Samstag, eine gehobene Gemüseabteilung oder ein Großstadt-Marktstand, man will Tomaten kaufen und sieht: nichts als Tomätchen. Auf den Schildern steht »Bonbon-Tomaten«, »Tomaten-Küsse«, »Nasch-Tomaten«, »Tomaten-Zwerge«, »Rubin-Tomaten«. Die Größe: pralinengroß, die Präsentation wie in einer Confiserie, die Gemüsefrau daneben so snobby wie eine Leysieffer-Verkäuferin, gleich wird sie die kleinen Kügelchen mit einer Silberzange in Zellophan senken wie Champagnertrüffel.
Kirschtomaten? Pah, von gestern. Jetzt gibt es Johannisbeertomaten, kleiner als ein Cent, gerade groß genug für eine Zahnfüllung - Liebling, ich habe das Essen geschrumpft.
Die Miniaturisierungswelle, vor Jahren ganz harmlos mit Cocktailtomaten gestartet, hat nicht nur die Tomaten zu lustigen Süßigkeiten reduziert, sondern auch Salatgurken in Bananenlänge, kinderfaustdicke Blumenkohlköpfchen, Babykaröttchen, Salami-Pralinen, Mozzarellakügelchen und Wiener Würstchen in Murmelform hervorgebracht. Alles ist nur noch niedliches, mundgerechtes Naschwerk, mit einem Happs ist alles weg.
Klar gibt es dafür Erklärungen. Marktforscher kommen mit schönen Thesen über die »Derhythmisierung des Ernährungsverhaltens« (=wir essen immer) und die »Bagatellisierung von Essen« (= wir essen immer, und zwar so nebenbei, dass wir es kaum noch merken) - der Snack verdrängt die Mahlzeit, schon klar. Und die wachsende Zahl der Singlehaushalte lässt Bonsaigemüse als sinnvolle Vermeidung von verwesenden Kühlschrankleichen erscheinen - da zahlt man dann auch gern die Apothekerpreise, die angesichts der neuen Pillengröße ja nur konsequent sind.
Aber merkwürdig ist es schon, dass wir so willig Messer und Gabel aus der Hand legen und lieber in die Bonschitüte greifen. Ist das nun ein Zeichen der fortschreitenden Infantilisierung, dass selbst etwas so Prosaisches wie Wurst auf einmal putzig sein muss? Ist die Salami-Praline die Bärchenwurst der Babyboomer-Generation? Die trotz aller Kochshows gigantische Unlust, ein Küchenmesser an eine Tomate anzusetzen oder eine Möhre zu schaben und gar davon abzubeißen, hat ja in der Tat auch schon dazu geführt, dass uns Vitamine immer öfter in kindgerechter Breiform (»Smoothie«) vorgesetzt werden. Warum sollte man einen Apfel essen, wenn man mit einem Schluck drei davon
trinken kann? Fortschritt, Baby!
Und vielleicht ist das der eigentliche Lebensmittelskandal unserer Zeit: Essen ist für uns nur noch Entertainment. Die einen haben nichts zu essen, die anderen spielen damit rum.
Foto: Ralf Zimmermann