aber schon etwas zu eng, oder?

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    Moment 28: 2008

    Der Reporter Christoph Cadenbach rekonstruiert minutiös eine tödliche Messerstecherei in Berlin. Erol A. wird wegen Totschlags zu acht Jahren Haft in einem Berliner Jugendgefängnis verurteilt. Heute blickt er voll Reue zurück:

    Drei Jahre nachdem Ihr Reporter mich im Gefängnis besucht hat, wurde ich in die Türkei abgeschoben, 2011, nach der Hälfte meiner Haftzeit. Seitdem lebe ich in Gaziantep bei meinen Eltern, die sind kurz nach meiner Tat zurück in die Türkei gezogen. Es ist eine schöne Stadt, zwei Millionen Einwohner, aber ruhig. Ich studiere Englisch, möchte Lehrer werden, im Gefängnis hatte ich meinen Schulabschluss nachgeholt. Der Knast hat mich verändert. Ich bin viel ruhiger geworden und kann viel besser unterscheiden, ob mir Dinge guttun oder nicht. Und ja, manchmal muss ich an die Tat denken. Natürlich verstehe ich jeden Tag besser, was damals passiert ist und nicht hätte passieren sollen. Ich bereue es und würde am liebsten die Zeit zurückdrehen.

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    Moment 29: 1998

    Der TÜV-Prüfer Walter Müller reist im Auftrag des SZ-Magazins nach Kenia und untersucht die Lastwagen, die dort herumfahren. Eine Geschichte, die Roger Willemsen nie vergessen wird.

    Meine liebste Geschichte erwischte mich unvorbereitet, mein Gelächter setzte schon beim Cover ein, beim Bild dieses herzlich gut gelaunten Afrikaners vor seinem schadhaft wirkenden Automobil. Darunter stand bloß: »Diesem Mann wird sein Lachen gleich vergehen.« Man ahnte nichts Gutes und wurde nicht enttäuscht: Die Redaktion hatte zwei Beamte des deutschen TÜV in blauen Overalls nach Afrika geschickt und dortige Vehikel auf ihre Verkehrstauglichkeit prüfen lassen. Das Resümee (aus dem Gedächtnis zitiert): »Dieser Wagen hat 136 Mängel.« Als der Besitzer aber gefragt wird, was er als Erstes beheben würde, erwidert er: »Den Anstrich. Ich würde den Wagen grün streichen.« Nein, dem Mann war sein Lachen nicht vergangen und mir auch nicht, denn charmanter als diese war selten eine Kollision zwischen zwei ebenbürtigen Klischees.

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    Moment 30: 1998

    Helmut Kohl, der die Süddeutsche Zeitung für ein linkes Kamfblatt hält, entdeckt das Richtige im Falschen und gibt dem SZ-Magazin ein Interview. Ulf Poschardt, damals Chefredakteur, fährt hin.

    Kohl war seit sechzehn Jahren Bundeskanzler, aber nahezu allen politischen Beobachtern war klar, dass es nun vorbei sei. Ich erwartete einen gebrochenen, melancholischen Mann, als 68er-Kind selbstverständlich auch die Inkarnation eines Feindbildes, den Mann, der die Reporter von Spiegel-TV vor laufender Kamera anschnauzte. Mit der Süddeutschen Zeitung stand er ein wenig auf Kriegsfuß, das Magazin aber erschien ihm als postideologische Nische für Genießer. Die beiden Chefredakteure begrüßte er mit: »Da kommen ja die Roten« - und lachte dabei. Wir erst mal nicht. Es folgten zwei Stunden bei einem Staatsmann, der schon anfing, historisch zu werden. Als das 68er-Kind Kohl fragte, ob er denn in seinem Büro auch gut drauf komme, rief er Juliane Weber ins Büro und befahl sie an eine Art DJ-Pult, getarnt in einem Büroschrank. Es ertönte die Big Band der Bundeswehr in ohrenbetäubender Lautstärke. Kohl grinste, die Interviewer staunten, und rückblickend erinnerte die Stimmung im Bonner Kanzleramt fast an ein Deichkind-Video. Kein Wunder, dass das Party Animal Gerhard Schröder in diesen Club reinwollte. Am Abend sahen wir Kohl dann beim Abendessen bei seinem Lieblingsitaliener sitzen. Serviert wurde eine meisterschaftsschalengroße Platte mit Antipasti, ich vermutete, für die gesamte Entourage. Umso erstaunter konnte ich von der Seitenlinie verfolgen, wie der Bundeskanzler dieses beeindruckende Ensemble italienischer Kochkunst innerhalb weniger Minuten verzehrte. Im Taxi saßen Christian Kämmerling und ich kopfschüttelnd: »Der hat uns total über den Tisch gezogen.« - »Warum?« - »Weil er nett war.« Wir waren sauer.

