SZ-Magazin: Barkeeper aus aller Welt nennen Sie den Cocktailpapst. Wie beschreibt man am besten, was Sie beruflich machen?
David Wondrich: Ich würde mich als Historiker der Populärkultur bezeichnen. Ich forsche in Archiven, halte Vorträge, schreibe Bücher. Gerade arbeite ich am Oxford Companion to Spirits and Cocktails. Meine Professur für Englische Literatur habe ich aufgegeben, als ich bemerkte, wie wenige belastbare Quellen es für die Entstehungsgeschichte von Cocktails gibt – und wie viele falsche Legenden. Man hat ja lange nicht die Möglichkeit gehabt, die Dinge zu prüfen. Das Internet hat den Zugang zu elektronischen Datensätzen vereinfacht.
Legenden wie jene, derzufolge die Mutter von Winston Churchill den Manhattan erfand?
Angeblich soll sie mit dem neuen Drink 1874 im »Manhattan Club« in New York eine Party geschmissen haben, um die Wahl eines Gouverneurs zu feiern. Kann nicht stimmen, denn zur selben Zeit hat sie in England ihren Sohn Winston geboren. Außerdem hatten Frauen damals noch keinen Zutritt zum »Manhatten Club«. Völliger Quatsch also – der sich erstaunlich lange gehalten hat. Andere Mythen sind schwieriger zu widerlegen: Der berühmte Sazerac-Cocktail aus New Orleans soll irgendwann 1840 von einem Apotheker erfunden worden sein, der das Rezept dann an eine Bar weiterverkauft habe. Auch das stimmt nicht. In Wahrheit entstand der Cocktail erst fünfzig Jahre später. Ich habe sogar die beiden Barkeeper aufgespürt, die den Drink populär gemacht haben. Dafür hatte ich zwei Wochen ganz altmodisch Mikrofilme mit Zeitungen in einer Bibliothek in New Orleans durchgestöbert. Jedesmal so ein Aufwand wäre natürlich unpraktikabel.
Woher der Name Cocktail stammt, haben Sie trotz jahrelanger Recherchen nie geklärt.
Doch, ich habe mittlerweile eine gute Idee und hinreichende Belege dafür: Der Begriff kommt aus dem Pferderennsport. Cocktail war der umgangssprachliche Ausdruck für ein Stück Ingwer, das man einem Pferd in den Hintern schiebt, wenn man es verkaufen will. Das weckt die Lebensgeister und lässt den Schweif in die Höhe schnellen, wie bei einem jungen Hengst – deswegen Cock-Tail. Pferdehändler haben das gern gemacht.
In einem Ihrer ersten Bücher haben Sie den Begriff noch von gemischtrassigen Pferden abgeleitet.
Ich weiß, aber ich habe erst vor Kurzem neue Quellen gefunden. Cocktail als Stimulanzmittel macht mehr Sinn als meine erste Hypothese: Man trank Cocktails, um den Schwanz aufzurichten. Auch Sportler haben sich damit morgens auf Trab gebracht. Ich habe Jahre gebraucht, um das herauszufinden und zu belegen. Ich glaube wirklich, die Sache ist damit genügend erklärt.
Wurden Cocktails ursprünglich vor allem am Morgen getrunken?
Ja, das wissen wir schon länger. Der morgendliche Cocktail wurde im 18. Jahrhundert in Europa und den USA schnell beliebt, man kannte ja noch keine Handys und Computer und musste beim Überqueren der Straße nicht aufpassen. Damals lebte man etwas sicherer und gemütlicher. Ich fände einen Drink am Morgen auch nachahmenswert, aber bei meiner Frau komme ich damit nicht durch.
Was war in den ersten Cocktails?
Man trank entweder nur die Bitters, also Kräuterschnäpse, oder Bitters mit Rum, Brandy oder Gin gemischt. Die Formel des Bitters geht auf ein Rezept eines Arztes aus dem Jahr 1693 zurück. Er empfahl, sie mit Wein oder Brandy zu mischen und morgens zu sich nehmen, auch gegen Kater. Irgendwo in New York State am Hudson River ist der Begriff 1803 zum ersten Mal gemeinsam mit einem Rezept aufgetaucht. Er hat das bezeichnet, was wir heute als Cocktail verstehen: ein wohltuendes Mischgetränk für jede Tageszeit.
