Ich bin ja schließlich nicht so

Die Bösen bei #MeToo, das waren für unseren Autor, 27, lange nur die anderen. Also fasste sich ein Herz und konfrontierte sich und zwei Bekannte mit gemeinsam erlebtem Alltags-Sexismus.

Bolsinger dachte: Die Bösen, das sind die anderen.

Foto: Tanya Falenczyk

Nervös wähle ich Vivianes* Nummer. Wir haben noch nie telefoniert, deshalb wundert sie sich, mich zu hören. Ich druckse herum, versuche es mit Smalltalk. Dann stelle ich die Frage, wegen der ich anrufe: Wie es für sie war, damals, als ich sie im Club an den Hüften packte, an mich zog und ihr ins Ohr lallte, dass sie mich küssen solle. 

Ich melde mich bei Viviane, weil ich nicht mehr ausweichen will, sondern reden. Seit Monaten wird über #MeToo debattiert, über Männer, die Frauen belästigen, nötigen, vergewaltigen. Seither habe ich mich in dieser Debatte verhalten wie viele andere Männer auch: Ich habe meinen Freundinnen gegenüber zu dem Thema Stellung bezogen, mich - natürlich - mit den Frauen solidarisiert. Und dabei auf die anderen gezeigt, auf den Comedian, der sich vor Frauen gegen ihren Willen einen runterholt, auf den Filmregisseur, der seinen Darstellerinnen nachstellt, sie demütigt und missbraucht. Ich bin ja schließlich nicht so.

Ich habe es mir ganz schön einfach gemacht. 

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Frauenverachter, das sind die anderen, betonen Männer wie ich gern. Ohne dabei unsere eigene Rolle, unsere eigene Position wirklich zu überdenken. Zwingt uns ja auch keiner dazu. 

Ich habe mich deshalb gefragt: Wann bin ich zu weit gegangen? Wann habe ich geschwiegen, obwohl ich hätte laut werden sollen? Wann habe ich die unangenehmen Dinge einfach auf sich beruhen und damit die Frau die emotionale Arbeit machen lassen?

Mir fielen schnell zwei Vorfälle ein: jener mit Viviane und einer mit Manuel, einem früheren Bekannten. Beide habe ich für diesen Text kontaktiert; Manuel, um ihm endlich zu sagen, wie übergriffig er war. Und Viviane, um mich bei ihr zu entschuldigen.

Viviane und Manuel stehen stellvertretend für alltägliche Grenzüberschreitungen, die man oft gar nicht mehr richtig wahrnimmt, weil sie uns so normal erscheinen. Weil wir Männer zwar gerne über die Bösen reden, aber etwas anderes verschweigen: Wir sind mit Leuten wie ihnen aufgewachsen, haben uns mit ihnen umgeben. Wir saßen mit ihnen auf der Schulbank, im Hörsaal, in der Kneipe.

Noch heute hören wir sie über »Schlampen« herziehen und sehen, wie sie Frauen gegen deren Willen bedrängen und anfassen. Und haben nie was gesagt oder getan. Noch heute könnten wir an so vielen Wochenenden Freundschaften riskieren und ausgelassene Abende eskalieren lassen. Aber wir tun es nicht.

Was wir auch nicht zugeben: Viele von uns sind selbst mal zu weit gegangen. Aber wir haben nicht gelernt, über diese Fehler zu reden - sollen doch die Frauen die Party stören! Wir haben Frauen allein gelassen mit dem Kloß im Hals und den schlaflosen Nächten. Viele Männer sind Feiglinge.

Viviane

Viviane ist eine Freundin von Freunden. Manchmal sehe ich sie, wenn ich wieder in meiner Heimat bin. Vor Kurzem, auf dem Geburtstag eines Freundes, lief sie mir wieder über den Weg. Seit Jahren schäme ich mich etwas, wenn das passiert. Am Telefon frage ich sie:

»Wir waren vor Jahren mal gemeinsam feiern. Kannst du dich erinnern?«

»Ich glaube, von dem Abend gibt’s sogar noch ein Foto.«

Wir waren in der Diskothek in unserer Kleinstadt. Nebelanlage und Gangsterrap. Ich war wieder mal besoffen, wir Jungs ertranken unsere Schüchternheit damals einfach in Wodka Energy. Viviane und ich tanzten miteinander. Ich wollte rummachen. Und sie doch auch – ich meine, sie tanzte ja mit mir, das war doch ein Ja, oder? Ich kann mich nicht erinnern, wo ich ich sie überall anfasste. Aber daran, wie sie sich aus meiner Umarmung wand. An den erschrockenen Blick.

