Aurélie Boullet hatte sich hinter dem Pseudonym Zoé Shepard versteckt, ihren Bestseller zierte kein Autorenfoto, sie ist nur eine von 5,3 Millionen französischen Staatsangestellten und in keiner Weise außergewöhnlich. Dennoch flog sie auf.
Ihre empörten Kollegen hatten sich erkannt in Absolument debordée, ihrem Buch, das unter dem Titel Wer sich zuerst bewegt, hat verloren im Herbst bei Pendo erscheint, Boullets Satire, die in Frankreich einen Skandal auslöste. »Diese wertlosen Parasiten – das sind wir«, soll ihr Chef ausgerufen haben, nachdem er, wie viele Beamte in Frankreich, das Buch verschlungen hatte.
Denn die junge Blonde mit den kugelrunden Augen und dem langen Pferdeschwanz hatte sich ihren Frust und ihre Verbitterung darüber von der Seele geschrieben, dass sie als Verwaltungsangestellte in der Region Aquitaine einen Job mache, der langweilig, sinnlos und überflüssig sei. »In dieser Abteilung besteht das Geheimnis von Ruhm und Erfolg darin, den Einruck größtmöglichen Arbeitseifers zu erwecken«, schreibt sie, »also leere ich umgehend meine Tasche aus und breite ihren Inhalt sorgfältig auf meinem Schreibtisch aus. Sobald jeder Quadratzentimeter bedeckt ist, bin ich offiziell bereit, mit meiner heutigen Scheinarbeit zu beginnen.«
Sie fühle sich überqualifiziert und unausgelastet, von Idioten umgeben, sie verprasse Steuergelder, schlage die Zeit tot. Boullet mochte nicht mehr aufstehen, sie wurde zunehmend zynisch und verzagt zugleich. »Das Leistungsniveau, das während des Studiums erwartet wird, verhält sich genau umgekehrt zu dem Leistungsniveau, das man später im Dienst erwartet. Beziehungsweise: nicht erwartet«, klagt sie. Und berichtet, dass sie auf eine geschätzte Wochenarbeitszeit von acht Stunden komme.
Das klingt gut? Geld verdienen, ohne zu malochen? Urlaube planen, Kaffee trinken, Beschäftigung vorschützen? Grauenvoll klingt das, nach vielen toten Stunden und wachsender Verzweiflung – und führt wie bei Aurélie Boullet eines Tages zu gesundheitlichen Problemen. Denn wenn Psychologen und Mediziner recht haben, dann leidet Boullet alias Shepard unter einem Bore-out – so benannt nach boredom wie Langeweile, und nach Burn-out wie Ausgebranntsein. Langeweile und Unterforderung können, gepaart mit fehlender Anerkennung und mangelnder Abwechslung, die gleichen Symptome hervorrufen wie das legendäre Burn-out.
Die Deutsche Angestellten-Krankenkasse DAK hat in ihrem aktuellen Gesundheitsbericht 2011, bei dem junge Arbeitnehmer im Mittelpunkt stehen, bei diesen zunehmend psychische Erkrankungen festgestellt. Zehn Prozent der Befragten litten außerdem unter somatischen Störungen. Eine Erklärung: Unterforderung. Denn auch mangelnde Belastung, sagt die DAK, könne Stress bereiten, und Stress führt zu Herzschmerzen, Schlaflosigkeit, Depressionen. Der Grund: Sechzig Prozent der jungen Leute gaben in der Studie an, sie könnten weit mehr leisten, als man sie lasse. Gut ausgebildet, hochmotiviert, aber dann ausgebremst in der Generation Praktikum, gestrandet im Wettrennen um den Traumberuf – das nennen mittlerweile auch Ärzte »Bore-out« und machen damit ein Phänomen, das sich auf dem Arbeitsmarkt in vielfältiger Form breitmacht, zur medizinischen Diagnose.
Als die zwei Schweizer Autoren Philippe Rothlin und Peter Werder 2007 zum ersten Mal mit einem Buch zum Thema kamen (Diagnose Boreout), wurde ihre Analyse noch belächelt: In einer Gesellschaft, in der alle Welt über Stress, Überforderung und Selbstausbeutung klagt, soll es Hunderttausende geben, die arbeiten und doch an Langeweile leiden? Das gab es früher auch, schon klar. Aber früher inszenierte sich der globalisierte Management-Jetset im Zustand der Dauer-Erschöpfung auch noch nicht als Ideal der modernen Arbeitswelt. Nun sagen Arbeitssoziologen, das Leiden sei die logische, andere Seite der Leistungsgesellschaft – und, wenn Arbeit bewusst entzogen wird, eine effektive Mobbingmethode obendrein. Der Business Coach Christian Mühldorfer erklärt das so: »Ein Job, der nichts wert zu sein scheint, bedroht das Selbstwertgefühl. Wer nach einer tollen Ausbildung durchstarten will und erst mal im Callcenter oder im Taxi landet, dem fehlen Stolz auf sich selbst und Anerkennung von außen.«
Die Folge: Nicht nur das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten schrumpft, sondern auch die Fähigkeiten selbst schrumpfen. Am Ende bleibt nur noch die Anstrengung, Arbeit vorzutäuschen. Als Aurélie Boullet das zum ersten Mal klar wurde, hat sie »vor lauter Verblüffung fast einen Lachkrampf bekommen. Aber nur die ersten fünf Minuten«.
