Als ich begann, regelmäßig zu Bayern-Spielen ins Stadion zu gehen, Block U1 oder T2, spielte hinten rechts oft Roland Grahammer, davor Stefan Reuter. Bayern spielte mit Libero, bei Toren schaffte der Stadionsprecher die Ansage ohne Hilfe der Zuschauer, in der Halbzeit warb das »Medizinische Fachhaus von Schlieben, München Sonnenstraße Sieben«. Der Trainer hatte den Spitznamen »Osram« und mir war wurscht, wie Bayern gewann. Hauptsache, Bayern gewann.
Bayern gewann oft, aber nicht immer. In Europa hin und wieder. Viererkette, abkippende Außen, Mittelfeldrauten und Überlaufen, gab es alles nicht in der Bundesliga. Ich konnte mich natürlich freuen über ein gelungenes Dribbling von Wiggerl Kögl, einen geschmeidigen Abschluss von Brian Laudrup oder lange Bälle von Klaus Augenthaler, das schon. Im Großen und Ganzen aber sollten die Spieler Gras fressen, den Stürmer bis aufs Klo begleiten, auch mal jemanden weghauen. Wer nicht grätschte, hatte nicht richtig gespielt. Wer sein Trikot sauber in die Kabine trug, war sich wohl zu fein für Fußball. »Kämpfen, Bayern, kämpfen« haben wir gerufen. Keine schlechte Zeit.
Dann begann sich etwas zu ändern. Ich wollte nicht mehr nur einfach Bayern siegen sehen, ich wollte ein bisschen AC Mailand oder Ajax Amsterdam, ein bisschen Ronaldinho oder wenigstens Dugarry. Ich begann, die fußballerischen Fähigkeiten von Jorginho, Mehmet Scholl oder Giovane Elber mehr zu schätzen. Ins Stadion ging ich weiter, es war ein anderes inzwischen, eine Arena, der Stadionsprecher ließ das Publikum die Nachnamen der Spieler rufen und in der Halbzeit gab es Gewinnspiele mit Colaflaschen-Dribbeln oder Weitrutschen auf nassen Plastikbahnen.
Der Block hieß jetzt 128. Dann kam Franck Ribéry. Wenn er den Ball hatte, wurde es schön. Nicht immer. Aber sehr oft. Ribéry über links war jetzt schön. Und über rechts? Über rechts änderte sich alles Ende August 2009. Ich weiß noch, wie ich, wieder der Fan-Junge aus dem Block U1, meinem Bruder schrieb: »Er sitzt im Flugzeug. Bekommt die Nummer 10.«
Mit Arjen Robben sah ich jetzt auch schönes Spiel auf der rechten Seite. Weil die Bayern meist die erste Halbzeit in Richtung Block 128 spielen, sehe ich jetzt seit acht Jahren Arjen Robben eine Halbzeit lang auf mich zulaufen. Wenn er gesund ist. Robben alleine ist aber nicht die ganze Geschichte. Die gibt es nur, weil es auch Philipp Lahm gibt und weil der rechts hinten spielt.
Philipp Lahm gab der Süddeutschen Zeitung im November 2009 ein Interview, in dem er dem Verein vorwarf, keine Spielphilosophie zu haben, zu oft den Trainer zu wechseln und Transfers ohne System zu machen. Als sich die Herren Hoeneß und Rummenigge darüber echauffierten, war Lahm längst wieder auf dem Trainingsplatz und übte Überlaufen mit seinem neuen Partner auf rechts.
Seit fast acht Jahren schenken mir Robben und Lahm gemeinsam Momente, die all das in sich konzentriert haben, was ich von Bayern will. Robben kommt auf mich zu, mit seinen Nähmaschinenschritten. Hinter ihm taucht Philipp Lahm auf, oft in einem kleinen Halbkreis hinter Robben die Linie entlang. Die Abwehrspieler trippeln rückwärts, dann kommt er, der Moment. Mit einer kleinen Bewegung aus dem Fußgelenk, meist links, seltener rechts, schiebt Robben den Ball auf Lahm. Lahm ist an Robben und dem Abwehrspieler vorbei, aber genau noch nicht im Abseits. Der Ball kommt exakt in den Lauf, mit der perfekten Geschwindigkeit.
Robben weiß, wo Lahm ist, Lahm weiß, wann der Ball kommt. Sogar die Abwehrspieler wissen, was passieren wird. Aber weil der Moment so perfekt ist, kann ihn kaum jemand verhindern. Er hat die Eleganz der Bewegungen zweier herausragender Fußballer. Die Dominanz, mit der die beiden etwas Vorhersehbares so ausführen, dass es unvermeidbar wird. Die Harmonie, die zwei Fußballer nur gemeinsam verkörpern können, die in- und auswendig wissen, was der andere tun wird. Die Effizienz eines Plans, an dessen Ende oft ein Tor fällt. Die Zeit steht nicht still in diesem Moment, das tut sie natürlich nie. Aber in seiner Wiederholung schaffen es Robben und Lahm, diesen Moment zu einem Déjà-vu zu machen, das zugleich Wiederholung und Neuschöpfung ist. Den Moment gibt es, solange Robben und Lahm gemeinsam auf dem Platz stehen.
Manchmal finden sich zwei Menschen - Paul McCartney und John Lennon, Dean Martin und Jerry Lewis, Michael Jordan und Scotty Pippen - und es entsteht etwas, das man Magie nennen könnte. Beim DFB-Pokal-Halbfinale hat Philipp Lahm einen Ball unsauber angenommen und das entscheidende Gegentor von Dortmund eingeleitet. Viele sagen, dass es Lahms erster Fehlpass in seinem ganzen Leben war, was nur ein bisschen übertrieben ist.
Robben und Lahm gibt es heute zum letzten Mal in einem Pflichtspiel. Ich werde jeden Moment genießen. Dass Philipp Lahm nie zum Fußballer des Jahres gewählt wurde, ist der wahrscheinlich ultimative Beweis dafür, wie unglaublich sinnlos solche Wahlen sind.
Im Fernsehstudio sagte Mehmet Scholl nach der Niederlage gegen Dortmund zu Lahm: »Lieber Philipp, 75 Prozent deiner Spiele warst du überragend.« Lahms Gesichtsausdruck hellte sich zumindest ein bisschen auf. »Und die anderen 25 Prozent warst du Weltklasse«, beendete Scholl den Satz. Scheint, als ob sich Scholl doch noch ganz gut auskennt im Fußball.
Vielleicht schon nach der nächsten Saison wird auch Robben seine Karriere beenden und was statt Lahm/Robben dann sein wird – keine Ahnung. Vielleicht wird Philipp Lahm doch noch eines eher nahen Tages Bayerns Sportdirektor. Im Idealfall hat er dann auch die Kompetenzen, um den richtigen Trainer zu holen, für eine Spielphilosophie einzutreten und für die rechte Seite seinen und Arjens Nachfolger zu verpflichten.
Robben sagte kürzlich über seinen Partner für den besonderen Moment: »Es macht so viel Spaß, mit Philipp zusammenzuspielen. Ich bin dafür so dankbar.« Ich auch. Euch beiden.
Fotos: Getty Images, dpa