Prognose

Fast alle Vorhersagen zur Wirtschaftskrise lagen daneben. Doch einmal zu schweigen fällt den Experten nicht ein.

Früher trugen sie Hüte mit breiten Krempen, damit ihnen die Sonne nicht in die Augen stach, wenn sie in der Mittagshitze auf staubigen Straßen standen und ihre Fläschchen mit Wundermitteln unters Volk bringen wollten. Heute tragen sie Anzug und Krawatte. Aber kann man sie überhaupt vergleichen, die Quacksalber aus dem Wilden Westen und die Prognosenzauberer aus Berlin, München und Kiel?

Doch nur, wenn man sehr ungerecht der einen Gruppe gegenüber ist: Damals ging es um ein paar Dollar und die Hoffnung auf Haarwuchs, heute geht es um 100, 200, 300 Milliarden und die Hoffnung auf Wohlstand. Die Heilsverkäufer von damals wussten wenigstens, was sie tun. Die ökonomischen Löffelverbieger von heute wissen nicht mal mehr, was sie reden. Es war am 15. September 2008, als Lehman Brothers zusammenbrach und die »Jahrhundertkrise« (Der Spiegel) so richtig in Fahrt kam – und Peer Steinbrück trat vor den Bundestag und sagte mit seiner so ungemein schnoddrigen Selbstsicherheit, dass er »die möglichen Auswirkungen auf uns für begrenzt« hält. Und weiter ging es mit wundersamer Wirklichkeitsverdrängung:

Im Oktober erwartete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ein Prozent Wachstum für 2009, im November berichtete das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) vom Anstieg seines Stimmungsbarometers und die sogenannten Wirtschaftsweisen machten Hoffnung in der Krise, was sehr politisch motiviert klang. Der gnadenlos glücklose Herr Glos meinte noch im Januar, dass die Talfahrt im Frühsommer enden werde. Was nichts ist gegen Jürgen Pfister, Chefvolkswirt der Katastrophen-BayernLB, der sich letzte Woche mit dem Satz zitieren ließ, »das Schlimmste ist überstanden«. Das war einen Tag, nachdem die englische Financial Times auch das Jahr 2010 für die Weltwirtschaft verloren erklärt hatte.

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Spinnen die also alle? Oder verarschen sie uns? Oder wissen sie es nicht besser? Oder sind das auch nur überforderte Männer in der Midlifecrisis, die einfach irgend-etwas sagen, weil sie im Grunde nur ihre Ruhe haben wollen und lieber mit ihren Kindern oder ihrer Geliebten im Engadin wären, als immer wieder einen solchen Schmarrn zu erzählen? Schwer zu sagen, man kann in diese Menschen ja nicht hineinschauen. Klar ist jedenfalls, dass kein Bäcker seinen Job behalten würde, wenn er so lausig backen würde.

Klar ist aber auch, dass es nicht reicht, mit ein wenig Populismus unser gegenwärtiges Kapitalismus-Dilemma zu beschreiben. Das Prognose-Debakel betrifft auch andere Bereiche, den »überraschenden« Rückgang der Geburten etwa, nachdem gerade noch ein rasanter Anstieg konstatiert wurde. Und es verweist auf ein tieferes Problem unserer Gesellschaft: Wir halten es nicht aus, wenn es keine Erklärung gibt, wenn jemand etwas nicht weiß, wenn jemand einfach mal nichts sagt und schweigt.

Nichtwissen gilt nicht – und Ratlosigkeit ist vor der Kamera ungefähr das, was im Krieg die Feigheit vor dem Feind war. Also wird palavert und prognostiziert, was das Zeug hält. Mit dem Ergebnis, dass wir so langsam bei all den fehlerhaften Vorhersagen den Überblick verlieren, was ja durchaus der Sinn dieser ganzen Nebelwerferei sein kann. Vier Prozent runter, 25 Prozent rauf, 2010, 2013, drittes Quartal?

Prognosen sind im Grunde nichts anderes als Zukunft, die zur Gegenwart gemacht wird – was dazu führt, dass sich der Zugriff aufs Jetzt verflüchtigt. Das Heute entwischt uns immer mehr. Was schade ist, denn gerade heute könnten wir an den Problemen von morgen arbeiten. Es ist ein einziges Gleiten, Rutschen, Rudern bei all den Zahlen und Daten, die da von Leuten über uns ausgeschüttet werden, die alles tun würden, um ihre eigene Unwissenheit zu verbergen. Uri Geller ist ihr Rollenmodell. Sie täuschen links, sie täuschen rechts, sie reden und rechnen, damit ihnen niemand auf ihren Trick kommt.

Prognosen sind Opium für das Volk? Sind intellektuell beleidigend? Sind Haarwuchsmittel, und jeder weiß, dass es nicht wirkt? Prognosen sind Unsicherheit, die sich mit Zahlen maskiert.

(Foto: ddp)