Jahrhundertelang hatte man Punsch getrunken. Warum konnte sich der Punsch gegen Cocktails dann nicht mehr behaupten?
Das Leben wurde zu schnell. Man nahm sich nicht mehr die Zeit, um sich mit Freunden um eine Bowle zu versammeln, die dauerte einfach zu lange. Außerdem hatte man heißen Punsch getrunken, um sich aufzuwärmen, und das wurde immer unwichtiger, als die Zentralheizung erfunden war.
Wurde der Cocktail nur zufällig in den USA erfunden?
Sicher nicht. In den USA hat man immer schon viel Schnaps getrunken. Das Land expandierte schnell in den Westen, es gab aber keine guten Straßen, Bier und Wein zu transportieren war ein Ding der Unmöglichkeit, viel zu teuer. Die Sommer waren viel zu heiß, um eigenes Bier zu brauen. Und die Weinberge waren lange armselig – da blieb dann nur der Schnaps. Die Leute auf den Farmen konnten ihn selbst brennen. Nicht nur, um ihn zu trinken, sondern Whiskey war im Westen auch lange die effizienteste Art für Farmer, ihr Korn auf den Markt zu bringen. Sie lebten von Whiskey, Apfel- und Pfirsichbrandy. Deutsche Farmer in Pennsylvania, die mit der Technik vertraut waren, Korn zu brennen, kamen im 17. Jahrhundert auf die Idee, aus Roggen Schnaps zu brennen. So entstand der amerikanische Rye Whiskey.
Warum ging man dann zu Mischgetränken über und blieb nicht bei Whiskey pur?
Cocktails schmeckten lecker. Erst recht, nachdem Frederic Tudor Anfang des 19. Jahrhunderts in Boston herausgefunden hatte, wie man Eis aus Neuengland bis in den Sommer haltbar machen konnte. Er verdiente ein Vermögen damit und hat die amerikanische Barkultur geprägt. New York ist im Sommer brüllend heiß, die Stadt liegt auf demselben Breitengrad wie Rom. Jeder trank auf einmal Ice Mint Juleps. Die ersten Cocktails waren klein und brauchten kein Eis, weil man sie schnell herunterkippte. Nach dem Goldrausch 1849 konnten sich viele Leute Eis leisten und merkten, dass es einen Cocktail wirklich um einiges besser macht. Jetzt waren die Cocktails immer noch klein und ziemlich stark, aber dazu noch kalt.
Wann entstand daraus der Longdrink?
Der stammt vom Punsch ab. Mitte des 19. Jahrhunderts, als das schnelle Leben die Punschbowle zu zeitaufwendig machte, schrumpfte der Punsch vom Gruppendrink zum individuellen Drink. Eine sehr populäre Punschversion war der Garrick Club Punch mit Gin, der mit Eiswasser verdünnt und gekühlt wurde. Sobald dieser Drink glasweise gemixt wurde, nannte man ihn John Collins, das passierte etwa 1860. Der John Collins war der Archetyp moderner Longdrinks. Die tropischen Varianten mit reichlich Fruchtsaft kamen später.
War Eis der Grund, warum England und die Mittelmeerländer mit der Cocktailkultur später dran waren?
Auch, Eis war damals in Mitteleuropa teurer. Die Italiener bekamen 1860 zum ersten Mal einen Shaker in die Hand, und was machten sie damit? Eiskaffee.
Ihr Kollege, der englische Cocktail-Experte Jared Brown, glaubt einen Cocktailshaker aus dem 13. Jahrhundert entdeckt zu haben.
Er hat zwei Becher gefunden, die ineinanderpassen, aber ich bin skeptisch, ob es sich dabei wirklich um einen Shaker handelt. Als Akademiker gehe ich sehr vorsichtig mit solchen Behauptungen um.
