Es war einer der wenigen Lacher im ersten Lockdown: Kaum ein Mensch fuhr mehr mit der Bahn – und plötzlich waren die Züge pünktlich. Ohne Fahrgäste geht es also, unkten wir Fahrgäste, während wir zu Hause saßen. Während des jüngsten GDL-Streiks war es ähnlich. Ich musste wegen eines dringenden Termins Bahn fahren – im Gegensatz zu vielen anderen Kundinnen und Kunden, die laut Bahn stattdessen die Kulanzregelungen zur Umbuchung in Anspruch nahmen und ihre Reisen auf Tage verschoben, an denen nicht gestreikt wurde. Als ich in den ICE stieg, war der jedenfalls weitgehend leer – und fuhr auf die Sekunde pünktlich ab. Könnte es also tatsächlich die Lösung für das Pünktlichkeitsproblem der Bahn sein, ein für alle Mal auf den Störfaktor Passagier zu verzichten?
Soweit will man bei der Bahn nicht gehen. Auf Anfrage erklärt eine DB-Sprecherin, dass Verspätungen zu je einem Drittel auf die Eisenbahnunternehmen, auf die Infrastruktur und auf äußere Einflüsse zurück gehen. Zu letzteren zählten die Passagiere und ihr Verhalten, eine genauere Aufschlüsselung gebe es nicht. Nachgefragt bei einer Zugbegleiterin, die ohne Erlaubnis der Bahn spricht und deshalb anonym bleiben möchte. Sie sieht vor allem die Zustiege der Passagiere als Quelle von Verspätungen. »Wenn Kalle noch seinen Arm in die sich schließende Tür steckt, dann geht sie eben nicht zu«, sagt die langjährige Fernverkehrsbetreuerin. Das sei ein Problem, weil der Zug bei sich schließenden Türen schon abgefertigt sei. »Und wenn dieser Prozess unterbrochen wird, dann muss der Zugchef aus Sicherheitsgründen wieder von vorne beginnen mit seinen Abläufen«, sagt sie. Sprich, noch mal aussteigen, schauen, ob eben in keiner Tür jemand hängt. Das dauert.
Dann gebe es noch die Kundinnen und Kunden, die sich in eben jene letzte offene Tür stürzten, in die der Zugchef nach Abfertigung des Zuges einsteige. »Einmal stand eine Mutter mit Baby im Tragetuch vor mir auf dem Trittbrett und hat gerufen: Bitte warten, mein Mann kommt gleich mit den Fahrkarten!« Sie habe die Frau dann doch noch überreden können, auszusteigen. Da sei Geduld gefragt. »Ich kann sie ja nüscht runterschubsen«, sagt die Bahnmitarbeiterin, unverkennbar eine Berlinerin.
Wir Passagiere können selbst etwas tun für die Pünktlichkeit, indem wir es eben unterlassen, uns in Züge zu drängen, die nicht mehr zum Einsteigen bestimmt sind
Das Problem sei, dass die Slots besonders auf großen Bahnhöfen eng seien. »Wenn es zu lange dauert, bis der Zug abfahren kann, nimmt der Fahrdienstleiter eben manchmal die Ausfahrterlaubnis zurück und gibt sie stattdessen an einen anderen Zug – und dann können aus ein paar Sekunden, in denen sich jemand in Tür quetscht eben schnell fünf Minuten Verspätung werden.«
Also, anders gesagt: Wir Passagiere können selbst etwas tun für die Pünktlichkeit, indem wir es eben unterlassen, uns in Züge zu drängen, die nicht mehr zum Einsteigen bestimmt sind. Andererseits ist die Zeit für Ein- und Ausstiege an großen Bahnhöfen oft zu knapp bemessen. »Vier Minuten am Hamburger Hauptbahnhof, das ist einfach zu wenig, wenn der Bahnsteig voll ist«, sagt die Zugbegleiterin, und jede und jeder, die beziehungsweise der schon mal dort oder auch in Berlin oder Köln in der Menschentraube stand, versteht, was sie meint. Wie es besser geht, zeigt, wie so oft im Bahnverkehr, die Schweiz. Dort stehen Züge fahrplangemäß oft mehrere Minuten selbst in kleineren Bahnhöfen, in großen Orten wie Zürich auch schon mal zehn Minuten und mehr. Dadurch ist so viel Luft – also Zeit – im System, dass kleine Störungen abgepuffert werden können und in der Regel nicht zu Verspätungen führen.
Als ich zuletzt nach Zugausfall, 50-minütiger Verspätung des Alternativ-ICEs und Stranden auf einem außerplanmäßigen Bahnsteig ohne Aufzug oder Rolltreppe stehe – mit der Familie, inklusive Kleinkind, Kinderwagen und jeder Menge Gepäck –, bin ich mir doch ziemlich sicher, dass die Passagiere die geringste Schuld am häufigen Chaos auf Bahnreisen tragen. Ich erwische mich bei dem Gedanken: Ja, wenn es bei euch so gut klappt ohne Passagiere, Deutsche Bahn, dann fahrt doch in Zukunft ohne mich! Aber das war natürlich nur ein kurzer Wutausbruch. Ich fahre weiter Zug, versuche selbst keine Verspätungen zu verursachen – und hoffe, dass die Milliarden, mit denen der Bund die Bahn sanieren will, möglichst schnell zu einer Verbesserung führen.