Wer hätte gedacht, dass man es mal genießen würde, bei Regen, einer Temperatur von knapp über null und böigem Wind auf einem Bahnsteig rumzustehen? Aber neulich ging es mir so – weil ich froh war, meine FFP3-Maske kurz abziehen zu können. Dafür ging ich bis ans Ende des Bahnsteigs, wo es kein Dach mehr gab und wo auch sonst niemand stand. Für die nächste Reise habe ich dann sogar mein Buchungsverhalten geändert: Statt einer schnellen Verbindung mit einem Umstieg wählte ich eine, die etwas länger dauerte und einen Umstieg zusätzlich hatte.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich bin total für die Maskenpflicht im Zug, und habe sie auch schon gefordert, bevor sie offiziell eingeführt wurde. Aber eine Pause zum freien Atmen ist trotzdem sehr schön, gerade bei längeren Zugreisen. Das dachte sich wohl auch das Zugteam bei meiner nächsten Fahrt. Der Intercity, in dem ich sitze, fährt den Rhein entlang von Mainz in Richtung Köln. Dann stoppt er. »Wir sind außerplanmäßig zum Halten gekommen. Sie können aussteigen und ein bisschen frische Luft schnappen«, sagt die Zugchefin durch.
Eine Kollegin von ihr hastet an mir vorbei. »Was ist passiert?«, frage ich. »Stellwerkstörung«, antwortet sie. »Und was heißt das in Minuten beziehungsweise Stunden?« »Das kann man wirklich nicht sagen. Es brennt jedenfalls nicht, das hätten wir gehört.« Die Stellwerke sind wahrscheinlich das veraltetste Infrastrukturelement im gesamten Bahnkosmos. Zum Teil ist dort, man glaubt es kaum, immer noch Technik aus dem Kaiserreich im Einsatz. Bei einigen Stellwerken werden Weichen weiterhin per Seilzug auf Sicht gestellt, so etwa auf der Intercity-Strecke Karlsruhe-Stralsund im Stellwerk Stadtallendorf. Das soll sich nun endlich ändern. Mit der Initiative »Neue Netze für Deutschland« will die Bahn in wenigen Jahren alle Stellwerke auf digitale Technik umstellen.
Ich gucke nach links aus dem Fenster – Gleise. Ich gucke nach rechts – Buschwerk, Bahnbrache. Wollen die uns wirklich hier raus lassen?
Ich gucke nach links aus dem Fenster – Gleise. Ich gucke nach rechts – Buschwerk, Bahnbrache. Wollen die uns wirklich hier raus lassen? Das ist doch sonst strikt verboten! Brennt vielleicht doch etwas – und zwar unser Zug? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir sonst auf freier Strecke raus dürften. Da kommt die Durchsage: »Die Passagiere im vordersten Wagen bitte bis zum nächsten Wagen zurück gehen, dort ist ein Bahnsteig.« Etwas unorthodox, aber doch nett von der Zugchefin, dass sie uns raus lässt. Denn eine Anweisung an die Zugbegleiter, Passagiere bei Zwangspausen aussteigen zu lassen, gibt es laut Bahn nicht.
Ich gehe im Zug nach hinten, trete nach draußen auf den etwas verotteten Bahnsteig. »Mensch, Bonn-Oberkassel, hier war ich auch noch nie«, höre ich die Zugchefin sagen. Ich blinzele in die Frühlingssonne, ziehe die Maske aus und atme tief durch. Ausnahmsweise bin ich nicht in Eile. Aber die Wahrheit ist natürlich: Dieser Halt ist keine nette Geste der Bahn. Wegen einer Störung waren wir vorher bereits auf die rechtsrheinische Seite umgeleitet worden, und dass wir jetzt aussteigen dürfen, heißt: Auch auf unserer Ersatzstrecke liegt etwas schwer im Argen. Nichts Kleines, denn sonst wären die Türen bestimmt geschlossen geblieben. Ich stelle mir vor, wie ein Kommunikationstrainer den Zugbegleitern eingetrichtert hat: »So schlimm es auch ist, ihr solltet immer ein positives Wording parat haben.«
Bei dem Pärchen, das im Zug hinter mir saß, hat es nicht gefruchtet. Die beiden verschwinden mit ihren Trekking-Rucksäcken; vermutlich denken sie, dass sie zu Fuß schneller sind als mit diesem Zug. Eine Frau mit Rollkoffer kommt zur Zugchefin. »Ich muss in 20 Minuten auf der andern Rheinseite in Brühl sein, das geht nur noch mit dem Taxi«, sagt sie. »Bekomme ich einen Gutschein?« Die Zugchefin verneint, zu wenig Verspätung.
Wenn man eine Weile mit Bahnmitarbeitern auf dem Bahnsteig steht, bekommt man allerdings auch mit, woran man als Fahrgast nur selten denkt, nämlich dass Verspätungen für die Bahnangestellten oft genauso ärgerlich sind wie für die Passagiere. »Ich muss um drei meine Kinder aus dem Kindergarten holen – ich hoffe das klappt«, sagt eine. Dann plötzlich ein Anruf bei der Zugchefin. Sie hört zu, steckt das Handy in die Tasche und bläst in ihre Pfeife. »Bitte einsteigen, es geht weiter.« Eine Viertelstunde Pause, um mal durchzuatmen – wirklich angenehm. Vielleicht sollte man solche Unterbrechungen zu Pandemie-Zeiten in den Fahrplan aufnehmen. Ob man 15 Minuten früher oder später ankommt, ist meist ja nicht wichtig. Blöd nur, wenn man anders geplant hat und Anschlüsse oder Termine verpasst. »Pünktlich wie die Eisenbahn«, die Redensart ist so alt wie manches Stellwerk der Bahn. Einst war alles langsamer, aber es gab kaum Verspätungen. Für eine Übergangszeit zumindest könnte ich das gut verkraften.