In seiner Urform ist der Mensch Fußgänger. Gott hat den Menschen nicht als Reiter konzipiert, auch nicht als Autofahrer und schon gar nicht als Mountainbiker. Das alles sind Fehlentwicklungen, Irrwege und, wie sich täglich zeigt, Überforderungen. Nur mit Hilfe seiner Beine und der daran befestigten Füße brach der Mensch auf in die Welt, gemessenen Schrittes, schon das schnelle Laufen ruiniert ja auf Dauer die Kniegelenke, das lag nicht in Gottes Absicht. Hätte er gewollt, dass der Mensch fährt, hätte er ihm ans Ende seiner Extremitäten Rollen montiert. Hätte er gewünscht, dass er fliegt, säßen auf seinem Rücken Flügel.
Der Fußgänger ist Gottes Geschöpf, er allein. Doch was widerfährt ihm in dieser Welt? Er wird bedroht vom Auto, auch vom Autobus, vom Lastwagen. Überall durchdröhnen diese Gefährte unsere Welt, sie scheuchen den Fußgänger zur Seite, sie jagen ihn, vergiften seine Atemluft mit feinsten Stäuben, belagern sein Gehör, zerhupen sein Gemüt.
Dies alles geschieht schon lange. Bereits 1934 beschrieb der unvergleichliche Sebastian Haffner in der Vossischen Zeitung die Alltagskämpfe jenes Menschen, »der es auf sich nimmt, ungepanzert und waffenlos, auf eigenen Füßen, in schlichter Zivilkleidung, ausgerüstet mit nichts als der auslugenden Verschmitztheit des Menschengeistes, den Dschungel des Großstadtverkehrs zu durchqueren«. (Man kann das nachlesen in seinen unter dem Titel Das Leben der Fußgänger gesammelten Feuilletons.)
Jene Verschmitztheit und jener Menschengeist haben dem Fußgänger geholfen, das Schlimmste zu überleben. Er schuf sich seine Reservate: Fußgängerzonen. Als Spaziergänger zog er sich an Flussufer und in Parks zurück. Als Wanderer floh er in die Berge.
Aber nie ruhten seine Feinde. An erster Stelle ist der Radfahrer zu nennen, der – selbst ein von vierrädrigen Feinden Gehetzter, ja, mit dem Tod Bedrohter – bisweilen zum Gesetzlosen wird, zum Outlaw. Noch in entlegenen Bergregionen muss der Fußgänger damit rechnen, wie aus dem Nichts von heulenden, mit Helmen und Körperpanzerungen gerüsteten, durch Forst und Schlamm wütenden Berserkern zu Tal gerissen zu werden. In den Städten kann es geschehen, dass ihm in seinem eigenen Revier, auf dem Bürgersteig (sofern der nicht von Autos verparkt ist), langgestreckte Transporträder entgegenschlingern, deren Fahrer leutselig »Entschuldigung!« rufen, während die vor ihnen in einer Art Badewanne sitzenden Kinder neugierig den an die Hauswand Gepressten mustern. Auch umkurven ihn dort Fahrradboten, die Mahlzeiten ausfahren. Kleinkinder (»Karl-Paul, du musst aber aufpassen!«) zielen mit Strampelrädern und Bobbycars auf seine Achillessehnen. Farbenfroh gemusterte Skater und Hoverboarder driften um die Ecke. Ja, selbst auf elektrifizierten Einzelrädern Stehende nehmen den in Furcht Erstarrten als Slalomstange. Kampfradler (»Halt’s Maul, Arschloch!«) zielen auf alle, die in Frieden Zebrastreifen zu nutzen versuchen.
Damit nicht genug: Nun wird der gute alte Tretroller, bei dem der Mensch wenigstens noch einen Fuß zum Einsatz bringen musste, elektrifiziert – man nennt das Personal Light Electric Vehicle oder E-Scooter – und zum Straßenverkehr zugelassen. Manchmal sollen seine Besitzer ihn auch auf Gehwegen fahren dürfen – wenn sie es nicht dürfen, werden sie es dennoch tun. Das lehrt die Erfahrung.
Es heißt aber GEHwege! Nicht Fluchtwege.
Der Fußgänger ist schwach. Er kämpft gegen eine Übermacht. Die anderen haben Räder, er kommt unter dieselben. Die anderen haben den ADAC und die Fahrradclubs, auch ist die Wirtschaft auf ihrer Seite, die immerzu etwas verkaufen will, das Räder hat. Bestimmt gibt es auch einen Klub, der Fußgänger-Interessen vertritt. Aber hat man je von ihm gehört? Letztlich sind wir alle Fußgänger. Aber jeder ist es für sich.
Was soll der Fußgänger schon tun? Er geht einfach weiter.