»Ich weiß, wir haben nie über den Abend geredet. War vielleicht kein großes Ding für dich. Aber ich hab mich verhalten wie ein Volltrottel, tut mir leid.«

»Um ehrlich zu sein: Das ist schon so lange her. Rückblickend bist du mir gar nicht so negativ aufgefallen.«

»Ja? Mir hat sich das ziemlich eingebrannt. Ich schäme mich bis heute.«

»Für mich als Frau ist das halt normal, dass Männer kein Gefühl für Distanz haben, das erlebe ich ja fast jedes Wochenende. Nicht nur bei fremden Männern, auch bei Bekannten. Die sind betrunken, kommen zu mir, legen mir den Arm über die Schulter und verfolgen mich manchmal den ganzen Abend, auch wenn ich weggehe.«

»Hat sich mal jemand bei dir entschuldigt?«

»Nee, nie.«

Einerseits bin ich erleichtert, dass Viviane das so verdrängt hat. Andererseits fühlt sich die Erleichterung falsch an. Jetzt, wo ich ihre Perspektive hören will, ist alles zu lange her. Damals, mit knapp 18, war sie mir ziemlich egal. Peinlich war mir nur, dass ich einen Korb bekommen hatte.

Jungs lernen früh, Mädchen als Objekte zu sehen. Als Prüfsteine ihrer Männlichkeit. Männlich sein heißt Mädchen rumkriegen. In der Pubertät müssen Jugendliche beweisen, dass sie das können. Bei uns galt damals: Wer mit Mädchen nur gut befreundet war, war sicher schwul. Wer beim Feiern keine abbekam, fühlte sich unattraktiv und stand traurig in der Ecke oder betrank sich so sehr, dass er am Tag danach eine Ausrede hatte, warum es nicht geklappt hatte. Oder schob es halt auf die »Scheißweiber«. In diesem ständigen Kampf um Anerkennung rückte etwas in den Hintergrund: Wie sich die Mädchen bei all dem fühlen.

Frauen, hieß es, wollen erobert werden. Niemand sagte uns, wie wir das respektvoll machen. Nicht unsere Mütter, und unsere Väter auch nicht. Wir waren auf einem Spielfeld, dessen Regeln wir kaum kannten. Wie auch, wenn niemand »Foul« schrie, wenn wir jemandem wehtaten? Wir Jungs lernten, dass man mit Schweigen durchkommt. 

Dabei ahnte ich schon damals, dass es Frauen viel Überwindung kosten muss, über unangenehme Situationen zu reden. Jetzt habe ich es am eigenen Körper gespürt, in der Nacht vor dem Anruf bei Viviane schlief ich kaum: Muss ich das jetzt wirklich hervorkramen? Ist das nicht unangenehm für uns beide? Wie stehe ich vor ihr da?

Ich hatte großen Bammel vor dem Anruf. Aber irgendwie tat es gut, meine Scham auszusprechen, auch wenn wir uns nicht gut kennen. Ich hatte befürchtet, Viviane würde mich auslachen. Aber ich glaube, sie fand den Anruf okay. Vielleicht, weil sie sich auch etwas von der Seele reden konnte.

»Ich glaube, ihr Männer wisst oft gar nicht, wie ihr euch verhalten habt.«

»Ich glaube, wir reden einfach nie darüber.« 

»Wäre aber gut. Auch für euch.«

Manuel

Ein anderer Abend in einer anderen Stadt, aber wieder mit Freunden und Bekannten. Wir tranken und tanzten in einem Club, bis es Morgen wurde, alle da, alles gut, so war der Abend. Dachte ich. Am Tag danach nahm mich meine damalige Freundin zur Seite. Sie erzählte mir, dass Manuel, ein gemeinsamer Bekannter, ihr im Club an den Hintern gefasst hätte. Sie hatte das über sich ergehen lassen, aber es wühlte sie auf.

Sie hatte mir das nicht sofort sagen wollen, weil sie befürchtete, ich würde im Club ausrasten. Aber da dachte sie zu gut von mir. Die Wahrheit ist: Ich hätte wohl genauso geschwiegen wie sie. Der Abend, die Stimmung... Wir hatten doch so viel Spaß. 

