Das Experiment nimmt seinen Anfang in einem leeren Raum, im Wohnzimmer des Hauses der Gegenwart, das seit einigen Wochen fertig auf dem Gelände der Bundesgartenschau steht. Ein leerer Raum ist ja wie ein knurrender Magen: Er brüllt danach, gefüllt zu werden. Aber wie sollen wir dieses Haus einrichten? In welchem Stil? Wem soll die Einrichtung später gefallen? Aus vielen kleinen Fragen wurden zwei große: Welche Menschen richten sich eigentlich wie ein? Und warum tun sie das so und nicht anders?
»Ein Wohnexperiment?«, fragt Carsten Ascheberg, Experte für Alltagsästhetik am Sozialwissenschaftlichen Institut für Gegenwartsfragen in Mannheim, »Sie werden überrascht sein, wie viel die Einrichtung eines Menschen über sein Leben, seine Einstellungen aussagt!« An der Möblierung lasse sich genau ablesen, in welchem sozialen Milieu ein Mensch lebt. Derzeit können Sozialforscher die Deutschen in zehn verschiedene Milieus einteilen, in Gruppen von Menschen also, die ihr Leben ähnlich gestalten, die gleichen Freizeitinteressen haben, die gleichen Dinge kaufen.
Also bitten wir für unseren Versuch drei Familien, das Wohnzimmer des Hauses sowie ein oder zwei andere Räume ihrer Wahl so einzurichten, dass sie sich wohl fühlen. Dafür dürfen sie über ein Budget verfügen, in etwa so hoch wie das, was sie nach Einschätzung des Soziologen Carsten Ascheberg im wirklichen Leben für die Einrichtung eines Hauses ausgeben könnten. Für dieses Budget können sie sich in den Geschäften ihrer Wahl Möbel ausleihen. Jede Familie soll außerdem mindestens fünf persönliche Gegenstände von zu Hause mitbringen, ohne die sie sich ihre Einrichtung nicht vorstellen könnte.
TESTFAMILIE 1 ist die Familie Zimmer und kommt aus dem fränkischen Heidenheim, einem Dorf mit 1500 Einwohnern. Franz Zimmer, Kumpelpapa mit Schnauzbart, spricht ein breites Fränkisch und nennt seine Frau Ruth nur »die Frau«, wenn er über sie spricht. Bei ihnen sei für alles, was zu Hause herumsteht, »die Frau« zuständig, er dagegen kümmere sich ständig um die Renovierung des Hauses, das er vor 18 Jahren als Ruine gekauft hat. Außerdem hat er, der Schreinermeister, einige Möbelstücke selbst gebaut, eine Kommode zum Beispiel, sein Meisterstück. Für ihre Einrichtung dürfen die Zimmers Möbel im Wert von 12000 Euro aussuchen. Zusätzlich zum Wohnzimmer wollen sie für ihre Töchter Alexandra und Svenja zwei Kinderzimmer einrichten.
Testfamilie 1 schlendert also in den langen Gängen der Einrichtungshäuser herum, setzt sich auf Sofas, klopft auf Tische, wippt auf Stühlen. Nein, einen genauen Plan hätten sie nicht. »Gemütlich soll’s sein und lange halten«, sagt Franz Zimmer, »deswegen ist bei uns alles aus Holz.« Sie bleiben vor einem weißen Designersofa aus Leder stehen (»würde gut ins Haus der Gegenwart passen, ist aber nicht unser Stil!«), vor einer flachen Sofalandschaft (»zum Schlafen gehen wir ins Bett, nicht aufs Sofa!«) und entscheiden sich für eine Couch mit zimtfarbenem Bezug und einen Beistelltisch aus hellem Holz. Dazu kaufen sie eine Esszimmer-Kombination, Tisch, Stühle und Anrichte im modernen Landhausstil, Pinie antik geölt, und sagen, das passe besonders gut zu ihrem Bauernschrank, der zu Hause die Bastelarbeiten der Kinder und Familienandenken beherbergt. Den bringen sie mit, der ist ihnen besonders wichtig. Einen Schrank wie diesen bezeichnen Soziologen als den »Altar«: ein Platz, an dem Dinge, die Menschen wichtig sind, gesammelt und ausgestellt werden. Altare können unterschiedlich aussehen: ein Schrank, ein Regal, ein ganzes Zimmer – manche Menschen häufen Technik an, andere Markenprodukte.
Am nächsten Tag arrangieren die Zimmers ihre neuen Möbel zu den mitgebrachten, nageln Familienfotos an die Wand, rücken Topfpflanzen herum, stellen die Uhr von der Oma auf, und als alles fertig ist, sagt Svenja: »Papa, das ist so schön hier, können wir das Haus nicht für eine Zeit mieten?«, und ihre Zahnspange blitzt dabei.