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    Moment 31: 2007

    Jenseits von Amerika: Barack Obama kandidiert als Präsident, und der Redakteur Alexandros Stefanidis fährt nach Kenia, um Obamas Großmutter zum Erfolg ihres Enkels zu befragen.

    Im Laufe der Jahre hatte ich viele schöne SZ-Magazin-Momente: das letzte Interview mit Rudi Carrell, die Reportagen über Griechenland, Peer Steinbrücks Mittelfinger. Auch ein toller Moment: meine Reise zu Barack Obamas Großmutter. Ich hatte das Passfoto der Frau in einem italienischen Magazin entdeckt und war nach einer kurzen Recherche verwundert, dass außer ein paar amerikanischen Fernsehkollegen kaum einer über sie berichtet hatte. Zwei Wochen später besuchte ich sie. Wir saßen im Schatten unter einem Mangobaum, sie kramte Fotos aus einer blauen Blechdose, die Barack Obama als Student zeigten, auf den Spuren seiner familiären Wurzeln in Afrika. Im Sommer 2007 war noch nicht abzusehen, dass er ein Jahr später Präsident der Vereinigten Staaten werden würde. Doch als Obama im November 2008 die Wahl tatsächlich gewonnen hatte, erhielt ich einen Anruf vom damaligen Übersetzer, einem Verwandten der Obamas. Die Verbindung war leider nicht besonders, am anderen Ende der Leitung hörte ich immer nur ein Wort: »President! President! President!«

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    Moment 32: 2012

    Für die »Edition 46« will das SZ-Magazin sich auf neues Terrain wagen: Diesmal steht nicht nur ein Künstler im Mittelpunkt, sondern mehrere - und zum ersten Mal geht es um Videokunst. Möglich macht das die Kunstsammlerin Ingvild Goetz.

    Die Edition 46 des SZ-Magazins - ein bedeutender Künstler, der große Teile des Heftes gestaltet, das gefällt mir natürlich. Und dann, im Sommer 2012, bekam ich auf einmal selbst einen Anruf : Ob ich Lust hätte, eine Edition 46 zum Thema Videokunst zu kuratieren. Ich war sofort begeistert. Das Tolle an der Idee war, dass ich nicht nur Künstlerinnen und Künstler vorstellen konnte, die mir am Herzen liegen, sondern dass man sich ihre Filme auch auf dem Handy oder iPad anschauen konnte. Für die Künstler war das kleine Format eine ziemliche Herausforderung. Normalerweise fordern sie eine Mindestgröße von mehreren Metern für die Projektion ihrer Arbeiten. Zum Glück waren sie neugierig genug, sich auf das Abenteuer einzulassen. So sind 17 wunderbare Videoarbeiten entstanden, die man sich nicht nur im Museum, sondern eben auch an der Bushaltestelle anschauen konnte; Geschichten von flüchtigen Begegnungen im Hotelzimmer, illegalen Einwanderern oder grausamen Selbstmorden, die berühren und verstören. Vielleicht wurden sie von Menschen gesehen, die sonst keinen Zugang zur Videokunst haben. Ich hoffe es. Die Idee war auf jeden Fall mutig und besonders.

