Die Suppe war dünnflüssig, ungesalzen und hatte die Farbe einer Matschpfütze. Ich nahm mehrmals nach. Die fremden Menschen um mich herum taten es mir gleich. Wir waren zu acht, fünf Frauen, drei Männer. 24 Stunden lang hatten wir nichts mehr gegessen und waren die ersten zwölf Kilometer gewandert.
Jetzt am Abend erlebten wir den Höhepunkt des ersten Tages unserer »Fasten-Wanderwoche«: die Fastensuppe. Zumindest sieben von uns. Wir warfen Petersilienblätter in die Matschpfütze, und als die ersten Löffel in unseren Mündern verschwanden, machten wir »Mmmmh« und versicherten uns gegenseitig: »Das tut gut!« Nur einer von uns, ein Mann um die 50, schien noch bei Verstand zu sein. Er saß vor seinem leeren Teller und sagte: »Ich kotze fast, wenn ich Fastensuppe nur riechen muss.«
Noch heute, rund fünf Jahre später, erinnere ich mich an meine Fassungslosigkeit über seine Worte. Wie konnte er freiwillig auf die Fastensuppe verzichten? Das einzig »richtige« Essen in diesen Tagen überhaupt? Der Mann sagte, er habe schon viele Male gefastet und sei der Fastensuppe einfach überdrüssig. Dieser fast salzlosen Gemüsebrühe, die eigentlich keine Suppe im engeren Sinne ist. Die Fastensuppe darf nicht cremig sein und keine festen Bestandteile enthalten. Denn jedes Stück Gemüse, jede kleinste Nudel oder sogar Fleisch, so erklärte uns die Fastenleiterin, würde unsere Magensäfte befeuern, den Blutzucker in die Höhe treiben und uns letztlich hinab in ein Hungerloch reißen.
An meinem ersten Fastentag bemitleidete ich den Mann wegen seines leeren Tellers. Ich hatte keine Ahnung.
Was, fragte ich mich, würde von mir übrig bleiben, wenn Magen und Darm fast vollständig leer sein würden?
Das Heilfasten nach Buchinger zählt zu den extremsten aller Fastenformen. Gerade einmal durchschnittlich 300 Kilokalorien pro Tag sind erlaubt. Um die zu erreichen, waren damals, während meiner allerersten Fastenwoche, neben der »Suppe« auch etwa 150 Milliliter Fruchtsaft erlaubt, verdünnt mit so viel Wasser, dass er schmeckte wie zu kurz gezogener Tee.
Wir alle versprachen uns einiges von den sieben Tagen Fastenwandern. Eine ältere Frau suchte nach Linderung ihres Rheumas, eine junge Buchhalterin nach einem Neustart wegen einer Trennung und ich ein Stück weit nach mir selbst. Zwar war ich nicht krank, doch spürte ich Anzeichen dafür, dass Geist und Körper einen Reset nötig hatten: Rückenschmerzen, die chronisch zu werden drohten, ständige Müdigkeit und das Gefühl, nach einem normalen Bürotag vollkommen ausgebrannt zu sein. Was, fragte ich mich, würde von mir übrig bleiben, wenn Magen und Darm fast vollständig leer sein würden?
Zeitweiser Nahrungsverzicht gilt in der Medizin längst als kleines Wundermittel. Fasten senkt nicht nur den Blutdruck, sondern lindert auch Arthrose, Allergien, Darm- und Hautkrankheiten oder Migräne. Manche Forscherinnen und Forscher sagen, kein Ereignis verändere das Feingefüge des Stoffwechsels so stark wie Fasten. Nicht einmal eine Schwangerschaft oder eine schwere Herzoperation. Nur das Sterben.
Tagsüber strichen wir durch die Wälder Süddeutschlands, rochen an Kräutern und nippten an unseren Fruchtsäften. Unser Wanderleiter sagte, Fastenwanderer seien immer etwas ernster als normale Wanderer, und es würden sich viel schneller tiefgründige Gespräche entwickeln. Ich erinnere mich an eine Teilnehmerin, die erzählte, wie sie einen Witwenstammtisch gegründet und damit nicht nur sich selbst, sondern auch andere gerettet hatte. Oder an den stillen Kerl, der während einer unserer Wandertage plötzlich laut »Stopp!«, rief und behutsam einen Käfer vom Wanderpfad hob, damit wir ihn nicht zertraten. Und an die Frau, die ein wundervolles Ritual verfolgte: Während Pausen legte sie manchmal Zeigefinger und Daumen beider Hände so aufeinander, dass diese ein Viereck formten. Sie kniff ein Auge zusammen und schaute mit dem anderen durch diesen kleinen Ausschnitt hindurch. Sie sagte, das helfe ihr, aufmerksamer zu sein für die kleinen Schönheiten der Welt.
