Zivilist

In den bewaffneten Konflikten der Gegenwart herrscht eine widersprüchliche Dynamik. Zivilisten werden mit großer Regelmäßigkeit Zielscheibe militärischer oder terroristischer Operationen, aber zugleich sind zivile Opfer, die auf besonders grausame oder sinnlose Weise sterben, stets ein wirkungsvolles Mittel zur Mobilisierung von Entrüstung und politischer Parteinahme. Die Unversehrtheit der Zivilbevölkerung, deren Schutz in der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung festgelegt ist, gilt als hohes Gut – zugleich arbeiten starke Kräfte daran, die Unterscheidbarkeit von Zivilist und Kombattant völlig einzuebnen. Opfer fehlgeleiteter Luftangriffe, psychisch zerrütteter Bodentruppen und terroristischer Bombenleger werden zwar lautstark beklagt, sind jedoch in den jeweiligen Strategien längst einkalkuliert.

Die Rolle des Angreifers, der mit sinnloser Gewalt das Leben Unschuldiger vernichtet, wird dabei im öffentlichen Bewusstsein öfter einmal neu besetzt. Nach dem 11. September fiel sie den Terroristen der al-Qaida zu. Ereignisse wie das Massaker von Haditha im Irak, wo sich die Anzeichen verdichten, dass US-Marines 24 Zivilisten kaltblütig umgebracht haben, oder der Angriff der israelischen Luftwaffe auf Kana im Südlibanon, bei dem 29 Zivilisten im Keller eines Wohnhauses starben, rücken wiederum reguläre Militärs in die Nähe von Kriegsverbrechern. Die Darstellung der jeweiligen Opferrolle wird auf beiden Seiten perfektioniert, nicht zuletzt zur Rechtfertigung neuer militärischer Operationen. Dabei verwischen auch die Grenzen zwischen Zivilisten und Kämpfenden; die jüngsten Berichte aus dem Libanon werfen bei allem Unglück auch die Frage nach der Unschuld und der Nichtverantwortung der Zivilisten auf.

Geht man zu den wichtigsten historischen Referenzen zurück, muss man der zivilen Opfer der alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg und der Toten von Hiroshima und Nagasaki gedenken. Sowenig diese Massenmorde verteidigt oder gar gerechtfertigt werden können, so plausibel wäre dennoch eine Argumentation, die auch dem zivilen Teil einer Gesellschaft Verantwortung für das eigene Überleben aufbürdet: Jeder mündige Bürger, der nicht jämmerlich in einem Feuersturm oder Bombenhagel verenden will, hat zuallererst dafür Sorge zu tragen, dass sein Staat nicht von einem suizidalen Militär- und Herrenmenschen-Kult ergriffen und bis zum Ende beherrscht wird. Sofern er das nicht verhindern kann oder Widerstand nicht möglich ist, sollte er das Land schnellstens verlassen – jedes andere Verhalten muss so ausgelegt werden, als spekuliere er heimlich auf Sieg, was aber die eigene Vernichtung im Ernstfall miteinkalkuliert. Das ist gewiss eine stark verknappte Argumentation – wer kennt schon die Gründe, die Menschen bewegen, in den Kriegsgebieten zu bleiben? Es könnten auch bislang erfolglose Widerständler darunter sein, Kinder. Dennoch: Sind muslimische Zivilisten, de-ren Hass so weit geht, dass sie Ra-ketenabschussrampen in ihren Wohngebieten dulden und getarnte Kampfeinheiten in ihrer Mitte verstecken, so unschuldig, wie sie sich im Fernsehen darstellen?

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Wir Zivilisten und sogar Pazifisten der westlichen Welt sollten unsere Verantwortung in den Konflikten der Gegenwart um-fassender denken als bisher. Viele Strategien auf den internationalen Finanzmärkten sind heute so aggressiv, dass ihre Auswirkungen sich von militärischen Angriffen kaum unterscheiden: Es kommt vor, dass ganze Volkswirtschaften in Schwellenländern durch Devisenspekulation ruiniert werden. Millionen von wirtschaftlichen Existenzen und in der Folge auch Menschenleben werden auf diese Weise vernichtet, ohne dass auch nur eine gewaltsame Handlung erfolgt – der dramatische Zusammenbruch Thailands, Indonesiens und Malaysias im Juli 1997, der von den Betroffenen vor allem dem US-Milliardär George Soros angelastet wurde, ist ein Beispiel dafür. Solange solche Strategien zu unserem allgemeinen Wohlstand beitragen, solange wir die verantwortlichen Fondsmanager in unserer Mitte feiern, statt ihr Tun zu kritisieren – so lange wird unsere Unschuld stets nur eine relative sein.