Hat der Cocktail die Amerikaner zu härteren Trinkern gemacht?
In den ersten dreißig, vierzig Jahren nach der Unabhängigkeit waren Amerikaner starke Trinker. Um 1830 hat sich das etwas gelegt, und man drosselte den Konsum auf europäisches Niveau, aber die Amerikaner tranken anders: mehr Cocktails als Schnäpse, weniger Champagner. Das war immer noch mehr als heute, aber sicherlich weniger als um 1800. Mit dem Aufkommen von Martinis und Manhattans 1880 wurden Cocktails etwas schwächer, weil Wein und Wermut schwerere Spirituosen ersetzten. Aber das nivellierte sich ganz schnell wieder. Ein Old Fashioned war immer schon stark.
Jerry Thomas, ein amerikanischer Barkeeper, veröffentlichte 1862 das erste Cocktailbuch mit Rezepten. Sind die noch aktuell?
Thomas steht am Anfang der Cocktailkultur, und seine Erstausgabe bedeutete für mich den Anfang meiner Studien. Klassiker wie der Whiskey Sour oder Sherry Cobbler veralten nicht. Bei seinem Blue Blazer wird brennender Scotch zwischen zwei Gläsern hin- und hergeschüttet, das kommt in jeder dunklen Bar gut. Ein spektakulärer Winterdrink. Den mache ich selbst manchmal auf Partys.
Die Spirituosen waren nicht die gleichen wie heute, und wie viel ein Spritzer ist oder ein Barlöffel voll, hat sich auch verändert. Sind Thomas’ Rezepte denn noch nutzbar?
Rezepte allein sind generell nicht viel wert. Man muss konstant üben. Als ich über Thomas geforscht habe, musste ich alle Geräte sammeln, die damals verwendet wurden, um herauszufinden, wie viel auf einen Barlöffel oder in einen Jigger passte. So kann man sich den Rezepten nähern. Und man muss auch wissen, dass man im 19. Jahrhundert fast ausschließlich mit niederländischem Gin, also Genever gearbeitet hat. Genever schmeckt etwas rauchig und nach Whiskey, Gin eher wie ein Wodka mit Geschmack. Durch die Blockade im Ersten Weltkrieg und die Prohibition wurde Genever in den USA vergessen, und der billigere englische London Dry Gin setzte sich durch. Seit ein paar Jahren ist Genever aber wieder in jeder anständigen Bar zu finden.
Der erste Barkeeper wurde richtig reich.
Aber Jerry Thomas hat mit seinem Geld nicht gut gehaushaltet. Barkeeper ist heute noch ein vergleichsweise gut bezahlter Job. Zu Recht: Sie müssen wie ein Systemmanager fünf Drinks gleichzeitig mixen und dazu noch mit den Leuten kommunizieren. Die Techniken und Rezepte zu beherrschen, reicht bei Weitem nicht.
Wie viele Cocktailrezepte existieren heute?
Sicher 50 000, vorsichtig geschätzt. Jede Bar, jeder Barkeeper hat sein eigenes Rezept. Weltweit anerkannte Rezepturen gibt es vielleicht 200, also Klassiker plus Neo-Klassiker wie Sex on the Beach und vergessene, etwas obskure Klassiker wie der Mamie Taylor von 1900: etwas Scotch mit Limettensaft und Ingwerbier. Der Mamie Taylor ist noch bekannt, auch wenn er nicht überall zu haben ist. Ein wirklich guter Barkeeper kennt diese 200 Drinks auswendig.
Die meisten Cocktails bestehen doch nur aus nur drei Komponenten: Basisspirituose, dazu Saft, Soda, Likör oder versetzter Wein, und ein paar Tropfen eines Bitters.
Aber die Variationsmöglichkeiten sind schier unendlich. Topbars arbeiten auch mit fünf, sechs Bestandteilen, teilweise allerdings nur, um den Preis zu rechtfertigen.