Der volle Kopf, die schmerzenden Gelenke, die schwere Seele: Alles wurde bei uns ein bisschen besser während dieser Tage. Nur eines nicht: das Suppe-Essen. Es muss am dritten Tag gewesen sein, dass ich begann, immer mehr Petersilie in die Brühe zu werfen – nicht wegen des Hungers, sondern in der Hoffnung, den Geschmack von Pastinake und diversen Kohlarten zu überdecken. Als eine Teilnehmerin meinte, der Geschmack erinnere sie an »kalten Furz«, wurde mir ein bisschen übel. Nach den Fastentagen war ich froh, die Suppe los zu sein.
Die nächsten Wochen fühlte ich mich deutlich fitter, hatte vier Kilo verloren und war vor allem sehr wach. Noch Monate später brauchte ich weniger Schlaf und fühlte mich häufiger im Augenblick angekommen. Ich war zufrieden. Ich wollte mehr.
Fast fünf Jahre lang konnte ich danach keine Gemüsebrühe mehr essen.
Ein halbes Jahr später stand ich in meiner Küche, schnitt Knollensellerie und Weißkohl, Petersilienwurzeln und Zwiebeln. Ich hielt mich an das Rezept, das uns die Fastenleiterin mitgegeben hatte. Ab dem Folgetag würde ich erneut fasten, diesmal zu Hause statt in einer Gruppe. Mein Mann hatte sich bereit erklärt, mitzumachen. Sieben Tage ohne Nahrung hatten wir uns vorgenommen.
Tagsüber umrundeten wir im Nieselregen die Hamburger Binnenalster. Abends löffelten wir schweigend die Fastensuppe. Am dritten Tag weigerte sich mein Mann, auch nur einen Löffel mehr davon zu essen. Und auch ich konnte mir nicht länger einreden: Alles ist gut. Die Matschpfütze schmeckte einfach nicht. Kurz probierten wir Gemüsebrühe aus dem Glas, doch letztlich gaben wir das Suppe-Löffeln ganz auf. Fast fünf Jahre lang konnte ich danach keine Gemüsebrühe mehr essen. Nicht in Eintöpfen, nicht in Currys und pur schon gar nicht. Fünf Jahre sollte es dauern, bis ich mein Gemüsebrühen-Trauma überwand.
Es ist Frühjahr 2024, und ich sitze in einem Hotel an der Ostsee. Die Fastenerfolge sind nach vollgepackten Arbeitsjahren, einer Geburt und unzähligen durchwachten Nächten Vergangenheit. Der Plan: noch einmal Fastenwandern, wieder in einer Gruppe.
Während des ersten Ausflugs ans Meer muss ich daran denken, was uns unser Wanderleiter vor fünf Jahren sagte, nachdem er erzählt hatte, Fastenwanderer seien ernster als normale Wanderer. Der noch größere Unterschied sei, sagte er, dass normale Wanderer essen. Fastenwanderer sprechen dagegen die ganze Zeit übers Essen. Jetzt an der Ostsee habe ich haufenweise Links von Köstlichkeiten an die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen verschickt und von ihnen empfangen. Bald sprechen wir auf langen Spaziergängen am Meer zwar auch über unsere Gefühle, aber vor allem über die Notwendigkeit eines Thermomix. Isst man nicht, ist das Essen überall. In der Hand des eisschleckenden Touristen, im Obstkorb der Hotellobby – und im Fernsehen scheint jeder Kommissar gerade von seinem Brötchen abzubeißen.
Wieder sagen wir »Mmmh« und »Das tut gut!« Aber diesmal stimmt es.