Die Einrichtung der Familie Zimmer – Bastsessel, Holzmöbel, gusseiserne Backformen und Bastelarbeiten an den Wänden – sieht nicht so aus, als möchten sie jemanden damit beeindrucken. Mit so einer Einrichtung macht man es sich und seiner Familie gemütlich. Als Carsten Ascheberg, der Soziologe, die Einrichtung betrachtet, fragt er Ruth Zimmer: »Sie trauen dem Nahverkehrssystem, den Bussen und Bahnen nicht?« – »Wie bitte?«, fragt sie und guckt irritiert unter den rot gefärbten Ponyfransen hervor. »Weil Sie Angst haben, dass Ihre Kinder nicht sicher zur Schule kommen!« – »Ja, stimmt«, sagt sie und errötet. »Das ist typisch für dieses Milieu«, sagt Ascheberg. »Wir nennen das ›Überfürsorge‹. Sicherlich sind Sie auch Mitglied in einem Verein?« – »Im Naturfreundeverein und die Kinder auch in der freiwilligen Feuerwehr«, sagt Frau Zimmer.
Für Menschen, die sich wie die Familie Zimmer einrichten, steht die Familie im Mittelpunkt. Sie lieben die Natur, suchen nach Harmonie und engagieren sich für andere, meistens in Vereinen. Soziologen bezeichnen dieses Milieu als das »modern-bürgerliche« oder auch als den »Kitt der Gesellschaft«. Ungefähr zwölf Prozent der Deutschen zählen dazu. Wenn sie Autos kaufen, wählen sie oft einen Kombi, auch wenn sie noch keine Kinder haben – und sobald welche da sind, melden sie das mit »Baby an Bord«- oder »Lena on Tour«-Aufklebern. Mit modernem Design können sie nichts anfangen und neuen Techniken stehen sie skeptisch gegenüber. Ihre Vorstellung von Ästhetik entstand nicht aus Protest zur vorherigen Generation, sondern sie entwickelten den Geschmack ihrer Eltern weiter. In ihrer Einrichtung stellen sie Erbstücke der Großeltern aus und viele andere Dinge, die den Familienzusammenhalt demonstrieren: Bastelarbeiten der Kinder zum Beispiel, wie auf dem »Altar« der Zimmers. Außerdem fühlen sich Menschen dieses Milieus ihrer Heimat verbunden. »Sicherlich finden Sie in der CD-Sammlung der Familie auch Musik aus Franken«, sagt der Soziologe. Die Zimmers haben einige CDs von zu Hause mitgebracht. Wir finden: die fränkische Gruppe »Die Schnitzerneggl«.
TESTFAMILIE 2 wird von ihrem Chauffeur zu den Möbelgeschäften gefahren. Helmut Freiherr von Fircks und Christina Harvey-Duwé haben ihre Tochter Cosima an diesem Tag bei ihrem tschechischen Aupair-Mädchen gelassen. Helmut von Fircks trägt handgefertigte Schuhe, einen Siegelring und seine Körperform entlarvt ihn als leidenschaftlichen Genießer. Er sammelt Obstbrände, fährt bei Oldtimer-Rennen mit, segelt und spielt Golf; seine Frau Christina, schlank, Perlenkette, Haare im Nacken zusammengebunden, reitet am liebsten eines ihrer zehn Dressurpferde. Ihrer Tochter Cosima schenkten sie zum dritten Geburtstag das erste Pferd, mit einer roten Schleife um den Bauch. Inzwischen hat Cosima schon einige Pokale bei Dressurturnieren gewonnen.
Für seinen Einkauf hat das Paar einen genauen Plan entwickelt: Die strenge Architektur des Hauses verlange nach Farbe und anders als in ihrem Haus am Starnberger See, das mit Antiquitäten im französischen Landhausstil eingerichtet ist, möchten sie hier lieber modernes Design zu alten Möbeln kombinieren: »Ein Spannungsfeld zwischen Alt und Neu erzeugen«, sagt Helmut von Fircks. Sie wollen das Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer einrichten und dürfen Möbel im Wert von 40000 Euro auswählen.
