Steuertrick

Alles klar, wir wissen es, wir haben es tausend Mal gehört: Unser Steuersystem ist komplex und verworren, nirgendwo gibt es so viele Sonderregelungen und Spezialvergünstigungen, und im Grunde sind es nur die Finanzämter, die den Aufschwung lähmen und dieses Land darniederhalten. Auf gewisse Weise stimmt das auch, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil liegt in uns selbst, in der Psyche des deutschen Steuerzahlers: dieses todsichere und leicht wahnsinnige Gefühl, dass ganz sicher noch was herauszuholen wäre – und zwar mit Hilfe des Steuertricks. Der Steuertrick ist ein wirklicher Trick, man muss schon ein Fuchs und ein Kenner sein, um ihn zu verstehen und anzuwenden. Gleichzeitig aber ist er völlig legal, wir brechen ja keine Gesetze. 1000 ganz legale Steuertricks, lautet also auch der Titel eines ewigen Bestsellers, und diese Kombination führt schon ganz tief hinein in jenen Abgrund, der mit »Steuer-dschungel« nur unzureichend umschrieben ist. Vordergründig wirkt die Botschaft positiv: Dass man mit Steuertricks Geld sparen kann und es mindestens tausend davon gibt. Tatsächlich aber gehört sie, ähnlich wie der amerikanische Traum, zu einer Ideologie der unerfüllbaren Versprechungen. Ihr Kern lautet: Schlaue Menschen zahlen überhaupt keine Steuern. Denn die Großen, die Konzerne, die Reichen machen es ja vor: Für sie gilt theoretisch der Spitzensteuersatz, aber praktisch greift er nie, weil sie alle Steuertricks beherrschen. Nur wir, wir sind irgendwie zu blöd dazu. Wir versuchen die Tricks natürlich auch, mit Zweitwohnsitz, Haushaltshilfe, Kilometerpauschale, Verpflegungsmehraufwendungen und so fort. Aber jedes Jahr, wie’s der Teufel will, landet dann doch ein schmerzhaft hoher Betrag beim Finanzamt, und wir waren wieder nicht clever genug. »Für Ihre diesjährigen Umsätze sind Sie ein bisschen wenig Essen gegangen«, tadelt der Steuerberater streng, wir beißen uns beschämt auf die Unterlippe. Jetzt müssen wir zahlen und sind auch noch selber schuld. So jagen wir endlos der Vorstellung hinterher, dass wir nur diesen einen Paragrafen noch verstehen müssten, schon stünde dem wahren Reichtum nichts mehr im Weg. Was keineswegs nur die so genannten Besserverdiener betrifft, es ist fast eine kollektive Paranoia: Haben wir Spielräume nicht genutzt, ein Schlupfloch undurchschlupft gelassen? Tagelang fahnden wir nach Schriftstücken, um den beruflichen Zweck einer Reise zu begründen, fordern längst verlorene Dokumente noch einmal an, wühlen uns durch mufflige Zettelkästen – und alles nur, um dem Finanzamt keinen Cent zu schenken, um nicht das grausame Schicksal aller Kleinlauten, Denkfaulen und Unkreativen zu teilen, die brutal vom Staat geschröpft werden. Am Ende passiert etwas ziemlich Absurdes: Der Steuerdschungel erscheint uns als Freund, er hüllt uns ein mit seinen unentwirrbaren Paragrafenschlingen, und je mehr wir uns darin verheddern, desto geborgener fühlen wir uns. Insofern macht uns dieser Professor in Merkels Wahlkampfteam, der alle Hintertürchen, Vergünstigungen und Schlupflöcher einfach abschaffen will – draufhauen mit der Riesenmachete sozusagen –, dieser Paul Kirchhof macht uns Angst. Was werden wir tun, wenn wir einfach nur 25 Prozent des Lohns abdrücken müssen, ohne jede Ausnahme? Wohin mit all den mühsam erlernten Tricks, wohin mit dem wertvollen Halbwissen? Schon plagt uns die Vision, wie wir dann plötzlich dastehen werden: nackt in einer riesigen, schlammigen Ödnis, die einmal ein blühender Dschungel war. In der Hand halten wir einen Bierdeckel mit unserer Steuererklärung, aber selbst den will keiner mehr sehen. So sehen wir uns fröstelnd um, eine Heidegger’sche Kreatur, brutal ins Sein und in die Freiheit geworfen. Im Herzen spüren wir Frieden, die Simplizität und Leere, aber dieses Gefühl ist kaum auszuhalten. So ziehen wir ratlos davon – auf der Suche nach der wunderbaren verlorenen Zeit, als das Tricksen noch geholfen hat.