Wie viele Rezepte haben Sie im Kopf?
Nicht annähernd so viele wie ein anständiger Barkeeper. Ich probiere viel aus. Sobald ich mit dem Schreiben fertig bin, frage ich meine Frau, ob sie Lust auf etwas Weiches oder auf etwas mit Gin hat, und lege los. Improvisieren fällt mir leichter als die Rezepte auswendig zu lernen.
So sind wahrscheinlich alle Klassiker entstanden: einfach ausprobieren.
Mit Verstand ausprobieren. Man muss schon wissen, was grundsätzlich zusammenpasst und was nicht. Aber man kann konservativ improvisieren oder verrückt klingende Sachen ausprobieren – was manchmal das Beste ist.
Worin liegt die Schönheit eines Cocktails?
Je einfacher, desto besser – das gilt in der Regel. Es gibt Ausnahmen: Der Zombie ist etwas komplizierter, man muss verschiedene Arten von Rum und gewürztem Sirup verwenden. Schmeckt großartig!
Einer der wenigen Drinks, die nicht aus den USA kommen, sondern aus Polynesien?
Nein, der Zombie ist ein gefälschter Tiki-Drink. Er wurde Anfang der Dreißigerjahre in einem Restaurant in Hollywood erfunden, mit ihm wurde der Trend zum tropisch-polynesischen Bartyp begründet. In der Karibik oder in Polynesien hat man so was nie getrunken, bis heute nicht. Der Zombie war ein Fantasie-Drink, der nicht zufällig in der Traumfabrik Hollywood erfunden wurde.
Sag mir, was du trinkst, und ich verrate dir, wer du bist: Stimmt das?
Einige passen sehr gut in das Klischee, aber dann sehe ich einen großen Kerl in Cowboystiefeln, der Piña Colada trinkt, und die junge Dame mit Perlenkette und einem Scotchglas in der Hand. Oder ich sehe einen Angeber, der penibel auflistet, wie genau er seinen Martini wünscht: ein Grad minus und nur mit jenem Gin – aber manchmal handelt es sich einfach um jemanden, der genau weiß, was ihm am besten schmeckt.
Was verraten Cocktails über eine Gesellschaft?
In Londoner Pubs wird mittags Bier getrunken, in New York trinkt da jeder Cola. In London stehen die Leute nach der Arbeit auf der Straße vor dem Pub und trinken ihr Feierabendbier, bevor sie zum Abendessen nach Hause gehen. In New York wäre das undenkbar, auf der Straße zu trinken ist sogar verboten. In Skandinavien und Deutschland trinken die Menschen enorme Mengen Bier, aber sie tun es gemeinsam und singen sogar dabei. In den USA trinkt man eher allein und spät nachts. Das verrät schon einiges über die Gesellschaft. Der Cocktail ist einfach sehr amerikanisch: Er ist klein, individuell und effizient in der Wirkung. Du gehst in die Bar, und bäng, schon bist du wieder draußen. Man trinkt ihn schnell. Schon immer.
1860 wurde in den USA der erste Cocktail mit Wermut serviert. War das der Zeitpunkt, ab dem die Frauen anfingen zu trinken?
Nein, für Frauen aus der amerikanischen Mittelklasse wurde das Cocktailtrinken erst um 1900 akzeptabel. In Europa hatte es wohl schon früher einige Frauen gegeben, die tranken, ohne Aufsehen zu erregen. In europäischen Cafés saßen Frauen und Männer gemeinsam. Aber die amerikanischen Saloons waren den Männern vorbehalten, Frauen wollte man da nicht haben.
Was sind klassische Frauencocktails?
Frauen tranken alles, was Männer tranken: Martinis, Manhattans, Absinth – alles starker Stoff. Wir reden hier wohlgemerkt von amerikanischen Frauen, die waren stark und vertrugen so einiges.
Tendieren Frauen nicht eher zu süßen Cocktails und Männer zu trockenen?
Nicht die Frauen, die ich kenne. Und meine eigene ganz bestimmt nicht. Vielleicht war das vor zwanzig, dreißig Jahren so.
