Er ist der Mann mit der Zahnlücke und dem zarten Sprachfehler, der die Arme wie ein frierender Pinguin abspreizt, wenn er loslegt und seine Puccini-Arie schmettert; der Mann, dem der ewig glücklose englische Premierminister Gordon Brown dafür gedankt hat, dass er nicht nur sein Album One Chance zwei Millionen Mal verkauft, sondern damit auch noch das Ansehen des gerade glücklosen Empires gerettet hat; der mollige kleine Mann, der auf einem Foto seine mollige und gar nicht so kleine Frau Julie-Ann umarmt, als hänge sein Leben davon ab, dass sie sein Rettungsring ist – er heißt Paul Potts und hat mit einem einzigen Fernsehauftritt, mit einem einzigen Lied geschafft, woran sich Millionen wie er seit Jahren abarbeiten: Er hat dem schwachen, zweifelnden, übersehenen, überholten, aus der Form und aus der Mode geratenen Mann seine Würde zurückgegeben.
Und dafür wird er geliebt. Dafür wird er bezahlt. Sie jubeln ihm zu, in der Allianz Arena zum Bundesligabeginn und bei Oliver Kahns Abschiedsspiel und in den deutschen Konzerthallen im Herbst. Mehr als 30 Millionen Mal wurde auf YouTube sein erster Fernsehauftritt angeklickt. Und die Deutsche Telekom hat den ehemaligen Handyverkäufer aus Bristol als Werbefigur verpflichtet. In einer Welt, die von sexy Karrierefrauen und sechssprachigen Consultants bestimmt wird, bietet er das Beispiel, dass man auch mit gewissen Handicaps glücklich werden kann: Er hat seine Frau im Internet kennengelernt und ist beim ersten Rendezvous mit ihr zum Bowling gegangen. Er hatte 30000 Pfund Schulden und einen schlecht sitzenden Anzug. Er wurde in der Schule so behandelt, wie dickliche, unsichere Jungen eben behandelt werden, und war nahe daran, sich vor Verzweiflung die Treppe hinunterstürzen. Dabei wollte er nur singen. Letztes Jahr hat er den englischen Fernsehwettbewerb Britain’s Got Talent gewonnen, und in diesem Sommer war er mit seinem Album auch in Deutschland Nummer eins. Er ist eine Ikone der Hartz-IV-Welt.
Denn in seiner Rolle als unsicherer Mann ist Paul Potts zugleich Repräsentant einer verunsicherten Schicht, in Deutschland wie in England wie in ganz Europa, die den Wind der Veränderungen spürt, der aus den anderen Ecken der Welt weht: Paul Potts ist ein Held der unteren weißen Mittelklasse, die lange schon ökonomisch gefährdet ist durch die industriellen Umwälzungsprozesse des globalen Kapitalismus; die lange schon gesellschaftlich bedrängt wird in einer Zeit der sozialen Extreme; die lange schon kulturell marginalisiert ist in einer Popindustrie, die von schwarzen Testosteronheroen, orgiastisch kreisenden Hintern und japsenden Mädchen bestimmt wird.
Paul Potts, dessen Name leider immer ein wenig an den kambodschanischen Massenmörder Pol Pot erinnert, der sich unter anderem durch seine sadistisch gesteigerte Intellektuellenfeindlichkeit auszeichnete, Paul Potts also hat seine freundliche kleine Kulturrevolution geschaffen: Er hat gezeigt, dass die große Oper und der kleine Mann perfekt zusammenpassen. Sein Triumph ist es, dass er die Mischung aus Lächerlichkeit und Erhabenheit, die seine Faszination ausmacht, in Markenmacht umgesetzt hat.
Heute hat Paul Potts neue, weiße Zähne, die haben ihn 10000 Pfund gekostet. Er hat einen Haarschnitt für nicht mal 20 Euro. Er spricht von seiner Frau als der Liebe seines Lebens. Er trägt einen Smoking und Fliege bei seinen Auftritten, bei denen er immer noch dasteht wie ein Pinguin, der nicht weiß, wie er nach Hause kommt. Er wirkt fremd in New York, wenn er sich vor der Radio City Hall fotografieren lässt – wie ein Tourist, verloren in der großen Stadt. Er wirkt schüchtern, wenn er interviewt wird. Er ist ins Fernsehen gegangen, diese große Märchenmaschine, die dafür gemacht ist, aus jedem Aschenputtel etwas Großes zu zaubern.
Aber Paul Potts hat das Fernsehen besiegt, das ist das Geheimnis seines Erfolges. Denn er ist immer noch der dicke Junge aus Bristol.