Das Beste aus meinem Leben

Manchmal ist die kleine Sophie wütend wegen irgendwas, das sie nicht darf, setzt sich in ihr Zimmer und schreit ihre Wut gegen die Wand. Alle paar Minuten schauen wir durch die Tür und fragen freundlich, ob sie weiter schreien wolle. Dann schreit sie »Jaaa!«, und wir machen die Tür wieder zu und fragen später noch mal.

Irgendwann sage ich begütigend: »Sophie, jetzt hör doch auf zu schreien…« Sie antwortet, schreiend und nun auch ein bisschen weinend: »Ich will ja aufhören. Aber mein Mund hört einfach nicht auf.«Dann nehme ich sie in den Arm und lache, und plötzlich hört der Mund doch auf.
Aber seltsam ist es doch, so ein Mund, auf den man keinen Einfluss hat…
Das ist ja nicht alles. Manchmal machen auch Sophies Augen, was sie wollen. Sie liegt abends im Bett und soll schlafen, aber dann ruft sie uns und sagt: »Ich will ja schlafen, aber meine Augen gehen einfach nicht zu.«

Ich setze mich neben das Bett und sage: »Gut, dann erzähle ich dir was, bis die Augen zufallen. Ich erzähle dir, wie es war, als ich klein war, so klein wie du.« Und ich erzähle, von meinen Eltern, unserem Haus, den Geschwistern, den Ferien, den Spielen damals, solche Sachen.
Sophie sagt plötzlich: »So, und jetzt erzähle ich dir, wie es war, als ich groß war.« Sie erzählt die fantastischsten Dinge; einmal ging sie so weit, dass mitten in der Geschichte plötzlich Paola und ich vorkamen und bedauerlicherweise starben.
»Und was hast du gemacht, ohne Eltern?«, fragte ich.
»Da habe ich mich aufs Sofa gesetzt und ferngesehen.«
Dann fielen die Augen doch zu.

Meistgelesen diese Woche:

Die Sache mit den Augen und dem Mund erinnert mich an Lewis Carrolls Alice im Wunderland, wo es ja die Grinsekatze gibt, die in einem Baum sitzt und grinst. Manchmal sieht man sie ganz. Manchmal sieht man nur ihren Kopf und ihr Grinsen. Manchmal sieht man nicht mal den Kopf, nur das Grinsen. Als Alice den König und seine cholerische Königin besucht, erscheinen Kopf und Grinsen. Die Königin, die immer sofort jeden, der ihr nicht passt, köpfen lässt, befiehlt, den Scharfrichter zu holen. Aber der Scharfrichter sagt, er sei machtlos; einen Kopf ohne was dran könne man nicht abhacken – wovon denn? Der König sagt ihm, er solle keinen Unsinn reden, alles, was einen Kopf habe, könne man auch enthaupten. Gelöst wird die Frage nicht, denn während des Streits verschwindet der Kopf. Und das Grinsen auch.

»Eine Katze, die grinst, mag es ja geben«, sagt Alice, »aber ein Grinsen ohne Katze – das ist doch das Allerverrückteste auf der ganzen Welt!«

Man sieht: Hier befinden wir uns mitten in den großen Fragen der Dualität von Körper und Geist. Zum Leib-Seele-Problem hat sich ja vor Jahren auch der große Lothar Matthäus geäußert, nachdem er einen Achillessehnenriss erlitten hatte und gefragt wurde, ob dies das Ende seiner Karriere sei. »Ein Lothar Matthäus«, hat er gesagt, »lässt sich nicht von seinem Körper besiegen. Ein Lothar Matthäus entscheidet selbst über sein Schicksal.«

Daran müssen Paola und ich oft denken, wenn wir müde sind, weil die Sophie uns mitten in der Nacht geweckt hat und in der Nacht darauf noch mal. Wenn wir abends um neun schon so müde sind, dass uns auf dem Sofa die Augen zufallen, denken wir: »Wir wollen ja noch gar nicht schlafen, aber unsere Augen gehen nicht mehr auf…«

In der nächsten Nacht würden wir dann am liebsten nur unsere Ohren zur Sophie schicken oder unsere Hände oder unsere Münder, aber irgendwie geht das nicht, wir müssen immer ganz und gar selbst kommen, und während ich mich müde im Dunkeln über den Flur schleppe, denke ich: Auch ein Axel Hacke lässt sich nicht von seinem Körper besiegen. Axel Hacke befiehlt den Augen, offen zu sein, und dem Mund befiehlt er, eine Geschichte zu erzählen, und über sein Schicksal… bah, mein Schicksal, was interessiert mich das Schicksal. Ich will schlafen!
»Sophiechen, die Äuglein! Kannst du sie nicht doch noch mal fragen, ob sie jetzt ein bissibissi zugehen könnten?«
Nein, kann sie nicht, kann sie leider nicht – ach…

Illustration: Dirk Schmidt