Betr.: Affentheater

Sie sind Choleriker, Paranoiker, Egomanen, Pappnasen - aber ohne Vorgesetzte geht's nun mal nicht. Mutmaßungen über einen anstrengenden Menschenschlag.

Chefs sind auch nur Menschen, wieso also ausgerechnet dieser Autist? Könnte ihm bitte jemand mal mitteilen, dass Freundlichkeit nicht verboten ist? Und wenn wir schon dabei sind: Reden hilft. Zuhören auch. Rumschwallen nicht. Soll er doch einen einzigen Tag selbst an die Front und zeigen, wie er die Sache wuppt!

So könnte es jetzt endlos weitergehen, weil der Mensch, um den es sich hier dreht, eine einzige Katastrophe ist, wahrscheinlich auch noch im Bett Probleme hat und sich in seiner Freizeit Musical-Querschnitte reinzieht. Er ist der Chef, die größte Zumutung, die einem als Nichtchef vorgesetzt wird, 250 Tage im Jahr. Wäre man mit so einem verheiratet, müsste man sich scheiden lassen. Bei ihm geht das leider nicht. Und selbst wenn man die fertig formulierte Kündigung eines Tages doch noch ausdrucken würde, wäre es im nächsten Büro um keinen Deut besser.

Eigentlich ist es ein Wunder, dass die deutsche Wirtschaft immer noch wirtschaftet, wird sie doch von Menschen geleitet, die zwar virtuos an ihrem eigenen Vorankommen schrauben, sich sonst aber nicht entscheiden können, ob sie lieber als Sadisten oder Blender in die Firmengeschichte eingehen wollen.

Meistgelesen diese Woche:

Ein paar düstere Zahlen aus den Manöverkritiken: 88 Prozent der Arbeitnehmer klagten in einer Umfrage des Münchner Geva-Instituts über Probleme mit ihrem Chef, rund 20 Prozent gaben sogar an, ihn zu hassen. 20 Prozent aller Arbeitnehmer, ergab eine Studie des Gallup-Instituts von 2008, haben innerlich schon gekündigt. Eine andere Untersuchung hat ermittelt: Rund 24 Prozent fühlen sich vom Chef ständig unter Druck gesetzt. Die Arbeitnehmer reagieren auf ihre Weise: Sie melden sich krank, wann immer ein Grippevirus in der Stadt vorbeifliegt; an den Tagen dazwischen machen sie Dienst nach Vorschrift in ihren Großraumbüros.

Die Verluste, die der Volkswirtschaft durch schlechte Chefs zugemutet werden, sind gigantisch: Seit 1990 hat sich die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Arbeitnehmern verdreifacht, meldete 2009 der Gesundheitsreport des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen, fünf Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage seien auf das Verhalten von Chefs zurückzuführen. Und nach einer Studie der Unternehmensberatung Proudfoot Consulting kostet Produktivitätsverschwendung, die auf Fehler und Schwächen von Führungskräften zurückgeht, die deutsche Wirtschaft 157 Milliarden Euro im Jahr.

Dabei ist die Wichtigkeit der sogenannten Soft Skills – ein Blenderwort, hinter dem sich einfach gute Manieren verbergen – längst bekannt. Es könnte aber sein, dass die Idealvorstellung vom Chef, der gleichzeitig gütiger Mentor, Kommunikationswunder und innovativer Visionär ist, nur ein schöner Traum ist, so realitätstüchtig wie Liebesromane von Rosamunde Pilcher. Unternehmen sind schließlich nicht an moralisch guten Chefs interessiert, sie wollen effektive Chefs: tatkräftige Leute, die die Kosten senken, die Produktivität steigern und die Rendite erhöhen. Genau dafür benötigen sie jemanden, der seinen Mitarbeitern beibringen kann, dass auch ihr Leben leider Gottes kein Ponyhof ist, sondern ein ewiger Kampf ums Dasein.

Chefs sind keine Kuschel-, sondern Alphatiere, die sagen, wo es langgehen soll. Dass sie das können, kränkt den Narzissmus ihrer Mitarbeiter. Andererseits: Gäbe es den Chef nicht, würden wir uns vermutlich mit business as usual begnügen. Arbeit ist oft nur pure Routine, für die meisten dient sie nicht der Selbstverwirklichung, sondern bloß als Mittel zum Zweck, das Geld für Miete und Freizeit zu verdienen. Wer will sich schon ein Selbst nachsagen lassen, das sich verwirklicht, indem es Aktenberge von links nach rechts schlichtet oder Laserdrucker wartet?

