Es ist der Sprinter, der Zug der kaum anhält – und auf einmal wirkt er für mich, wie ein Schnellzug ins Jenseits. Ich bin gerade, um kurz nach 17.00 Uhr, in Berlin eingestiegen. Auf dem Platz, den ich reserviert habe, steht ein grauer Rucksack. Ich schaue mich um, frage die Menschen, die um mich herum sitzen, wem der wohl gehört. Schulterzucken, Kopfschütteln. Wohin mit dem Rucksack? Auf meinem Nachbarplatz sitzt eine ältere Dame. Ich stelle den herrenlosen Rucksack deshalb auf den Sitz hinter mir, der ist noch frei. Dann setze ich mich, lehne mich zurück – und erschrecke. Ein Gepäckstück, das niemandem gehört! Das kann alles sein, vielleicht sogar eine Bombe! London hatte die U-Bahn-Attentate, Madrid die Anschläge in Zügen – Deutschland ist ein paar Mal knapp davon gekommen. Vielleicht wären wir einfach mal dran, vielleicht bin ich jetzt dran.
Das sind nicht gerade Gedanken, die zu meiner Entspannung und meinem Reisegenuss beitragen. Ich stehe auf, betrachte den Rucksack genauer. Er ist grau und von einem namhaften deutschen Hersteller von Alpinausrüstung – nicht gerade das, worin ein Islamist eine Bombe verstecken würde, denke ich. Andererseits: Es gab schon 16-Jährige mit bildungsbürgerlicher Herkunft, die für den IS in Syrien gekämpft haben – solche Menschen können jederzeit solch einen Rucksack zuhause haben. Es hilft nichts, ich muss in Aktion treten. Ich suche den Zugbegleiter – schließlich habe ich schon öfter im Zug die Durchsage gehört: »Wir haben einen Koffer in Wagen X, dessen Herkunft wir nicht zuordnen können. Der Besitzer soll sich bitte unbedingt sofort beim Zugpersonal melden.«
Ob ich mal den Reißverschluss der Seitentasche ein Stück öffnen soll?
»Unsere Fahrgäste bitten wir«, schreibt die Bahn auf meine Anfrage, wie die Regeln für herrenloses Gepäck in Zügen sind, »sich an die Kolleginnen und Kollegen im Zug zu wenden und diese auf Koffer ohne erkennbaren Besitzer hinzuweisen. Zunächst entscheidet die Zugbegleiterin bzw. der Zugbegleiter dann, ob es sich um ein Fundstück handelt oder um ein herrenloses Gepäckstück im Sinne eines potenziell gefährlichen Gegenstandes.« Identifizierten die Mitarbeiter das Gepäckstück als Fundsache (wie auch immer sie das machen), fahndeten sie durch persönliche Ansprache oder per Durchsage nach dem Besitzer. Befürchte ein Zugbegleiter eine mögliche Gefahr, werde die Leitstelle die Bundespolizei kontaktieren, die über das weitere Vorgehen entscheide.
In der Praxis führt das leicht zu Fehlalarmen. Der Münchner Hauptbahnhof wurde zum Beispiel vergangenes Jahr teilweise von der Bundespolizei evakuiert, der Zugverkehr für eine Stunde eingestellt. Jede Menge Ärger, für jede Menge Menschen. Für etwas Vergleichbares möchte ich natürlich nicht verantwortlich sein. Aber die potenzielle Gefahr einfach ignorieren? Das kann ich nicht.
Ich treffe den Schaffner im nächsten Wagen. »Es gibt ein Gepäckstück in Wagen 23, das anscheinend niemandem gehört«, sage ich und versuche dabei mit der Stimme möglichst ruhig zu bleiben. Der Zugbegleiter ist ein Mann um die 50 mit einem rötlichem Haarkranz, Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er runzelt die Stirn, es wirkt als ob ihm die Arbeit ohnehin schon zu viel ist. »Zeigen sie mir das mal.« Wir gehen gemeinsam zu dem Rucksack. »Ach, der gehört bestimmt jemandem, der auf der Suche nach seinem Platz ist.« Super, er will noch nicht einmal eine Ansage machen. Ist es nicht genauso in jedem Katastrophenfilm? Ein Typ (ich) sieht die Gefahr früh, alle anderen (Zugbegleiter, Mitreisende) sind blind und stürzen damit viele Menschen ins Unglück?
Ob ich mal den Reißverschluss der Seitentasche ein Stück öffnen soll? Wenn da zum Beispiel eine Zahnbürste zum Vorschein käme, wäre ich schon ein bisschen beruhigt. Nur, wenn ich mich jetzt an dem Rucksack zu schaffen mache, steht bestimmt gleich jemand hinter mir und bezichtigt mich, ich würde klauen. Ich setze mich – dann stelle ich mir vor, dass es einen großen Knall gibt und wie mein Leben damit aufhören würde.
Mir kommt die Idee, den Rucksack einfach beim nächsten Halt aus der Tür zu werfen. So wären wir die Bombe los. Und wenn doch keine drin wäre, ist der Besitzer ein Idiot, der verdient, seinen Rucksack zu verlieren. Doch während ich das denke, fährt der Zug in Berlin Südkreuz los. Und es ist der Sprinter, der erst über ein Stunde später in Halle wieder hält, Chance vertan! Ich sehe es genau vor mir: Der Plan der Terroristen ist, zu warten bis der Zug die Höchstgeschwindigkeit erreicht und dann die Bombe zu zünden. So wollen sie maximalen Schaden anrichten.
Beklommen gehe ich zu meinem Platz zurück – jetzt sind alle Plätz belegt, auch der, auf dem der Rucksack stand. »Wo ist der Rucksack?«, frage ich meine Nachbarin. »Der gehört der Frau, die gerade mächtig am Umpacken ist.« Sie zeigt auf eine Frau in den Vierzigern mit schwarz-gefärbten Haaren, die neben uns im Gang steht – zwischen einer offenen Reisetasche und dem vermeintlichen Bomben-Rucksack! Er ist offen, ein Pullover schaut heraus, gleichzeitig versucht sie Platz in den Gepäck-Ablagen zu schaffen. Entwarnung also. Aber genau diese Frau hatte ich eben doch gefragt, ob ihr der Rucksack gehöre! Sie reagierte anscheinend eben einfach nicht, weil sie ihr Gepäckstück auf dem Sitz gut geparkt sah und es ihr zu stressig gewesen wäre, dafür einen Platz in den Ablagen zu suchen. Leute gibt’s. Aber immer noch besser, als vor einem Rucksack voller Sprengstoff zu sitzen, denke ich, kurz bevor ich endlich einschlummere.