Schlüsselbund

Jeder Schlüsselbund hat einen funktionalen und einen ornamentalen Teil: die Schlüssel selbst, die sich – wie jeder weiß, der einmal im Fundbüro einen einzelnen Wohnungsschlüssel identifizieren wollte – kaum voneinander unterscheiden, und die Anhänger: ein persönliches Element, ein Souvenir. Die Anzahl von Schlüsseln und Anhängern stand lange Zeit in einem klaren Verhältnis zueinander; der Bund enthielt ein schmückendes Erkennungszeichen, um das sich die Schlüssel gruppierten, so wie eine Spange ein Bündel Haar zusammenhält. Doch ungefähr zur selben Zeit als sich Haarspangen auf Mädchenköpfen in funktionslose, im Überfluss angebrachte Extras verwandelten, änderte sich auch der Gebrauch von Schlüsselanhängern. Seit einigen Jahren sind sie endgültig zu einem Modeaccessoire geworden; jeder Designer bietet sie an, als erschwingliches Einstiegsprodukt wie Sonnenbrillen oder Kosmetika, und sogar in Restaurants oder Cafés werden Anhänger mit dem Logo des Lokals verkauft. Die Popularität von Schlüsselanhängern hat im Leben vieler Menschen einen eigentümlichen Effekt herbeigeführt: dass sich an ihrem Bund auf einmal mehr Anhänger als Schlüssel befinden.Die Inflation von bunten, wuchernden Schlüsselbunden lässt sich vielleicht als Bestandteil einer allgemeineren Entwicklung deuten. Denn eine auffällige Tendenz der gegenwärtigen Zeit ist etwas, was man die Personalisierung des Funktionalen nennen könnte: Für neue technische Geräte wie Handys, Digitalkameras oder iPods etwa gibt es, anders als bei Walkmen oder Discmen vor 15 Jahren, eine Unzahl von Accessoires, von Etuis, Ketten, Anhängern, die den blanken, fabrikneuen Dingen einen individuellen Zug verleihen sollen. Nichts im Ensemble der eigenen Habseligkeiten darf mittlerweile ungestaltet bleiben. Auch der Schlüsselbund erliegt diesem Drang der Verzierung und persönlichen Kennzeichnung; bald wird es vermutlich Websites namens mykey.com geben, auf denen die Mitglieder der Community die Geschichte ihrer Anhänger erzählen, sie bewerten und tauschen.Wenn die Überlegung zutrifft, dass die Konjunktur des Selbst-designs als Zeichen einer fortschreitenden Vereinzelung aufzufassen ist, dass die unermüdliche schöpferische Arbeit an den Details des eigenen Lebens mit einem Zurückgehen an Austausch, an Ablenkung vom Ich einhergeht – dann ist die Aufstockung der Schlüsselbunde ein deutliches Indiz. Es scheint, als würde der durchdesignte, alle paar Tage neu geflochtene Bund – mit dem aktuellen Anhänger von Marc Jacobs, den bunten Troddeln von Prada, dem orangefarbenen Emblem eines beliebten Feinkostladens in Berlin-Mitte – gerade in solchen Biografien eine Rolle spielen, die von latenter Haltlosigkeit bedroht sind. In Zeiten der Mobilität, der doppelten Wohnsitze, Bonusmeilen-Programme und fragilen Beziehungen wird der Schlüsselbund zum sorgsam gepflegten Fetisch, an dem die Bestandteile der Schrägstrich-Existenzen zusammenlaufen. Doch bei aller Verlassenheit ihrer Besitzer bleiben die übergroßen Schlüsselbunde ein Symbol des sozialen Eingebundenseins. Auch wenn hinter den Türen der Wohnungen niemand wartet: Es gibt immerhin noch Räume, die man eigenmächtig öffnen und verschließen darf. Dieses Privileg ist manchen Menschen untersagt, etwa Strafge-fangenen. Sie benötigen keinen Schlüsselbund, weil sie in Räumen leben, die andere für sie verwalten. In Heinrich Breloers Fernsehfilm Todesspiel über die Ereignisse im »Deutschen Herbst« 1977, der gerade wiederholt wurde, gibt es ein aufschlussreiches Detail. Man sieht die Gefangene Gudrun Ensslin immer wieder mit einem kleinen Schlüsselbund an der Hose herumgehen – vielleicht mit Schlüsseln zu Schreibtischschubladen oder einem Spind in der Zelle. Sie trägt den Bund sichtbar am Körper, als stolzes Zeichen einer ungebrochenen Mündigkeit. Auch wenn nur eine winzige Schublade als verfügbarer Raum übrig geblieben ist: Der Bund an der Hose weist auf den Kampf gegen die restlose Verwaltung des Gefangenenlebens hin; er ist eine Antwort auf die rasselnden Riesenbunde der Wärter.