Wann kamen die ersten Cocktailkirschen ins Glas?
1890. Man begann mit importierten Maraschino-Kirschen und ging bald zu billigen Imitaten über. In meiner Nachbarschaft hier in Brooklyn lag die größte Cocktailkirschenfabrik der USA: Dell’s. Hier leben auch eine Menge Hipster-Imker, ihr Honig war lange rosafarben, weil die Bienen sich in der Fabrik immer irgendwo über Kirschsirupreste hermachten. Das ist jetzt vorbei. Letztes Jahr rückte die Steuerfahndung in der Fabrik an, zufällig entdeckte man eine Mari-huanaplantage auf dem Gelände. Der Besitzer soll gleich auf die Toilette gegangen sein und sich erschossen haben.
Benutzen Sie Cocktailkirschen?
Selten. Ein befreundeter Barkeeper legt sie selbst ein und gibt mir immer ein Glas ab, das hält bei mir lange. Ich habe Ihnen ja noch gar nichts zu trinken angeboten!
Wir sind auch noch nicht fertig. Ich dachte, Sie trinken erst nach der Arbeit?
Aber wenn wir darüber reden, müssen wir trinken. Ich hätte immerhin einen Single Malt oder einen 17 Jahre alten Japaner da.
Bitte den Japaner. Warum halten die Japaner die amerikanische Barkultur heute am strengsten hoch?
Japan war nach dem Krieg lange besetzt und hat eine Tradition des Nachahmens entwickelt. Aber Italiener und Franzosen haben den perfekten Service ebenfalls immer befolgt, auch als im Rest der Welt die Barkultur in den Sechzigern und Siebzigern in Vergessenheit geriet. Das New York Magazine wollte Anfang der Siebzigerjahre in Manhattan mal messen, wie viel Alkohol im Schnitt in einer Bloody Mary ausgeschenkt wird, und nahm Proben in vielen Bars. Der Alkoholgehalt war lächerlich gering, in einer Bloody Mary war sogar kein bisschen Wodka enthalten. Man hat damals viele klassische Rezepte verwässert. Ein Cocktail mit Chartreuse und Ananassaft wurde im Verhältnis eins zu sechs gemischt, schade um den Chartreuse. Das wäre heute alles undenkbar. Man trinkt wieder viel härter. Charles Schumann war Anfang der Neunzigerjahre mit seinem Buch American Bar übrigens einer der Ersten, der auch in den USA wieder daran erinnerte, was wirklich wichtig ist.
Warum gilt der Martini als König der Cocktails? Es gibt viele Bücher, die sich allein mit seiner richtigen Zubereitung befassen.
Der Martini war in den Siebzigern der letzte Überlebende, als niemand mehr die Klassiker kannte und man nur Piña Colada trank.
Mögen Sie Martinis?
Ich liebe sie. Aber ich probiere alles aus, besonders wenn ich auf Reisen bin. Pisco Sour in Peru, Aperol Spritz in Italien. Ich kaufe auch Flaschen, wenn sie mich interessieren. Zu Hause habe ich Hunderte herumstehen.
Warum spricht man heute vom zweiten goldenen Zeitalter der Cocktailbars?
1999 gab es in Manhattan zwei anständige Bars, in denen klassische Cocktails serviert wurden, heute sind es sicher 150. In Zeiten der Krise trinken die Menschen einfach mehr, und sie haben auch das Verlangen, auszugehen. Der 11. September war da sicher der Auslöser, danach blieb niemand mehr zu Hause. Ein anderer Grund: Der Cocktail ist ein Gegenentwurf zur Globalisierung. Er wird individuell gemixt, in Handarbeit, man kann sogar zusehen.
Was ist der aktuelle Trendcocktail in New York?
Negroni.
Und was ist zuletzt aus der Mode geraten?
Absinth. Sobald es legal war, ihn zu kaufen, verloren die Leute ihr Interesse daran. Vorher war er Kult gewesen. Aber er ist gut und sinnvoll, ich gebe in viele Cocktails einen Spritzer.
