Nun, da wir Ende November haben, da dieses Jahr sich dem Ende zuneigt und wir uns in der kalten, dunklen Zeit befinden, nun also erinnere ich mich, dass ich (als ich so alt war wie Luis jetzt, also beinahe neun) ein Abkommen mit meiner Mutter hatte. Der Vertrag sah vor, dass ich meine Lieblingshose (und das war eine kurze Lederhose) nur anziehen durfte, wenn es draußen (das hieß: auf dem Thermometer vor der Haustür) wärmer als 15 Grad war.Das war eine eindeutige Regelung. Dennoch gab es Tag für Tag Diskussionen, zum Beispiel, weil ich im Wetterbericht gehört hatte, dass es »im Laufe des Tages« wärmer würde – was mir Gelegenheit gab, darauf hinzuweisen, dass wir keine Uhrzeit für das Ablesen der 15 Grad festgelegt hatten: Es sei durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass wir »im Laufe des Tages« 15 Grad erreichten, ich aber den Tag in langer Hose zu überstehen hätte, obwohl unser Abkommen… Und so weiter.Oder es kam, gerade als wir 13 Grad ablasen, mein dicker Freund Ulrich am Haus vorbei – in kurzer Hose, worauf ich mich natürlich veranlasst sah zu erklären, dass es keinen Grund geben könne, weshalb ich eine lange Hose trüge, wenn Ulrich (der dicke, zum Weichlichen neigende Ulrich!) eine kurze anhaben dürfe.So war das. Und mit dem Luis ist es nicht anders, nur dass die Kämpfe härter und die Leidenschaften größer sind – und dass ich heute eine andere Rolle spiele, jene nämlich, die damals meine Mutter hatte.Neulich wollte Luis zum Fußball gehen. Rudi, sein Freund, stand vor der Tür, um ihn abzuholen. Paola und ich sagten zu Luis, er müsse aber seine lange Trainingshose anziehen. Das wollte er nicht, natürlich. Der Rudi habe auch eine kurze Fußballhose, in seiner Sporttasche.Das könne sein, sagten wir, aber er, der Luis, müsse bei diesen Temperaturen eine lange Hose tragen.»Und wieso der Rudi nicht?!«, rief er.»Das ist eine Sache zwischen Rudi und seiner Mama«, sagte Paola.Luis schrie, er hätte lieber Rudis Mama als seine, seine eigene Mama sei die gemeinste der Welt.Rudi sagte, das solle er sich mal nicht wünschen, so toll sei seine Mama nicht, »manchmal scheuert sie mir dreimal am Tag eine, da hätte ich lieber eine nette Mama wie du«.»Da kannst du’s hören, Luis!«, sagte Paola.»Aber eine kurze Hose darf der Rudi trotzdem anhaben und ich nicht!«, schrie Luis. »Schluss jetzt!«, rief ich. »Entweder ziehst du jetzt die lange Trainingshose an oder der Rudi geht allein zum Fußball. Es geht nicht, dass du dich erkältest, und du wirst dich erkälten in einer kurzen Hose.«Luis zog seine Trainingshose an und stampfte aus der Wohnung. Kaum hatte ich die Tür hinter ihm geschlossen, klingelte es schon wieder. Ich öffnete.»Aber draußen ist es so warm und...!«, zeterte Luis. »Wiedersehen!«, sagte ich und schloss die Tür.Solche Debatten führen wir jeden Tag. Mal geht es um eine Hose, mal um ein T-Shirt, immer um die Frage, ob Luis zu warm oder zu kalt angezogen ist. In Wahrheit geht es um Autorität, Widerstand, Willenskraft, Selbstständigkeit, denke ich manchmal. Dann wieder denke ich, es geht doch nur um kurze Hosen und T-Shirts. Als Luis endlich zum Fußball ging, dachte ich nur, ähnlich wie einst Giovanni Trapattoni: »Ich bin müde jetzt Vater diese Spieler. Ein Vater ist nicht ein Idiot!«Oder doch? Abends brachte ich Luis ins Bett. Er sagte: »Ich erzähle dir ein Geheimnis, aber du darfst es nicht Mama sagen.«»Okay.«»Ich habe heute doch in kurzer Hose Fußball gespielt.«»Wie hast du das gemacht?«»Der Rudi hatte zwei kurze Hosen dabei, eine hat er mir geliehen. Dann haben wir hinterher meine Trainingshose schmutzig gemacht, damit ihr es nicht merkt.«Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn, voller Respekt vor so viel Willenskraft und solchem Ideenreichtum. Das Leben ist wie der Fußball, dachte ich noch. Man muss wissen, wann man verloren hat, und den Sieger muss man respektieren.