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    Moment 33: 1997

    Besuch beim ältesten Mann des Libanon: Reinhard Hesse ist als Reporter unterwegs. Seine Dolmetscherin erinnert sich gut an die Reise - sie heißt heute Marie-Claude Souaid-Hesse.

    Reinhard Hesse kam 1997 in mein Land, weil er über einen Mann schreiben wollte, der angeblich 135 Jahre alt war und alle Kriege überlebt hatte. Ich erklärte mich bereit, mit ihm in den Norden zu fahren und als Dolmetscherin einzuspringen. Wir sprachen beide Französisch und Arabisch - ich jedoch Libanesisch, er Ägyptisch. Wir wollten im Gebirge übernachten. Weil an diesem Abend aber Borussia Dortmund spielte (ein unaussprechlicher Name für mich!), suchten wir ein Hotel mit Satellitenanlage. Ich beobachtete ihn, wie er das Spiel begeistert kommentierte. Reinhard flog nach Hause, er schrieb das Porträt, dann kam er zurück, um mich zu sehen. Wir heirateten 1999. Wir lebten in Deutschland. Wir waren sehr glücklich. Er hörte auf, Journalist zu sein, und arbeitete für den deutschen Kanzler. Wir glaubten, ewig zu leben. Er starb 2004.

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    Moment 34: 2001

    Vielleicht eines der Lieblings-Cover der Redaktion. Eine harmlose Geschichte - aber eine Titelzeile, die heute noch alle zum Kichern bringt. Hihi (da, schon wieder!).

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    Moment 35: 2012

    Eine Reise ans Ende der Nacht: Der SZ-Redakteur Alexander Gorkow begleitet die Band Rammstein auf ihrer Tournee durch die USA. Eine Expedition, aus der ein ganzes Heft entsteht - und an die sich auch die Mitglieder der Band gut erinnern, hier der Keyboarder Flake Lorenz.

    Wenn eine Band längere Zeit zusammenspielt, entwickelt sie zwangsläufig eine eigene Gesellschaft mit eigenen Verhaltensregeln und einer eigenen Sprache. Das Verhalten untereinander mag für jeden Außenstehenden roh und verächtlich wirken, ist aber in Wahrheit von Rücksicht und tiefem Respekt untereinander geprägt. Da sich der Wortschatz in einer Band, zumindest in unserer, auf wenige, zumal oft zotige Worte beschränkt, erschließt sich das dem Zuhörer nicht.

    Selbst engen Freunden und Lebenspartnern gelingt es so nicht, Zugang ins Bandgefüge zu bekommen. Oft kommt es zu unangenehmen Begegnungen. Wenn zum Beispiel beim Mittagessen in einer Gaststätte ein Freund eines Bandmitgliedes froh an den Tisch tritt, breitet sich eisiges Schweigen aus. Das Bandmitglied mit dem Freund versucht, die Situation zu retten, und will die Band vor dem Freund und den Freund vor der Band verteidigen. Alle sind erleichtert, wenn der Fremdkörper wieder weg ist. Auf Tourneen ist es ganz besonders schwierig, die ethische Gesundheit zu erhalten! Um sich zu schützen, halten deshalb viele eine gesunde -Distanz zu uns. Andere versuchen, sich anzupassen - sie haben dann schlimme Probleme, wieder ins normale Leben zurückzufinden. Einige trennen sich dann plötzlich von ihren Frauen und ziehen nach Berlin, so Sachen. Die meisten von denen, die uns begleiten, sehen wir nie wieder. Andere allerdings schon.

