Ich ärgere mich noch heute. Eine Zugfahrt vor ein paar Wochen, mit drei Freunden. Wir auf einem Vierersitz, alle mit Maske. Nebenan sitzt ein junger Mann, der seine Mund-Nase-Bedeckung statt an ihrem vorgeschriebenen Platz um den Hals baumeln hat. Bei der Fahrkartenkontrolle zeigt der Typ sein Semester-Ticket, die Zugbegleiterin enthält sich eines Kommentars zur runter hängenden Maske. Der Student belässt die Mund-Nasenbedeckung unter dem Kinn bis zum Endbahnhof – eine Stunde Fahrzeit. Im Zug denke ich mir: »Was für ein Idiot.« Und bin ansonsten abgelenkt durch das Gespräch mit den Freunden.
Aber später, in der U-Bahn, fangen meine Gedanken an zu kreisen. Der Abstand zwischen uns betrug etwas weniger als anderthalb Meter, schätze ich. Mit meiner Maske sollte ich zwar gegen Tröpfchen halbwegs geschützt gewesen ein, aber wenn der Typ eine Stunde lang Sars-Cov2-haltiges Aerosol in die Gegend geatmet hat, dann war meine Maske, die seitlich nicht besonders gut abschließt, wohl eher lausig. Und jetzt fahre ich nach Hause zur Familie, wo eine Person zur Risikogruppe zählt. Ich ärgere mich über den Typen mit der runter hängenden Maske – und über mich. Warum habe ich ihn nicht auf die Maskenpflicht hingewiesen?
Was mich (und meine Freunde) wohl davon abhielt, den Typen anzusprechen, war, dass wir es grundsätzlich unsympathisch finden, andere Menschen zu maßregeln. Keiner von uns wollte so etwas wie der Blockwart des Zuges sein. Hier auf die Einhaltung der Regeln zu achten, ist ja nun wirklich nicht unsere Aufgabe. Allerdings war in den vergangenen Wochen zu beobachten, dass auch das Bahnpersonal manchmal kein sonderlich großes Interesse daran zeigte, die in den Zügen der DB geltende Maskenpflicht durchzusetzen. In den vergangenen Wochen wuchs der Unmut darüber auch in der Politik.
Nun erhöht die Bahn aber zum Glück den Druck und setzt verstärkt Sicherheitsdienste ein; heute gibt es zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen eine landesweite Kontrollaktion zur Maskenpflicht in Regionalzügen und S-Bahnen. Auch hat man mittlerweile Chancen, vom Personal erhört zu werden, wenn man sich über Maskenverweigerer beschwert. Die DB teilte mit: »Die rund 12.000 Zugbegleiter im Fern- und Regionalverkehr haben in diesem Fall im Rahmen der Beförderungsbedingungen jederzeit die Möglichkeit, Reisende von der Fahrt auszuschließen. In Konfliktsituationen setzt dies die Bundespolizei um.«
Wahrscheinlich ist im Rucksack genug Bier, dass es für die Fahrt von Garmisch nach Flensburg reichen würde
Dennoch gibt es selbst bei verstärkten Kontrollen auch in Zukunft weiter Situationen, in denen kein Zugbegleiter zugegen ist und man selbst entscheiden muss, ob man etwas tun möchte. So wie neulich, als ich mit einem ICE von Frankfurt nach Köln fahre. In Limburg steigt ein Mann zu, setzt sich auf den Zweier-Platz vor mir – mit Maske. Kurz darauf zischt es, dann riecht es nach Bier. Ich schiele durch den Spalt zwischen den Sitzen, sehe einen breiten Nacken, eine Halbliter-Dose Bier, eine Maske, die am rechten Ohr des Fahrgasts nach unten baumelt. Zum Trinken darf man die Mund-Nase-Bedeckung ja kurz absetzen und für diese Zeitspanne ist das auch von der Ansteckungsgefahr zu verkraften, denke ich, und vertiefe mich wieder in die Arbeit. Zwischendrin schaue ich immer mal wieder hoch – die Maske baumelt ununterbrochen herunter.
Nach zehn Minuten setze ich mich weg, aber als ich den Biertrinker eine halbe Stunde später auf dem Weg zur Toilette immer noch ohne Maske sehe, hole ich tief Luft, gehe auf ihn zu und frage: »Entschuldigung, aber warum haben Sie Ihre Maske nicht auf?« Er zeigt auf sein Bier, soll wohl heißen: »Ich trinke, da kann ich ja keine Maske anziehen.« Klar, und wahrscheinlich ist im Rucksack genug Bier, dass es für die Fahrt von Garmisch nach Flensburg reichen würde. So ähnlich versuchte wohl auch der AFD-Bundestagsabgeordnete Stephan Brandtner der Maskenpflicht zu entgehen – indem er auf der Fahrt von Berlin nach Greifswald Gebäck knabberte. Als der Zugbegleiter ihn auf die Plicht zum Tragen eines Mundnasenschutzes hinwies, sagte er: »Esse gerade, geht nicht, danach überlege ich es mir.« Brandtner floh dann vor der Bundespolizei aufs Zugklo. Soweit kam es bei meiner Begegnung nicht, denn ich hatte ausnahmsweise einen guten Einfall. »Zwei Reihen weiter sitzt ein Kleinkind, das keine Maske anziehen kann. Es ist vollkommen ungeschützt, falls sie infektiös sind!« Daraufhin zog der Mann ohne Widerrede seine Mund-Nase-Bedeckung über.
Zufällig hatte ich wohl die richtige Gesprächsstrategie gefunden – denn wenige Tage später veröffentlichte die australische Wissenschaftlerin Claire Hooker von der Universität Sydney ihre Tipps zur Überzeugung von Maskengegnern. »Wenn wir wütend oder ängstlich sind, wird die Person, die wir ansprechen wollen, möglicherweise gar nicht mitbekommen, was wir mitteilen möchten«, schreibt sie. Stattdessen erfolge dann gleich der Gegenangriff. Da war meine Maske wiederum von Vorteil, denn so konnte man nicht sehen, dass ich ziemlich sauer und auch ein bisschen ängstlich war. Claire Hooker schreibt weiter: »Gemeinsame Werte zu finden und anzusprechen, verhindert, dass der Angesprochene sich in die Enge getrieben fühlt und eröffnet Spielraum für Verhandlungen.« Kinder zu schützen – darauf können sich doch die meisten Menschen einigen. Also, ich kann nur empfehlen beziehungsweise dazu aufrufen, Maskenverweiger so oder so ähnlich anzusprechen. Denn wie schrieb eine Leserin: »Wir dürfen diese Leute nicht so davon kommen lassen, wir müssen den sozialen Druck erhöhen.«
Als ich übrigens meiner Freundin ein bisschen stolz erzählte, dass ich gerade einen Maskenverweigerer unter die Mund-Nasen-Bedeckung gebracht hatte, sagte sie. »Und du hast nicht aufs Maul bekommen? Cool!« Ich konnte allerdings nicht sehen, ob sie meine Heldentat würdigte oder sich über mich lustig machte – wegen ihrer Maske.