Der Chef allerdings hat so ein Selbst. Er findet es toll, Benchmarks zu reißen. Es befriedigt ihn, Konkurrenten auszustechen, schon den dritten Berichtszeitraum in Folge. Und es hebt seine Stimmung ganz ungemein, wenn er Lob für seine Performance erntet, zur Not auch von sich selbst. Vorgesetzte gehören zu den Menschen in unserer Gesellschaft, die sich ungebrochenen Narzissmus leisten dürfen – den Glauben, dass es auf sie ankommt, dass sie für den entscheidenden Unterschied sorgen und andere vor allem dazu da sind, ihnen zur Hand zu gehen.

Solange der französische Spitzenmanager Jean-Marie Messier erfolgreich war, fand es niemand beängstigend, dass er seine E-Mails mit »J6M« unterschrieb – der Abkürzung für »Jean-Marie Messier Moi-Même, Maître du Monde« (»ich selbst, Meister der Welt«). Der Apple-CEO Steve Jobs wird bei mehr als hundert Apple-Patenten als Miterfinder aufgeführt – bis hin zum Befestigungssystem der gläsernen Treppenaufgänge in den Apple-Stores –, aber das gilt bloß als Schrulle, die der Erfolgsfolklore dient. Und wenn Josef Ackermann seine Bezüge damit begründet, dass er eben ein Ausnahmetalent sei, hat er vielleicht gar nicht so unrecht.

Die Frage ist ja: Kann jemand wirklich normal sein, der sich in Meetings am liebsten selbst reden hört, der über eigene Schwächen süffisant hinwegschweigt, und so weiter und so weiter, Sie kennen das ja alles selbst? Nicht nur übel Gesonnene empfinden die Liebe des Chefs zu sich selbst gelegentlich als leicht pathologisch. Der amerikanische Organisationspsychologe Seymour Adler jedenfalls hat keine Schwierigkeiten mit der Auffassung, dass in guten Vorgesetzten immer eine gute Dosis Wahnsinn rumoren muss. »Auch ein Narzisst hat seine Vorteile«, meint er ganz nüchtern, »Narzissmus gibt einer Person den Glauben, dass sie ein geborener Leader sei. Das motiviert sie, sich bei den anderen gut zu verkaufen.«

Auch ein Neurotiker ist unter Umständen gutes Chef-Material, sagt Adler. »Ich würde ihn nicht unbedingt ein Krankenhaus leiten lassen, wo man Stress nicht gebrauchen kann« – aber in einer Investment-Firma, wo es darauf ankomme, ständig auf der Hut zu sein, könne man von seinem Alarmismus profitieren.
Starke Persönlichkeiten zeichnen sich nun einmal dadurch aus, dass die eine oder andere ihrer Eigenschaften deutlicher ausbeult als beim Durchschnittsmenschen. Das treibt sie an und bringt sie dorthin, wo sie ihre Wirkung entfalten. Und manchmal klingt das dann eben auch so. »Wenn ich das Glück gehabt hätte, Porsche zu leiten«, hat Hartmut Mehdorn gesagt, als er noch Bahnchef war, »wäre ich jetzt in Deutschland unter den Managern die Nummer eins.«

Ohnehin erkennen Leader-Naturen an sich selbst keine Schwächen. Mit seiner Größe von 1,70 Meter sei er sehr zufrieden, sagte Mehdorn einmal: »Astronautenmaß«. Und als Utz Claassen, ehemals EnBW-Chef, in einem Interview, nachdem er es schon nicht mehr war, gefragt wurde, an welche eigenen Fehler er sich erinnern könne, dachte er lange nach, ehe er sagte: Er ärgere sich, wenn er sich aus Unachtsamkeit verfahre.

Nicht nur Eitelkeit kann die Performance von Vorgesetzten antreiben. Paranoiker zum Beispiel, die misstrauisch fast überall Gefahren wittern, sichern nicht nur sich selbst, sondern nebenbei auch ihren Laden ab. Extrovertierte Charaktere knüpfen mühelos Netzwerke zu ihrem eigenen Vorteil, aber auch zum Nutzen des Unternehmens. Natürlich, hinter den exzentrischen Zügen, die den Umgang mit Chefs oft so anstrengend machen, verbergen sich meistens auch Fachkompetenz und Fleiß – ganz ohne geht es ja doch nicht. Aber ohne eine ordentliche Portion Irrsinn, ohne ihre manische Besessenheit, die Tollsten, Besten und Größten zu werden, hätten Männer wie Louis van Gaal oder Larry Ellison ihre jeweiligen Läden nicht nach oben bringen können.