Ihr Einkaufstag ähnelt einem Tag an der Börse: Sie verhandeln kurz, aber heftig, dann schlagen sie zu und Helmut von Fircks kann einen Punkt auf seiner Besorgungsliste abhaken, die er vorher in sein Handy eingetippt hat. »Wir schaffen an einem Tag, wofür andere vier Wochen brauchen«, und er erzählt, dass er in der letzten Woche eine Stereoanlage und einen Flachbildfernseher gekauft hat, in nur 40 Minuten, Rekordzeit. Für das Haus der Gegenwart sucht Christina Harvey-Duwé nun Plaids, Kissen, Teppiche und Tischläufer in verschiedenen Rottönen zusammen, mit denen sie »Farbwelten« schaffen und eine »warme Licht- und Farbführung« erzeugen will. Im zweiten Einrichtungshaus gerät das Paar wegen eines feuerroten Ledersessels in Streit. Helmut von Fircks erinnert der Sessel an einen Ferrari, außerdem sei Feuerrot »eine absolut entschlossene Farbe«. Das scheußliche Ding komme ihr auf keinen Fall ins Haus, erwidert seine Frau. Helmut von Fircks, clever, versucht zu verhandeln: Wenn er den Stuhl bekomme, könne auch sie sich etwas aussuchen, was er nicht mag. Schließlich darf er einen Ledersessel mitnehmen – allerdings nur einen in Dunkelrot. Für das Wohnzimmer kaufen sie ein flaches Sofa, eine Liege aus Wasserschlangenleder, und bestellen im Blumenladen Tulpen, Lilien und Kirschbaumzweige für eine »lebendige Note«. Cosima, von der Mutter »Schnuckelbienchen« genannt, darf am nächsten Tag mithelfen, das Haus einzurichten. Als sie fertig sind, sieht das Wohnzimmer aus, als wäre es aus einer Wohnzeitschrift gerissen. Im Haus sind elf Vasen mit Blumenarrangements zu sehen, sechs Coffee Tablebooks mit Titeln wie Living in Mexico, Bikini – eine Kulturgeschichte oder Sylt – Champagnerluft und Nordseerausch, drei Plaids, über Sessel und Sofa dekoriert, und drei Teppiche, die mit den Sofakissen und Vorhängen optisch harmonieren.
Soziologen nennen Einrichtungen wie diese eine »widerspruchsfreie Inszenierung«. Die Wohnung ähnelt einer Bühne und zeigt, dass sich die Besitzer mit dem Zeitgeist auskennen. Auf dem Altar dieser Familie, einem Regal, sind Familienfotos in Silberrahmen, Andenken an Reisen, Literaturklassiker und Bildbände über Kunst, Reisen, Autos ausgestellt. Helmut von Fircks hat sich in seinem Arbeitszimmer auf einer Anrichte einen eigenen Altar gebaut: ein Modellsegelboot, sein Notebook, Bildbände über New York.
Sozialwissenschaftler nennen solche Menschen die »Arrivierten«, die nach einem harten Arbeitsleben in der Oberschicht, im etablierten Milieu, angekommen sind. Ungefähr neun Prozent der Deutschen zählen dazu. Sie zeigen, was sie besitzen, lieben Luxusartikel und einige entwickeln eine ausgeprägte Neigung zu Oldtimern oder Sportwagen. Führungskräfte aus der Wirtschaft sind unter ihnen, Großverdiener, deswegen bezeichnen Soziologen dieses Milieu auch als das »Rückgrat der Gesellschaft«.
TESTFAMILIE 3 trägt Turnschuhe von Puma zu Kaschmirpulli und Jeans und erklärt schon vor Beginn des Experimentes, sie könne sich kaum vorstellen, die Möbel für das Haus in einem Geschäft zu kaufen. »Eigentlich kaufen wir nie was von der Stange«, sagt Jan Reuter, groß, blond, sanfte Stimme. Seit fünf Jahren lebt er mit seinem Freund Thomas Hund zusammen, in einer Neubauwohnung in der Münchner Innenstadt mit hohen Räumen, Parkettboden und genug Platz für die Kunst, die sie leidenschaftlich sammeln. Die beiden würden niemals in den Grüngürtel einer Stadt ziehen und bewundern Landschaften am liebsten durch ein Zugfenster hindurch.
Einige ihrer Kunstwerke haben sie in ihrer Wohnung ausgestellt, zeitgenössische Objekte und Bilder, andere sind eingelagert, und Thomas, der Kunstgeschichte studierte, kann zu jedem Werk erzählen: zum Beispiel über das Aquarium des Künstlers Martin Wöhrl, das wie das Architekturmodell eines sozialen
Wohnungsbaus aussieht. Zwei Goldfische leben darin, einer heißt »NellyundMax«, der andere »Milva«. Auch die Möbelstücke in ihrer Wohnung muten wie Kunstwerke an, ihr Bett aus Kirschbaumholz zum Beispiel, von dem nur 16 Stück hergestellt wurden, oder der Sessel im Badezimmer, den Jan mit Handtüchern beziehen ließ. Jan arbeitet als Interior Designer und richtet Häuser und Firmen ein, im »budgetfreien Bereich«, und auch dort verwendet er kaum Massenware, sagt er.
