Heute ist Karl Mays 100. Todestag. Eine Zeitung erkundigte sich bei mir nach meinen mit May verbundenen Kindheitserinnerungen. Mir fiel ein, dass ich irgendwo draußen in der Welt noch einen Blutsbruder habe, Ulli heißt er. Wir waren vielleicht zwölf damals, als wir Abend für Abend Karl May lasen, Winnetou eins, zwei, drei, Unter Geiern, Der Schatz im Silbersee, Old Surehand, Old Firehand und so weiter, das ganze Programm.
Eines Nachmittags beschlossen wir, die Literatur nicht mehr nur Literatur sein zu lassen. Sie sollte unser Leben berühren. Wie Karl May von sich selbst behauptete, Old Shatterhand zu sein, wie er das möglicherweise selbst so fest glaubte, dass er sich vielleicht tatsächlich und wenigstens für Momente für Old Shatterhand hielt, so steigerten wir uns dermaßen in einen Winnetou-und-sein-weißer-Bruder-Wahn hinein, dass wir eine Nadel holten und uns auf der Terrasse meines Elternhauses entschlossen in die Daumen stachen, bis winzige Blutstropfen hervorquollen. Die verrieben wir miteinander und besiegelten dergestalt unser Blutsbrüdertum, mit dem wir den sowohl rauschhaften als auch beruhigenden Gedanken verbanden, dass, wenn einer von uns in irgendeiner Weise von irgendetwas bedroht würde, der andere herbeieilen und ihm unverbrüchlich zur Seite zu stehen hätte. Dies schworen wir uns.
Kürzlich las ich von einer Studie des TÜV Rheinland. Dessen Experten hatten fünfzig Spielplätze in zehn Großstädten untersucht. Sie analysierten sowohl deren Sicherheit als auch ihren »kreativen Spielwert« unter Gesichtspunkten, die sie »Erlebnischarakter/Selbstwahrnehmung« nannten oder »Natürliche Spiel- und Erlebniselemente«. Das Ergebnis war für die meisten Anlagen nicht gut, überall verfaultes Holz, rostiges Metall, scharfkantige Mauern, keine ausreichende Sicherheit bei Stürzen.
Ich überlegte, was das Ergebnis gewesen wäre, wenn der TÜV Rheinland die Spielplätze meiner Kindheit unter seine TÜV-Lupe genommen hätte. Das Problem wäre zunächst gewesen, dass wir keinen Spielplatz hatten – oder anders gesagt: Für uns war alles Spielplatz, die Straße, Nachbars Garten, der Wald … Was hätte der TÜV dazu gesagt, dass wir auf der nahen Müllhalde alte Kartons aus dem Abfall zogen, mit denen wir ein Dorf bauten, in dem wir uns einrichteten? Wie wäre seine Meinung dazu gewesen, dass wir auf der Straße Fußball spielten? (Die einzige Sicherheitsmaßnahme war, dass einer von uns laut »Auto!« rief, wenn sich ein solches näherte.) Was hätte er dazu gesagt, dass wir im Winter auf einem Hügel mit metallenen, unter die Stiefel geschnallten Gleitschuhen eine »Todesbahn« hinabschlitterten? Welchen fehlenden Fallschutz hätte er an den Bäumen moniert, auf die wir kletterten? War nicht der Zaun des Hühnerkäfigs unseres Nachbarn, in den wir in der Herbstdämmerung auf der Suche nach einem Abenteuer eindrangen, sehr rostig und scharfkantig? Und der Schnabel des dort anwesenden, mit dem Schutz der Hühner betrauten Hahns total spitz?
Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte der TÜV gemerkt, dass wir mit Nadeln und Blut hantierten! Kein Zweifel: Unsere ganze Kindheit war voll von natürlichen Spiel- und Erlebniselementen. Erlebnischarakter, Selbstwahrnehmung – alles da. Dennoch hätte der TÜV uns sofort auf die Zimmer schicken müssen, und er hätte recht gehabt, es war doch alles ein Wahnsinn! Wir hatten nicht mal Helme, wenn wir Fahrrad fuhren, und wo waren die Gelenkschützer, schnallten wir die Rollschuhe an? Ich würd’s meinen eigenen Kindern nicht mehr erlauben, ganz klar, man hat ja seinen inneren TÜV Rheinland. Manchmal denke ich aber, wir sollten unserem inneren Karl May ab und zu mal wieder den Vortritt lassen. Ich jedenfalls verlebte meine jungen Jahre, um es mit dem Sachsen zu sagen, Im Tal des Todes. Tatsächlich wurde ich von einem Motorroller überfahren, die Narbe, die blieb, sieht man an meiner Stirn. Ein anderes Mal ertrank ich fast in einem Teich, mein Vater zog mich aus dem Wasser.
Es war eine gefahrvolle Zeit, damn!, aber hier bin ich, und ich bereue nichts.
Illustration: Dirk Schmidt