Am Abend des ersten Tages laufen Kellner in schicken Westen an den langen Tisch unseres Aufenthaltsraums. Über ihren Unterarmen hängen gestärkte Servietten, während sie jedem von uns einen Teller dampfender Brühe vor die Nase stellen. Die Brühe leuchtet hellgrün. Wieder verschwinden die ersten Löffel schnell in den Mündern, wieder sagen wir »Mmmh« und »Das tut gut!« Aber diesmal stimmt es. Ich schmecke Lauch, Ingwer, vielleicht etwas Dill? Am nächsten Abend wieder der Auftritt der Kellner wie in einem edlen Restaurant. Diesmal schimmert die Suppe in zartem Orange, der Duft von Muskat steigt in meine Nase. Das Highlight aber, so erzählt es mir unser Fastenleiter Stefan Möller später, hebt er sich immer bis fast zum letzten Tag auf, »damit man das Fasten in guter Erinnerung behält«: die Tomaten-Paprika-Brühe. Ein Gebräu aus ausgekochten Fleischtomaten, Paprikaschoten und einem ordentlichen Löffel Tomatenmark. Als ich nach sieben Tagen abreise, bin ich nicht nur wacher, ausgeglichener und deutlich dünner, sondern habe auch die Gewissheit gewonnen, dass Gemüsebrühen nicht nach altem Furz schmecken müssen.
Seit 20 Jahren arbeitet Möller als Fastenleiter. Früh hat er verstanden, dass die Fastensuppe zum wichtigsten Moment des Tages werden kann. Immer wieder experimentiert er in seiner häuslichen Küche, um diese Suppe zu perfektionieren. Es gilt ein empfindliches Gleichgewicht einzuhalten: Gewürze ja, aber nicht so viel, dass sie den Appetit anregen. Die Rezepte hängt er während der Fastenzeit in die Hotelküche. Und immer isst er einen Teller gemeinsam mit den Fastenden, »zur Qualitätskontrolle«. Möller schmeckt sofort, wenn eine Fastensuppe zu viel Wasser enthält oder der Koch es mit dem Liebstöckel übertrieben hat.
Bei seiner beliebtesten Suppe, der Tomaten-Paprika-Brühe, hat Möller etwas geschafft, was Profiköche als Geheimtipp empfehlen, nicht nur bei Fastenbrühen, sondern auch bei ganz normalen Gemüsebrühen: Er hat ihnen eine Umami-Note verliehen. Diesen herzhaft-würzigen Geschmack bekommen Gemüsebrühen zum Beispiel, wenn man etwas Tomate mitkocht oder einfach einen Löffel Miso in die Brühe gibt. In einer der berühmtesten Fastenkliniken überhaupt, der Klinik Buchinger Wilhelmi am Bodensee, haben sie den Umami-Geschmack in den Fokus gerückt, alle anderen Gemüsearten weggelassen und eine Champignon-Steinpilz-Brühe entwickelt, die mit etwas mehr Salz wie eine normale Gemüsebrühe verwendet werden kann. (Für alle Interessierten: 20 Gramm getrocknete Steinpilze mindestens eine Stunde lang in einem Liter Wasser einweichen. 400 Gramm in Scheiben geschnittene Champignons ohne Fett andünsten, immer wieder umrühren. Wenn sich am Topfboden ein leicht brauner Belag bildet, mit dem Liter Wasser samt den Steinpilzen auffüllen. 100 Gramm geschnittene Kartoffeln hinzugeben. Eine Stunde kochen lassen. Fünf Minuten vor Kochende etwas Salz und einen kleinen Zweig Rosmarin dazugeben. Zweig entnehmen und den Rest pürieren. Mit 1,5 Liter Wasser auffüllen und mit frisch gehacktem Thymian und etwas Pfeffer abschmecken.)
Die Angst vor der Fastensuppe habe ich verloren. Nächstes Jahr will ich mich erneut aufmachen, eine Woche auf Nahrung zu verzichten. Und neulich in einer Fußgängerzone habe ich an das Ritual gedacht, das die Teilnehmerin während meiner ersten Fastenwanderwoche zelebrierte. Ich hatte es lange vergessen, weil ich meine ersten Fasten-erlebnisse vor allem mit der Matschpfütze verband. Ich setzte mich auf eine Bank, formte aus Daumen und Zeigefinger ein Viereck und schaute hindurch.