Zu Beginn der Bundesliga-Rückrunde werfen wir zögernd einen Blick auf die Tabelle, aufs Ende, ganz unten, ja, da steht sie noch, die Borussia aus Dortmund, ein Schatten ihrer selbst, ein Tabellenkellergespenst, Platz 17 mit 15 Punkten, ein Drittel des Guthabens, das der FC Bayern in der Hinrunde erwirtschaftete, und eine Tordifferenz von minus acht, nicht besser als der Sport-Club Freiburg auf Rang 18.
Man könnte erstens sagen: Fußball interessiert mich nicht. Man könnte zweitens sagen: Es ist nur ein Spiel. Man könnte drittens sagen: Was geht mich Dortmund an, ich erfreue mich am FC Bayern! Aber ich sage: So einfach ist das nicht. Denn irgendwas berührt uns am Schicksal der Borussen, oder?
Man hat die Winterpause in Dortmund genutzt, um eine Lizenz für die Zweite Liga zu beantragen, ach, es läuft einem kalt den Rücken runter: Dieser Klub, achtmal Deutscher Meister, zuletzt 2011 und 2012, Champions-League-Finalist 2013, Meisterschaftszweiter noch 2014, blickt in den Abgrund. Das muss auch jene erfassen, denen Fußball schnurzegal ist, denn das Gruselige an diesem Absturz ist: Es gibt keine Erklärung dafür. Es ist einfach passiert.
Und wenn etwas einfach passiert, dann kann es jedem von uns passieren, nicht wahr?
Kleine Revue der Hinrunde: Borussia verliert gegen Leverkusen, besiegt Augsburg und Freiburg, verliert gegen Mainz. Kann passieren, sagt der Trainer, zu wenig Zeit zur Vorbereitung nach der WM, man ist noch nicht bei hundert Prozent. Dann ein Unentschieden und fünf Niederlagen in Serie! Fünf! Klopp (das ist der Trainer, auch fußball-nicht-affine Frauen kennen ihn, weil er sich mal Haare von hinten nach vorne transplantieren ließ): »Die gängigen Erklärungen greifen nicht.« Man müsse sich durch solche Phasen kämpfen. (Nicht-gängige Erklärungen gibt es nicht.)
Es folgen zwei Siege, zwei Niederlagen, ein Remis. Nein, es ist nicht schön, wenn man so viele Verletzte hat. Ja, es ist noch weniger schön, wenn einer der Wichtigsten beim Fahren ohne Führerschein erwischt wird. (Marco Reus, Rolls Reus, wie die Engländer sagen.) Ja, nein, es ist am allerunschönsten, dass einem die gemeinen Bayern die besten Kicker wegkaufen.
Ein Remis, eine Niederlage noch. »Unsere Einstellung ist nicht das Problem«, sagt der Trainer. »Es ist etwas anderes.«
Aber was? Was ist: etwas anderes?
Ja, liebe Freunde an den Empfangsgeräten, das wirklich Grauenhafte an diesem Höllensturz ist eben das Unerklärliche, das vielleicht nicht einmal durch einen Trainerwechsel zu beseitigende. Und hier liegt auch der Grund, warum uns dies nicht mehr gleichgültig lässt: Denn die Furcht vor diesem grundlosen Niedergang einer einst begeisternden Mannschaft ist unser aller Furcht, man muss, um das zu verstehen, nur ein bisschen lesen, Angst vor dem Absturz zum Beispiel, das berühmte Buch der Amerikanerin Barbara Ehrenreich von 1989: Es geht darin um das Trauma einer ganzen gesellschaftlichen Klasse, die immerzu fürchtet, ihr erarbeitetes Leben nicht mehr führen zu können, einer Mittelschicht, die sich plötzlich und unerwartet auf der steilen Rutschbahn der Verlierer findet.
Oder: Gesellschaft der Angst des deutschen Soziologen Heinz Bude, der überall im Land »ein rumorendes Empfinden der Bedrohtheit« spürt, sei es bei jungen Männern, die ihre Angst, ihr Gefühl des Nichtgebrauchtwerdens und ihr dumpfes Gekränktsein in Wut und Terror verwandeln, sei es bei Bürgern, die wiederum aus ihren vielfältigen Befürchtungen angesichts einer unüberschaubaren Welt eine einzige Angst vor dem Fremden machen. Ganz zu schweigen von den vielen dazwischen, die das undeutliche Empfinden einfach nicht mehr loswerden, unser ganzes schönes Leben könne nicht mehr lange gut gehen: wegen des Klimawandels, der Eurokrise, des Kriegs in der Ukraine …
Oder eben aus ganz unerklärlichen Gründen.
Je suis Borussia. Nous sommes Dortmund.
Illustration: Dirk Schmidt