Der Sozialismus sah Langeweile als System vor
Nach den fünf Minuten kommt die Frage: Wie lange kann man bei Facebook herumsurfen oder Romane lesen, bevor die innere Kündigung ansteht und sich Panik breitmacht, weil man so etwas nicht lange aushält? Der Arbeitssoziologe Günter Voss von der TU Chemnitz forscht mit Kollegen über das Schwester-Symptom Burn-out und weigert sich, Bore-out nur als individuelle Unterforderung zu sehen. Burn-out und Bore-out, sagt er, weisen eine Schnittmenge auf. Sie greifen zunehmend in Verwaltungen und im Dienstleistungssektor um sich, wo gebildete Menschen stupide Arbeitsabläufe ausführen, unproduktive Meetings absitzen, sinnlose Anweisungen ausführen. Für Voss geht es hier um das System Arbeit: »Es gibt eine neuartige Kombination von hoher Überlastung, ökonomischem Druck und knappen Ressourcen auf der einen Seite bei fachlicher Unterforderung und steigender Unproduktivität auf der anderen.«
Im Sozialismus gab es das Mantra der Vollbeschäftigung, das Langeweile als System vorsah: sinnlose Jobs für ein anständiges Gehalt, damit das Volk den Mund hielt. Da saßen auch schon mal ältere Frauen stundenlang in leeren Restaurants und zerschnitten Papierservietten für die magere Kundschaft, und an jedem Tresen im Laden standen mehrere Verkäuferinnen: eine für die Herausgabe der Ware, eine für das Verpacken, eine für das Kassieren. Nur Ware gab es keine. Heute ist der Sozialismus tot, die Arbeitslosigkeit überstieg zeitweilig die Sechs-Millionen-Grenze, und wer einen Job hat, der kann froh sein – auch wenn das zunehmend Entfremdung bedeutet. Voss findet das fatal: »Die Menschen setzen sich selbst unter Druck, sie wollten etwas leisten, sie beuten sich aus, bekommen aber keine Anerkennung. Das psychische Elend in den Betrieben ist erschreckend.«
Das bekommt Monika Hirsch-Sprätz regelmäßig zu hören. Sie arbeitet bei der Mobbingberatung Berlin-Brandenburg, und für sie ist Bore-out kein Modewort und kein neues Phänomen. Für sie hat es Methode. Wenn Betriebe umstrukturieren und nicht kündigen wollen, wenn sie ältere Arbeitnehmer loswerden, aber die Abfindung nicht zahlen wollen, wenn ein Mitarbeiter den Chef nervt und abgestraft werden soll, dann wird ausgegrenzt, auch physisch. Einer ihrer Klienten hatte seinem Vorgesetzen regelmäßig widersprochen, »das war sein berufliches Todesurteil«. Daraufhin bekam er ein separates Zimmer, ein totes Telefon, wurde zu Meetings nicht mehr eingeladen, nur sein PC funktionierte noch. So konnte er sich zumindest acht Stunden lang beschäftigen, irgendwie. »Am Anfang dachte er, er macht sich ein bequemes Leben. Aber schon nach drei Wochen war er fertig mit den Nerven«, so die Mobbingbeauftragte. Zum Schluss siegte der Chef, der Mitarbeiter kündigte.
Rechtlich seien solche Situationen schwierig anzugehen, sagt Hirsch-Sprätz, es sei schwer, die böse Absicht so manches Vorgesetzten nachzuweisen, wenn nichts Schriftliches vorliege; meist werde der Arbeitsentzug »unter der Schallgrenze« gehalten, sodass der Weg über Anwälte und Gerichte »keine rechtliche Wiedergutmachung für den Betroffenen« bringe. Ihr Klient ist nicht allein: Nach einer Studie des Instituts für Markt- und Sozialforschung von 2008 fühlt sich jeder fünfte Arbeitnehmer, der älter als fünfzig ist, am Arbeitsplatz Schikanen ausgesetzt, viele fühlen sich zur Kündigung durch Arbeitsentzug gedrängt, und Monika Hirsch-Sprätz weiß aus Erfahrung, was das bedeutet: »Die Älteren warten auf die Rente und sitzen das verzweifelt aus. Die Jüngeren haben Existenzängste, zweifeln an sich selbst, strengen sich noch mehr an.« Umsonst.
Die Verwaltungsfachfrau Aurélie Boullet wurde übrigens suspendiert, nachdem sie aufgeflogen war; nach einigen Gerichtsprozessen darf sie mittlerweile zwar wieder arbeiten – aber in einem Job, der noch anspruchsloser ist als zuvor.
Illustration: David Shrigley; Foto: kallejipp/photocase