Ich sitze im Zug und fühle mich wie in den Achtzigerjahren. Damals gab es noch Grenzkontrollen in Europa, und ich erinnere mich daran, dass ich als Kind immer etwas aufgeregt war, wenn wir die Zöllner passierten. Würden sie uns auf dem Weg in den Urlaub anhalten? Unser Auto durchsuchen, das mit Eltern plus drei Kindern und Gepäck randvoll war? Ein Horror, vor dem meine Eltern sich immer fürchteten, der aber nie eintrat. Heute bin wie damals mit viel Gepäck unterwegs, diesmal im Zug. Weil der Winter so lang war, bin ich noch mal auf einer Skitour in der Schweiz gewesen; zwei Impfungen habe ich inzwischen hinter mir. Als Gepäck habe ich eine Tasche mit meinen Skiern dabei und einen großen violetten Rollkoffer, in den der Rest der Ausrüstung samt Helm und Skischuhen reinpasst. Zwei deutsche Zollbeamte gehen kurz hinter der Schweizer Grenze durch den Zug. Ich höre sie hinter mir schon andere Passagiere fragen: »Gehört Ihnen dieser violette Koffer im Gepäckregal?«
Urplötzlich spüre ich diese Grenzübergangs-Nervosität aufkommen, wie ich sie noch aus meiner Kindheit kenne. Was mit meinem Koffer nicht in Ordnung sein soll, kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber ich habe meinen Impfpass verloren und die Bescheinigung, die ich stattdessen dabei habe, sieht aus, nun ja, als ob ich mir die auch selbst ausgestellt haben könnte. Holen mich die Beamten also aus dem Zug? Komme ich nicht mehr nach Hause heute Nacht? Als die beiden Zollbeamten bei mir sind, bestätige ich: »Ja, das ist mein Koffer.« Vielleicht klinge ich nervös, vielleicht können sie die Geschichte, dass ich noch Ski fahren war, wo es um uns herum doch grün ist, nicht glauben. »Können Sie bitte den Koffer öffnen?«, sagt der eine jedenfalls bestimmt. »Bitte? Da sind vor allem verschwitzte Klamotten drin – in einem ziemlich ausgeklügelten System verstaut...« »Kommen Sie bitte mit und öffnen Sie den Koffer.«
Ich empfand schon die Kofferkontrolle als unangenehme Bloßstellung – wie muss man sich erst fühlen, wenn das eigene Aussehen ständig zu Kontrollen führt?
Anscheinend glauben die Beamten, das wird mir jetzt klar, dass ich schmuggle. Bisher wurde nur einmal in meinem Leben mein Koffer durchsucht – bei der Einreise in die USA, als ich aus Medellín, Kolumbien, kam, der einst legendären Hauptstadt der Drogenkartelle. Hat die Schweiz inzwischen einen ähnlichen Ruf? »Was erwarten Sie denn in meinem Koffer?«, frage ich. »Wir stellen hier die Fragen.« – »Ich komme aus der Schweiz, da ist alles teurer als in Deutschland, was zur Hölle soll ich da schmuggeln?« Keine Antwort.
Die anderen Passagiere schauen herüber, vielleicht halten mich einige bereits für einen Verbrecher. Das stresst mich, mir steht wirklich der Schweiß auf der Stirn. Ich klappe den Koffer auf, Skischuhe kommen zum Vorschein, aus denen Socken schauen, dazwischen verschwitzte Unterwäsche. Der Zollbeamte schaut angewidert, kramt aber tatsächlich mit seinen Gummihandschuhen in meinen Sachen herum. Übrigens hatte er diese schon an, als er zu mir kam, und er wird sie nicht wechseln, als er weiter durch den Zug geht, so viel zu Hygiene bei der Kontrolle.
Als er nichts als schmutzige Wäsche bei mir findet, wirkt der Zollbeamte fast etwas enttäuscht. Dabei hat er natürlich längst nicht alles gesehen, was ich im Koffer habe, ein paar Iphones hätte ich da schon noch versteckt haben können. Denn um Apple-Geräte, das erklärt er dann, geht es bei der Kontrolle. Diese sind in der Schweiz trotz des höheren Preisniveaus etwas billiger, weil die Mehrwertsteuer mit 7,7 Prozent dort weniger als halb so hoch ist wie in Deutschland. Aber sind ein paar geschmuggelte Geräte wirklich diesen Aufwand wert? Auf meine Anfrage hin spricht das zuständige Hauptzollamt lieber von der »Bekämpfung der Waffen- und Rauschgiftkriminalität sowie der Geldwäsche«. Würden professionelle Schmuggler dann wirklich einen so auffälligen Koffer auf Bahnreisen benutzen? Und überhaupt – gibt es gerade nicht Wichtigeres? Um Corona-Regeln, sprich das Einreiseformular, das man ausfüllen muss, wenn man aus einem Kanton kommt, der als Risikogebiet gilt, hat sich niemand gekümmert, ob Bahn, Bundesgrenzschutz oder Zoll; genauso wenig um Impfnachweise. Mit frischen Virus-Varianten im Gepäck hätte ich also problemlos einreisen können.
Bei den folgenden beiden Grenzübertritten aus der Schweiz werde ich übrigens mit dem Schalenkoffer zwar nicht durchsucht, aber jeweils von den Zollbeamten detailliert befragt, woher ich komme, wohin ich fahre und warum – mit violettem Gepäck passt man anscheinend in irgendein Fahndungsraster. Bei der Pressestelle des zuständigen Hauptzollamtes heißt es: »Wer kontrolliert und wie intensiv die Kontrolle vorgenommen wird, liegt im Ermessen der Kontrollbeamten. Dabei spielt natürlich auch die Erfahrung des jeweiligen Beamten eine entscheidende Rolle.« Tja, bei mir lagen sie mit Ihrem Koffer-Profiling jetzt schon dreimal daneben.
Dass auf die individuelle Erfahrung und Entscheidung der Beamten verwiesen wird, kennt man aus der Diskussion um Racial Profiling. Im Bezug auf die Bahn ist damit gemeint, dass die Bundespolizei im Zug ohne konkreten Anlass Menschen kontrolliert, deren Hautfarbe sich von derjenigen ethnischer Deutscher unterscheidet. Racial Profiling ist verboten, wird aber offensichtlich praktiziert. Ich zumindest habe es häufig erlebt, dass ausschließlich der einzige fremd aussehende Mensch in einem Waggon einer Personenkontrolle unterzogen wurde. Ich empfand schon die Kofferkontrolle als unangenehme Bloßstellung – wie muss man sich erst fühlen, wenn das eigene Aussehen ständig zu Kontrollen führt? Gerichte haben mehrfach zugunsten der unrechtmäßig Kontrollierten und Gegängelten entschieden, Betroffene können sich heute an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden.
Verglichen mit Racial-Profiling, das für die Betroffenen ausgesprochen belastend sein kann, ist mein Koffer-Problem eine Lappalie. Neugierig bin ich trotzdem. Was würde passieren, wenn ich mein Gepäck beim nächsten Mal in Aldi-Tüten packe? Würde ich damit durchkommen, oder mich erst recht verdächtig machen?