    Wir waren unheimlich gespannt, wie die USA-Tour mit Alexander Gorkow als Begleitung verlaufen würde. Alexander sollte ja nicht zum Spaß mitfahren, das wäre auch kaum möglich gewesen, denn Touristen haben es bei uns besonders schwer. Er sollte, so hatten ihm das die Leute vom SZ-Magazin aufgetragen, sogenannte Eindrücke über uns sammeln und aufschreiben, was so passiert auf einer wochenlangen Tour von Rammstein. Als Alexander in Huntington Beach zu uns stieß, hatte er bereits seit Jahren ein ganz gutes Startkapital in der Tasche: Wir hatten nämlich mal einen sehr persönlichen Text über Rammstein von ihm gelesen, den er aber nie in einer Zeitung oder in einem Buch veröffentlicht hatte. Dieser Text hatte uns umgehauen. Da wir wussten, dass er etwas über uns schreiben will, versuchten wir dann immer mal wieder, mehr als zwei zusammenhängende Sätze von uns zu geben. Zumindest an den ersten Tagen. Irgendwann waren die Worte dann aufgebraucht, aber er war immer noch da, und das war dann eigentlich die schönste Zeit. Alexander gehört offenbar und zum Glück auch nicht zu den Leuten, die mehr reden als unbedingt nötig.

    Wenn wir über einen Menschen sagen, dass er nicht unangenehm aufgefallen ist, ist das schon ein ganz großes Lob. Alexander saß vor den Konzerten sogar in unserer Garderobe herum und dort ja auf besonders dünnem Eis. Dabei stellten wir nach und nach und zu unserer Überraschung fest: Es war schön, dass er da war. Das war wirklich eine nette Erfahrung für uns. Außerdem brachte Alexander einen Funken Lebenskultur in unseren total verlotterten Alltag. Wenn wir aufgegessen hatten, haben wir in der Regel über all die Jahre gerülpst und dann in die Ecke gespuckt. Von Alexander lernten wir, dass man das nicht tun muss. Man kann auch sagen: »Das war lecker, und jetzt bin ich satt.« Danke, Alex!

    Gorkow hat keine Zeit

    Aus der Feder spritzt das Blut
    Mit den Zähnen aufs Papier
    Böse Worte so ist gut
    Unvernunft Begabtes Tier

    Er könnte einen Wald verprügeln
    Wenn er feines Liedgut schreit
    Ach er könnte Kanzler werden
    Hat nur leider keine Zeit

    Das Gesindel will ihn laben
    Alle suchen sein Geleit
    Ach er könnt sie alle haben
    Hat nur leider keine Zeit

    Till Lindemann, Berlin, März 2015

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    Moment 36: 2007

    Auf der Lauer: Der Redakteur Bastian Obermayer begleitet einen Wilderer auf der verbotenen Jagd in den bayerischen Bergen.

    Der Wilderer wollte mir zeigen, wo er seine Gamsen findet - und er hatte versprochen, das Gewehr zu Hause zu lassen. Aber er hatte dabei so komisch gegrinst. Dann lagen wir auf einem Felsvorsprung in der Nähe der Zugspitze, unter uns ein gutes Dutzend Gamsen, neben dem Wilderer sein Rucksack. Er zog ihn zu sich, langte hinein … und zog ein Fernglas heraus. Ich war erleichert, aber später erfuhr ich, dass er auch das Gewehr dabei hatte, klein zusammengelegt - und dass er es nur deswegen nicht herauszog, weil kurzfristig eine andere Fotografin mitgekommen war, der er nicht vertraute. Sonst hätte er geschossen. Und ich wäre möglicherweise sogar als Anstifter dran gewesen. Erklären Sie mal der Polizei, dass Sie als Journalist mit einem Wilderer in die Berge gegangen sind und weder wollten noch wussten, dass er schießt.

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    Moment 37: 2002

    Endlich frei: Kerstin Greiner beschreibt die Resozialisierung der Käfighenne Henny - und stößt auf überwältigende Resonanz.

    Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Reportage so ein Echo auslösen würde: Wahnsinnig viele Leser wollten die Hühner sehen. Ich hatte den Hinweis gegeben, dass man die Hühner, deren Neuanfang in ein besseres Leben ich begleitet hatte, beim jährlichen Mühlenfest des Biohofs besuchen könne. Zum Glück hatte der Bauer Löffl die Hühnerwiese vorher mit einem Zaun abgetrennt: Hunderte Leser gruppierten sich wie beim Fußballspiel um die Wiese, sie kannten die Namen der einzelnen Hennen! Auch danach wollten die Leser wissen, wie es weiterging mit den dreien. Eine traurige Nachricht gab es leider: In ihrer Zeit in der Legebatterie hatten die Hennen nicht lernen können, dass Wasser etwas ist, vor dem man sich in Acht nehmen muss. Eine der Hennen ist bald darauf ertrunken.