Ein Trainer, der sich nach souverän gewonnenen Begegnungen seiner Mannschaft im Fernsehen darüber auslässt, wie grottenschlecht sie gespielt hat (was er im Unterschied zu all den Pfeifen ringsum natürlich registriert hat), schiebt die Standards für seine Untergebenen sofort höher. Ein Firmenchef, der sich als Privatflugzeug einen Kampfjet anschafft und sein global operierendes Unternehmen so vernetzen lässt, dass er sich in jedes Büro seiner Unter-Chefs einloggen kann, gibt zu erkennen: Das hier ist in jedem einzelnen Augenblick Kampf.

Falls Charisma nicht ausreicht, steht dem Vorgesetzten immer noch die Dämonie seiner Macht zur Verfügung. Er muss nicht einmal böse werden, es genügen ein paar hingeschluderte Halbsätze über den Ernst der Lage und anstehende Flexibilisierungsmaßnahmen. Oder dass er zu einem in den Aufzug steigt. Wenn Steve Jobs es tut, pflegt er den Unglücklichen, der seine Reise begleitet, angeblich auszufragen: »Wer sind Sie? Was arbeiten Sie? Wozu brauchen wir das?« Schon strengt man sich wieder ein wenig mehr an. Schließlich nimmt man es in Zeiten wie diesen lieber mit einem harten Hund auf, als eines Tages auf dem Amt jemandem gegenüberzusitzen, der fragt, ob man schon mal daran gedacht hätte, es mit Grabpflege oder Parkputzen zu versuchen.

Auch um Angst und Schrecken zu verbreiten, muss ein Chef vom eigenen Selbst tiefer überzeugt sein, als es den meisten gelingt. Der Mensch neigt eigentlich nicht dazu, sich Konflikte anzutun, wer aber von sich und seiner Sendung überzeugt ist, dem fällt es nicht schwer, brutal zu sein. Vom schon erwähnten Utz Claassen stammt die Versicherung: »Es macht mir überhaupt nichts aus, einen Manager zu entlassen, der nichts leistet. Bei Sartorius habe ich 40 Führungskräfte entlassen. Es hat mir nichts ausgemacht.« Es gibt eben nichts, was ein Leader nicht auf den Prüfstand zu stellen bereit ist. Bloß das eigene kräftige Ego nicht. »Für einen Rücktritt stehe ich nicht zur Verfügung«, hat Mehdorn gesagt, als sich über seinem Kopf längst Unwetterfronten ballten. So klingt Selbstbewusstsein: Man hat immer selbst die Wahl. Wenn solche Leader doch einmal ihren Job verlieren, nützen sie die Pause bis zum nächsten, indem sie Bücher verfassen, in denen dann steht, wie Gier und Unfähigkeit die Wirtschaft ruinieren.

Der Job des Chefs besteht zu einem wesentlichen Teil darin, in die meistens ganz unpersönliche Arbeit etwas höchst Persönliches zu bringen. Er ist, woran wir uns reiben, was uns pikst, wofür wir unsere Trägheit überwinden, aus Angst, aus dem Drang, ihm zu gefallen, in der Berechnung, von ihm gefördert zu werden, im Kalkül, es bequemer zu haben, wenn man gut mit ihm auskommt. Er ist das Schwungrad, das uns Zahnräder in Gang setzt.

Wir sollten ihm dafür dankbar sein. Schon weil die Anwesenheit dieses Beknackten in unserem Leben uns verlässlich erspart, dass wir uns mit unseren eigenen Seelenknacksen auseinandersetzen müssen: mit unserer ewigen Verzagtheit; unserem Opportunismus; unserem Hunger nach Komplimenten und Fleißkärtchen; unserer Virtuosität darin, uns in der eigenen Langeweile einzurichten; unserem ewigen Duckmäusertum. Nur so zum Beispiel. Solange über uns ein Chef steht, über den wir uns aufregen können, müssen wir uns selbst nie verachten. Wir würden es ihm nie sagen – aber dafür hat er sich einen Bonus verdient.

Foto: Christopher Thomas