Männer verhalten sich oft wie Brüder, wenn sie es längst nicht mehr tun sollten. Geben sich gerne liberal, aber tolerieren Sexismus, vor allem wenn Frauen nicht da sind. In unserer Fußballkabine wurden Mannschaftskollegen gefragt, ob die neue Freundin auch »ordentlich gibt« und ob sie schlucke, im manchen Gesprächen unter Männern höre ich das noch heute. Ich machte mit. Ordnete das als derben Humor ein, »locker room talk« halt. Nie sagte ich, dass ich das schlimm finde. Selbst wenn es um meine eigene Freundin ging.

Männer verpassen es nicht nur, mit Frauen zu reden. Männer verpassen es auch, Männer mit Sexismus zu konfrontieren. In diesem Schweigen entsteht der Eindruck, dass er Männern egal ist - »nicht unser Problem«.

Ich habe Manuel seit diesem Abend nie wieder gesehen. Ich war ganz froh darüber. Schließlich kam ich nie in die Situation, ihm die Meinung sagen zu müssen. Aber jetzt rufe ich ihn an. Druckse wieder herum. Bis ich ihn an jenen Abend erinnere und daran, was mir meine damalige Freundin erzählt hatte.

»Ich find’s unfassbar, in welche Situation du sie damals gebracht hast. Ich war unglaublich wütend auf dich, warum hast du das getan?«

»Äh… Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich das getan hätte. Ich hab’ so was nie getan. Und überhaupt, zwischen mir und ihr war ja kein Flirt, keine Situation, die irgendwie sexy war. Nichts hat mir signalisiert, dass da was gehen könnte.«

»Weißt du, ich habe dir das zugetraut. Du warst zu Frauen immer anzüglich. Deine Komplimente gingen ihnen zu weit, du hast ihnen bei Gesprächen die Hand aufs Bein gelegt. Vielen war das total unangenehm.«

»Was? Wer? Das hat mir nie jemand gesagt. Das ist halt meine Art. Ich hab ja zum Beispiel auch einen speziellen Humor, den nicht jeder versteht.«

Manuel beteuert, dass er für Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sei. Bedauert, dass ich die Situation offenbar so lange mit mir rumgetragen habe. Betont, wie wichtig es sei, ehrlich zueinander zu sein. Er redet viel, aber ich habe nicht das Gefühl, dass er versteht, was ich will: Ein Gespräch nachholen, das ich damals vermieden habe. Ich sage ihm, dass ich darüber schreiben werde. Dann fragt er mich:

»Okay, aber zum besseren Verständnis: Machst du nur einen auf Kreuzritter? Oder kehrst du auch vor deiner eigenen Tür?«   

Einen Mann mit Sexismus und Übergriffigkeit zu konfrontieren – kommt das so selten vor, dass es reicht, um als übermotivierter Glaubenskrieger belächelt zu werden? Ich beschuldige Manuel, er streitet alles ab. Wir reden lange, aber aneinander vorbei. Als ich nach einer halben Stunde auflege, habe ich das Gefühl, dass mir das Gespräch aus der Hand geglitten ist.  

Und jetzt?

Zugegeben, ich habe nicht alles riskiert. Was ich klären wollte, ist Jahre her. Ich bin Manuel und Viviane nicht unter die Augen getreten. Es war halb so unangenehm, wie es damals gewesen wäre, vor Ort und vor Leuten.  

Zugegeben, die Gespräche sind anders gelaufen als erwartet. Von Viviane hatte ich erwartet, dass sie mir ausbuchstabiert, wie widerlich ich damals war, stattdessen sprachen wir ganz entspannt darüber, wie sie sich als Frau in Clubs und Bars fühlt. Von Manuel hatte ich erwartet, dass er meine Wut über sich ergehen lässt oder auflegt, stattdessen ließ er mich höflich abprallen.  

Und zugegeben: Es war nur ein erster, zaghafter Schritt. Aber er war trotzdem nicht umsonst. Ich habe einem Mann gesagt, dass ich sein Verhalten gegenüber Frauen nicht toleriere. Ich traf zwar nicht auf Einsicht, aber immerhin auf ein offenes Ohr und etwas Respekt, dass ich das unangenehme Gespräch gesucht hatte. Ich habe einer Frau signalisiert, dass mir nicht egal ist, wie sie sich fühlt. Und ich habe gelernt, dass ich die Sprengkraft dieser Gespräche überschätzt habe.  

Es ist dabei keine Welt untergangen. Im Gegenteil: Es ist eine andere entstanden. Und ich fühle mich erstaunlich wohl darin.

*Namen in diesem Artikel geändert