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    Moment 38: 2004
    Ein besonderes Interview: Geistig Behinderte treffen Spitzenpolitiker, Redakteur Johannes Waechter begleitet sie.

    SZ-Magazin Frau Skudlarek, Frau Mamblona Fischer, wie hat es Ihnen damals bei Angela Merkel gefallen?
    Mamblona Fischer: Die Frau Merkel war ein bisschen komisch zu uns. Nicht so nett. Die stand sehr unter Zeitdruck. Und nach dem Gespräch wollte sie uns nichtmal die Hand geben.
    Skudlarek: Ich war empört!
    Und wie war’s bei den Herren Schröder und Stoiber?
    Mamblona Fischer: Den Schröder haben wir im Kanzleramt getroffen. Das war was Besonderes. Der hat mit unseinen Rundgang gemacht und alles gezeigt. Sein Büro fand ich richtig gemütlich.
    Skudlarek: Mir hat es beim Stoiber am besten gefallen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich wirklich für uns interessiert. Im Gegensatz zu der Frau Merkel hatten der Stoiber und der Schröder auch die besseren Frisuren.
    Mamblona Fischer: Aber der Stoiber hat immer so schnell geredet!

    Ein Thema der Interviews war die »leichte Sprache« - Politiker sollten sich so ausdrücken, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten sie verstehen. Ist das seit Ihren Gesprächen damals besser geworden?
    Mamblona Fischer: Nein, das ist immer noch ein Problem.
    Skudlarek: Ich verstehe die Politiker ganz schlecht, wenn ich sie in den Nachrichten sehe.
    Mamblona Fischer Wir würden die Frau Merkel gern noch mal treffen. Mit der leichten Sprache, das müsste man ihr noch mal sagen. Vielleicht hat sie ja diesmal mehr Zeit.

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    Moment 39: 2014

    Marie Delhaes und Frederik Obermaier treffen den jungen Kemptener Erhan A.: Er bezeichnet sich offen als Anhänger des Islamischen Staats und will nach Syrien reisen, um dort zu kämpfen. Matthias Ziegler fotografiert Erhan A. für das Cover.

    Es war erschreckend, jemanden zu fotografieren, der einem in einer anderen Situation, in
    einer anderen Umgebung einfach den Kopf abschneiden würde. Aber fast genauso erschreckend war der Umgang der bayerischen Staatsregierung mit dem Problem - die haben ihn
    auf die Geschichte hin einfach abgeschoben. So löst man sicher keine Probleme.

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    Moment 40: 2010

    Ganz Deutschland schimpft, weil Google jedes Haus und jede Straße fotografieren lässt. Aber wie ist es eigentlich, wenn man selbst mit dem Google-Auto unterwegs ist und von allen gehasst wird? Drei Redakteure probieren es aus: Sie bauen eine Kamera-Attrappe aufs Autodach und fahren tagelang durch Berlin und München. Die Resonanz: viele, viele Stinkefinger, wütende Gesichter, endlose Beschimpfungen - und drei Mitarbeiter, die froh sind, dass sie den Job nur versuchsweise machen.


    Fotos: Enno Kapitza, Stefan Moses; Rainer Martini, Markus Burke, André Mühling;Henner Frankenfeld, Konrad R. Müller; Frederic Courbet, Konrad R. Müller, Jens Schwarz;Andreas Mühe / VG-Bildkunst, Bonn 2015; Myrzik + Jarisch, Robert Voit, André Rival; Matthias Ziegler, Gerhard, Linnekogel, Florian Büttner, Daniel Josefsohn, Olaf Unverzart