Wer setzt die Trends?
Es ist eine Rückkopplung zwischen Verbrauchern, Produzenten und Barkeepern.
Warum ist Mescal plötzlich so in Mode?
Er ist gut, aber das war er schon immer. Er wird aus Agaven gemacht, in kleinen Mengen, von der indigenen Bevölkerung Mexikos in Handarbeit auf dem Land – daher gibt es unglaublich viele Marken. Das entspricht dem Slowfood-Gedanken, einer Bewegung weg von der industriellen Nahrungsproduktion.
Was wird der nächste Trend sein?
Keine Ahnung. Ich interessiere mich derzeit sehr für deutschen Korn. Der ist ein altes Getreidedestillat, manchmal im Fass gelagert, leichter im Geschmack als die meisten Whiskeys, aber reicher als Wodka. Deutscher Korn ist das Missing Link zwischen Whiskey und Wodka.
Probieren Sie in Cocktails auch moderne Schäume und Salzlösungen aus?
Sofern es nicht der Eitelkeit des Barkeepers dient, bin ich für alles aufgeschlossen.
Sind Cocktails gefährlicher als reiner Schnaps?
Nein. Whisky und Bier können in der Kombination auch sehr gefährlich sein. Ich mag das, aber man muss wirklich vorsichtig damit umgehen.
Wären Ihnen ein Single Malt oder ein teurer Cognac zu schade zum Mixen?
Definitiv. Aber Cocktails mit teurem XO-Cognac sind es manchmal wert: Beim Sidecar sollte man den guten Cognac durchschmecken können.
Der perfekte Schlummertrunk vor dem Schlafengehen?
Ein ganz kleiner Cognac.
Ihr Kater-Rezept?
Prairie Oyster. Wirkt ganz wunderbar.
War Ihnen nie ein Drink zu eklig?
Doch, in Laos sollte ich einen Schnaps mit einem Tausendfüßler darin und einen anderen mit Schlange probieren. Der mit Tausendfüßler schmeckte nach Insektenspray, da ahnte ich, wie das Tier erlegt worden war, und nahm nur einen Tropfen. Für die Schlange war der Alkohol offenbar nicht stark genug, sie roch halb verwest. Das war der einzige Drink, den ich je verweigert habe.
Jerry Thomas mit dem brennenden Blue Blazer
4 cl Whisky, 4 cl heißes Wasser, 1 Stück Würfelzucker, 1 Prise Muskatnuss
John Collins
2 cl Zuckersirup, 3 cl Zitronensaft, viel Sodawasser, 5 cl Blended Whisky oder Gin
Mamie Taylor
6 cl Bourbon oder Scotch, 2 cl Limettensaft, aufgießen mit Ginger Ale
Manhattan
4 cl Bourbon oder Rye Whiskey, 1–2 Spritzer Angostura, 2 cl Wermut
Pina Colada
4 cl weißer Rum, 8 cl Ananassaft, frisches Kokoswasser, 1 Spritzer Zucker
Prairie Oyster
2 cl Olivenöl, 4 Barlöffel Ketchup, 1 Spritzer Tabasco, 2 Spritzer Worcestersauce, 1 cl Sherry, 1 Prise Salz, 1 Prise Pfeffer, 1 Eigelb
Sazerac
1 cl Zuckersirup, 1 cl Absinth, 3 Spritzer Bitter, 6 cl Cognac oder Rye Whiskey
Sherry Cobbler
6 cl Sherry dry, 1 cl Zuckersirup, lange Zitronenzeste, Früchte zum Dekorieren
Sidecar
2 cl Cointreau, 3 cl Zitronensaft, 5 cl Cognac
Zombie
4 cl brauner Rum, 4 cl weißer Rum, 2 cl Rum Overproof, 2 cl Cointreau, 2 cl Grenadine, 4 cl Ananassaft, 4 cl Orangensaft, 2 cl Zitronensaft
Foto: Jeremy Liebman; Illustration: Danilo Agutoli