Klingelton

Der Hass hat nachgelassen. Jetzt herrscht ein Gefühl von Leere. Vielleicht auch, jawohl, eine Spur Wehmut. Du siehst bairisch rappende Klingelton-Indianer auf Viva, die sich selbst die Genitalien verstümmeln und »Mei tut des weh« rufen, und denkst: Es ist vorbei. Du siehst den besoffenen Klingelton-Elch auf MTV, die kopulierenden Schildkröten, die furzenden Affen und Folli den kleinen Drachen, und weißt: Du bist, egal wie sehr du dich anstrengst, nicht mehr jung. Jung sind die, die das alles super finden und ihr ganzes Taschengeld dafür ausgeben und Sweety das Küken, Mr. Chaos den nackten Teufel oder Sören das Arschlochbaby auf ihr Handy laden, um der Welt eine Botschaft zu schicken. Diese Botschaft, das spürst du, gilt auch dir. Du verstehst sie nur nicht. Oder besser gesagt: Du verstehst nur allzu gut, dass es hier, zum ersten Mal seit Ewigkeiten, gar nichts mehr zu verstehen gibt.Bisher machte die Jugend eigentlich ganz tolle Sachen. Sie liebte Songs von den »Strokes« und »Franz Ferdinand«, die dir auch sofort vertraut vorkamen. Sie tanzte zu coolen Beats, bei denen du auch mit dem Fuß wippen musstest, sie schrieb Texte wie die Band »Wir sind Helden«, die dir frech und spritzig vorkamen, sie ging gegen Krieg und Globalisierung auf die Straße, genau wie du, sie hatte ein bisschen Angst vor der Zukunft, aber nicht allzu viel – Herrgott ja, es passte kein Blatt zwischen dich und diese Jugend, und ganz egal, was dein Personalausweis dazu sagte: Du warst dabei, du warst mittendrin, du warst selber jung! Aber nun ist alles anders. Nun musst du feststellen: Die so genannte Jugend, mit der du mitgefiebert hast, war gar nicht die richtige Jugend. Das waren einfach Menschen in einer neuen, stark verlängerten Pubertätsphase, die mit 16 beginnt und ungefähr bis zur Rente dauert. Menschen in derselben Lebensphase wie du, ich oder der berüchtigte popkulturelle Jugendforscher Joachim Lottmann (48), die eben nur zufällig noch Mitte zwanzig waren. Tja.Die eigentliche Jugend, das wird dir klar, wenn du Klingeltonwerbung im Fernsehen siehst, will bei dieser tollen, großen und harmonischen Endlospubertät nicht mehr mitmachen. Sie will: Rebellion! Sie will: Rabatz! Sie hat sich aus der Umarmung der ewig Junggebliebenen befreit und hat den Aufstand vorverlagert – ins Kinderzimmer; sie hat sich den erstbesten Scharlatanen und Geschäftemachern an den Hals geworfen und – obwohl noch gar nicht geschäftsfähig – einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: das Klingelton-Abo. Es liefert die Musik für ihren Aufstand und diese Musik musste lächerlich, brutal, dilettantisch und geschmacklos klingen, bei Eltern und Pädagogen Aversionen und maximales Unverständnis wecken – und, krönender Abschluss der Unverschämtheit, auch Joachim Lottmann den letzten Nerv rauben. Bingo! Sweety, das flauschige Jamba-Küken, hat diese Ziele in kürzester Zeit erreicht. Und noch viel mehr.Bei allen, die du kennst, auch Zwanzigjährigen, lösen Sweety und seine Freunde Mordgedanken aus. Viele spielen das Kill Sweety-Spiel im Internet, wo man das Küken mit Kettensäge, Flammenwerfer und Dynamit umbringen kann. Das mag im Einzelfall therapeutisch wirken, aber es hält den Lauf der Geschichte nicht auf. Im Gegenteil: Erst im Tod liegt die wahre Erfüllung von Sweetys Mission. Es lebt an einem Ort, wo unsere ewige Toleranz nicht mehr hinreicht, es stirbt, wie die Helden von Easy Rider, durch Engstirnigkeit und mörderisches Unverständnis der alten Welt – und steht doch auf wie Phoenix aus der Asche. Was jetzt kommt, ist neu. Nicht mehr für dich gemacht, nicht für mich, nicht für Joachim Lottmann und auch nicht mehr für all die Zwanzigjährigen, die sich noch jung fühlen, aber längst zu alt für Sweety sind. Ein historischer Moment, der eigentlich ohne Vorbild ist. Oder doch nicht? Das letzte Mal, als Musik die Welt erschütterte und eine neue Jugendbewegung schuf, die alle lächerlich, brutal, dilettantisch und geschmacklos fanden, bis auf die echte und wahre Jugend – wie hieß das doch gleich? Richtig, alter Sack: Das war Punk.