Jan und Thomas dürfen Möbel für 30000 Euro aussuchen und richten damit das Wohnzimmer ein, dazu ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer. Den Wohnraum wollen sie nur wenig möblieren, zum »Biertrinken, Freunde-Treffen, Kunst-Angucken«, und leihen sich bei einer Galerie zwei Kunstwerke aus: Milchtisch und AEG-Skulptur des Hamburger Künstlers Stefan Kern, Objekte aus Holz, auf die man sich auch setzen kann. Dazu entscheiden sie sich für eine Installation, Labsal von Wolfgang Stehle: eine Tapete mit grünem Muster, die an die sechziger Jahre erinnert und wie Kopfsalat aussieht. Auf die Wand wird eine Raupe projiziert, die an einem der Blätter nagt und dicker wird, je mehr sie frisst. Sie kaufen drei Sitzsäcke und einen leichten Tisch, alles in den »Alarmfarben Rot, Grün, Weiß«, dann ist ihr Wohnzimmer fertig: »Die Sitzsäcke zieht man, wohin man will, den Tisch kann man im Sommer auf die Terrasse tragen.«
Für Jan und Thomas ist das ganze Wohnzimmer ein Altar, auf dem sie Kunst und Design zusammengetragen haben. Manche Menschen finden so ein Wohnzimmer ungemütlich. Jan und Thomas nicht. »Das, was viele als kuschelig bezeichnen, erdrückt uns«, sagen sie. Menschen, die so denken, ordnen Soziologen dem postmodernen Milieu zu, dem etwa sieben Prozent der Deutschen angehören: Die Postmodernen führen ein unkonventionelles Leben und brechen mit Traditionen. Das sieht man an ihrer Einrichtung: Sie erfinden neue Funktionen für Gegenstände oder kombinieren sie ungewöhnlich. So suchten Jan und Thomas in einer Galerie für Designoriginale zwei Arne-Jacobsen-Sessel für das Arbeitszimmer aus, dazu einen Couchtisch und einen bunt geblümten Teppich. »Zwei Sessel, Teppich, Sofatisch mit Blumenvase darauf – das erinnert an eine kleinbürgerliche Inszenierung. Mit dem Blumenteppich und den Designersesseln wird das Ganze aber ironisch überhöht«, sagt der Soziologe dazu. Die Postmodernen erheben Alltagsgegenstände zum Kunstobjekt, Dinge vom Flohmarkt zum Beispiel, die sie wie Kunst präsentieren. Oft stellen sie auch scheinbare Widersprüche zur Schau, Blumen zum Beispiel, die nicht zusammenpassen – wie die Rosmarinzweige mit Narzissen, die Jan für seine Vase ausgesucht hat. In ihrem Schlafzimmer, das sie komplett von zu Hause mitgebracht haben, stellen sie auf eine Konsole einen leeren Bilderrahmen, ein ausgestopftes Krokodil und das Kunstwerk Missfit: eine ausgestopfte Schildkröte mit dem Kopf eines Maulwurfs.
Außen Stehende könnten bei so einer Einrichtung denken: Was ist das denn für Sperrmüll? Aber auch mit dieser Einrichtung wird etwas repräsentiert – jedoch nur für einen ausgewählten Kreis von Menschen, die die einfachen Birkenholzschreibtische in Jans und Thomas’ Arbeitszimmer erkennen: Originale des berühmten finnischen Architekten Alvar Aalto aus den dreißiger Jahren.
Fotos oder Familienandenken sieht man in Jans und Thomas’ Einrichtung nicht. »Wenn wir im Urlaub sind, fotografiere ich Hauseingänge, Fliesen, Früchte auf dem Markt, aber sicher nicht Jan vor dem Eiffelturm«, sagt Thomas und verzieht das Gesicht. »Und wenn unsere Nichten uns etwas schenken, stellen wir das gern aus – zwei Wochen lang, dann ist es aber auch gut«, sagt Jan. »Und außerdem fahren Sie ein uraltes schrabbeliges Auto, nicht wahr?«, fragt Carsten Ascheberg, der Sozialforscher. »Einen zwanzig Jahre alten Peugeot 205«, sagt Thomas überrascht. Autos sind für postmoderne Menschen so unwichtig wie nichts anderes.
Drei Familien, drei Einrichtungen – und am Ende des Experimentes steht wieder ein leeres Haus da. Nach drei Umzügen hat es ein paar Kratzer abbekommen, von den Möbeln, die hier herumgeschoben wurden. Sonst ist das Haus immer noch weiß und kahl. Wir wissen jetzt, wie sich drei Familien die Einrichtung dieses Hauses vorstellen. Wie durch ein Mikroskop konnten wir beobachten, wie sie eine Wohnung herrichten, damit sie sich wohl fühlen. So unterschiedlich die Ergebnisse unserer drei Testfamilien auch ausfielen, eines ist allen gemeinsam: Jede der Familien behauptet, ihre Einrichtung sei die schönste von allen.