Am Ende der Tagung sieht man zwei Teilnehmer vor dem Konferenzraum stehen, die ihre Telefonnummern austauschen. Der eine sagt seine Nummer, »0172, 857 22 …«, und der andere, der sie in sein Display tippt und gleich zurückrufen wird, registriert diese Angabe mit einem kurzen Kopfnicken. »Ach, auch noch 0172«, sagt er lächelnd und gibt zu erkennen, dass er selbst ebenfalls eine Telefonnummer mit dieser Vorwahl hat. Wie zwei Komplizen versichern sie sich ihrer Zugehörigkeit zur Mobilfunk-Avantgarde, versprechen, in Kontakt zu bleiben, und gehen auseinander.
Telefonnummern sind mehr als bloße Ziffernkombinationen, die eine Leitung freischalten. Immer enthalten sie auch eine Geschichte, so wie in dieser Szene die statusfördernde Mitteilung, dass man schon viele Jahre lang im Besitz eines mobilen Anschlusses sei. 0171 und 0172, die erste Telekom- und die erste Mannesmann-Vorwahl, sind die Urcodes der 15-jährigen deutschen Mobilfunk-Geschichte. Sie wurden 1992 bei der Vergabe der Lizenzen für das sogenannte D1- und D2-Netz eingeführt. Ein paar Jahre lang gab es keine anderen Vorwahlen; erst 1995 kam der Anbieter E-Plus dazu, 1998 Viag Interkom (heute O2), mit ihren 0177- und 0179-Nummern. Ebenfalls im Jahr 1998 sorgte der anhaltende Zustrom neuer Kunden dafür, dass auch Telekom und Mannesmann die ersten zusätzlichen Kombinationen bereitstellten, 0170, 0173 oder 0175. In dieser Zeit muss sich der symbolische Mehrwert der beiden ursprünglichen Vorwahlen langsam herausgebildet haben. 0171 und 0172 werden seit knapp zehn Jahren nur noch in Fällen vergeben, in denen ein Kunde seine Nummer zurückgibt, was in Zeiten der »Rufnummermitnahme« – der Möglichkeit, die Telefonnummer auch nach Wechsel des Anbieters zu behalten – so gut wie nicht mehr vorkommt. Die Vorwahlen 0171 und 0172 sind zu stolzen Emblemen geworden.
Und ist es nicht wirklich so, dass allen anderen Kombinationen etwas Holpriges, beinahe Illegitimes anhaftet? Die ungewohnte vierte Ziffer am Ende beschädigte die Vorwahl und machte sie zu einer ungelenken Kopie, wie ein Turnschuh mit vier Streifen. Auch wenn man sich an diese Abweichungen im Lauf der Jahre gewöhnte: Die zuletzt vergebenen Vorwahlen wie 0163, 0159 oder 0151 erscheinen bis heute als Attrappen. In manchen Milieus ist es vermutlich geschäftsschädigend, mit einer solchen Vorwahl Beziehungen knüpfen zu wollen. Vor jenem Tagungsraum wäre es nicht zu spontanen Allianzen gekommen, sondern zu Irritationen. Ein erwachsener 0159-Kunde steht immer schon in Verdacht, seine Spuren verwischen, Hinweise auf seine Vergangenheit löschen zu müssen. 0172 dagegen garantiert die vertrauenserweckende Kontinuität des mobilen Lebenslaufs.
Dass Telefonnummern Zeichenfunktion haben, galt auch schon für den Bereich des Festnetzes. Je kürzer etwa die Nummer ist, desto älter muss der Anschluss sein. In München geht von jeder sechsstelligen Telefonnummer inzwischen eine Atmosphäre des Heimeligen, Altvertrauten aus. Der Anschluss muss vor den späten Siebzigerjahren installiert worden sein, als die siebenstelligen Nummern Einzug hielten. Heute trifft man diese Rufnummern fast nur noch bei älteren Familienmitgliedern an oder im Adressschild von Geschäften, die sich seit Jahrzehnten am selben Ort befinden. Doch nicht nur die Längen der Nummern, auch die Anfangsziffern von Festnetzanschlüssen gaben lange Zeit Auskunft über ihren Besitzer. Bevor es möglich wurde, seine Telefonnummer auch nach einem Umzug zu behalten, waren sie ein untrügliches Indiz für die Lage der Wohnung, in München etwa die Anfangsziffern 20 für das Glockenbachviertel oder 77 für Untersendling.
Die Ortlosigkeit des Mobilfunks hat natürlich alle geografischen Zeichen gekappt. Doch chronologisch, als Hinweis auf den Zeitpunkt des ersten Vertragsabschlusses, ist die Telefonnummer noch entzifferbar. Die ältesten Vorwahlen wirken beruhigend auf ihre Besitzer, versehen das flüchtige Leben zumindest mit einer stabilen Biografie als Techniknutzer. Es gibt Menschen, die auf Ebay für viel Geld eine 0172-Nummer kaufen.