Die gleiche Prozedur wie letztes Jahr? Die um den großen Tisch auf einem Balkon in Aix-en-Provence versammelten Personen nicken andächtig: Die gleiche Prozedur wie jedes Jahr! Zumindest seit jenem Frühjahr 1997, als unser Freund Yves Bridonneau, bis dahin Buchhändler im XIX. Arrondissement von Paris, seinen Laden verkaufte und fortzog in die Provence – um dort Tomaten zu züchten.
Natürlich hat Yves das anders begründet. Vom »milden Klima« des Südens war die Rede, von »besserer Luft zum Atmen«, von »mehr Lebensqualität« durch »weniger Stress«. Aber seine großen Worte täuschten niemanden. Wir wussten, im Grunde ging es um kleinere Dinge, die jedoch alle zusammen die französische Art de vivre definierten. Deren Dahinsiechen bewegte Yves, wie so viele Pariser in jenen Tagen, zu der immer wiederkehrenden Klage: »Il n’y a plus de vraies tomates!« – »Es gibt keine richtigen Tomaten mehr!«
Tatsächlich waren die roten Wasserbomben in den Auslagen der Supermärkte zum Pars pro Toto geworden. Zum Symbol für die Geschmacklosigkeit einer Ära. In Frankreich, wo seit Ewigkeiten gemault wird, weil niemand mit nichts zufrieden ist, in einem Land, wo einst der liebe Gott lebte und Gottlose die Guillotine erfanden, hat der Volkszorn gegen Ende des 20. Jahrhunderts daher ein neues Thema gefunden: die Forderung nach »echten« Tomaten.
Wobei dieses »echt« nicht ganz stimmt. Ursprüngliche Tomaten haben nur Inkas, Mayas und Azteken konsumiert, bevor ihre Heimat, von Peru bis Mexiko, in die Hände der Konquistadoren geriet. Den weißen Weltenherrschern war die Xitomatl gar nicht nach dem Geschmack. Sie hielten sie sogar für giftig. Aber auch für schön, in ihrem satten Rot und Orange. Aus dem gleichen Grund soll schon Kolumbus die Tomatenstaude auf seinem Schiff mit in die alte Welt gebracht haben, als Zierpflanze. Dass die Tomate auf unseren Tellern landete, haben wir den Italienern zu verdanken. Sie begannen mit gezielter Zucht. Durch Kreuzung verfeinerten sie den Geschmack der Xitomatl in einem solchen Maße, dass die Resultate bald ihrem italienischen Namen pomodoro (Goldapfel), gerecht wurden.
Und nun wurde also der Pariser Buchhändler Bridonneau zum Gralsritter Yves, unterwegs auf der Suche nach verloren gegangenen Genüssen der, wenn nicht »echten«, so doch zumindest herkömmlichen Tomaten. Und wir, seine Freunde, vergessen mitunter Yves’ Geburtstag. Aber wann genau im Juni die ersten Tomaten auf seinen Tisch kommen – darüber sind stets alle erstaunlich gut informiert.
Also die gleiche Prozedur wie jedes Jahr: »Bon appétit, mes amis!«, ruft der Hausherr. Seine Frau Annick füllt noch schnell die Gläser mit eisgekühltem Rosé. Dann schießen alle Hände zu der im Zentrum der Tafel platzierten Schale. Auf ihr liegen die Kostproben aus Yves’ mittlerweile 17. Ernte, in den verschiedensten Farben und Formen.
Womit anfangen? Mit einer dicken Scheibe Cœur de bœuf, deren Fleisch so saftig und fest ist, als wäre es tatsächlich vom Rind? Oder mit der gerade in Mode kommenden Verna Orange, die der Rinderherz-Tomate in ihrer fleischigen Konsistenz ähnelt? Eine kleine Green Zebra, die Grüne mit gelben Streifen? Oder doch eher die Noire de Crimée, die nicht wirklich schwarz ist, sondern auberginefarben? Und wie mag wohl die cremefarbene Beauté blanche du Canada schmecken? Die ist in diesem Jahr zum ersten Mal dabei.
Die auffälligste Tomate auf der Schale ist die Paul Robeson, benannt nach einem afroamerikanischen Sänger und Footballspieler, der in den Fünfzigerjahren für Bürgerrechte kämpfte und daher in der McCarthy-Ära als »Kommunist« gebrandmarkt wurde. Schwarz und rot ist dementsprechend die Tomate.
Ich beschließe: von jeder Sorte eine Scheibe. Solche Tomaten sollte man pur genießen, nur im Verbund mit frischem Baguette, Fleur de sel – knuspriges Meersalz aus der Bretagne oder der Camargue – und bestem Olivenöl. Auf dem Tisch stehen zwei Öle zur Auswahl. »In dem einen«, erklärt Annick und rückt die Flasche in meine Reichweite, »mazeriert eine Stange Madagaskar-Vanille. Hat ein berühmter Chefkoch erfunden!« Totale Schnapsidee, finde ich und wähle das andere Öl. Hergestellt von Mönchen eines Benediktinerklosters am Fuß des Mont Ventoux, steht auf der Flasche.
Dann kommen wir endlich zum Wesentlichen. Das Schmecken von »echten« Tomaten erinnert mich immer an eine Weinprobe. Das erste Stück Cœur de bœuf auf der Zunge ist wie der erste Schluck aus einem Glas mit kräftigem Bordeaux, etwa einem Saint-Emilion: gut strukturiert und mit lange nachklingendem Geschmack. Die Verna Orange, auch sehr stark im Geschmack, aber süßer und fruchtiger, lässt mich an einen typischen Bourgogne denken. Der Geschmack von schwarzen Tomaten – wie Noire de Crimée und Paul Robeson – zeichnet sich durch Nuancen aus, die so zart und leicht sind wie jene eines Côtes du Rhône. Blanche du Canada und Green Zebra zerschmelzen auf der Zunge, ich denke gleich an Champagner.
Doch zurück zur Prozedur. »Erzähl von den Anfängen!«, fordert einer in der Tafelrunde mit vollem Munde. Und Yves erzählt. Davon, wie er 1997 zunächst das Haus bei Saint-Maximin-la-Sainte-Baume kaufte, eine Autostunde nordöstlich von Marseille. Im Garten gab es zwischen vielen Olivenbäumen noch Platz für ein Tomatenfeld. »Von da schweifte mein Blick bis zur Montagne Sainte-Victoire, dem Kalksteinberg, der Cézanne derart faszinierte, dass er ihn mehr als achtzig Mal auf die Leinwand bringen musste. Ich mag Cézanne nicht.«
Wieder ruft ihn einer zur Ordnung: »Du hast noch nicht von den ersten Tomaten erzählt!« Auch diese Geschichte ist seit Jahren allen hier am Tisch bekannt. Aber auch sie gehört zur Prozedur: Auf einem provenzalischen Wochenmarkt begegnete Yves einem Bauern namens René Caramella. Der rauchte dicke Zigarren und züchtete Tomaten, über die er mit großer Hingabe redete, stundenlang. Über Sorten mit überwiegend amerikanischen Namen, wie Brandywine, Purple Calabash, Pink Ponderosa, Mikado Violettor, Lemon Boy, Kaki Coing, Black Pineapple, Gregori Altaï. Yves erzählt: »Kurze Zeit darauf besuchte ich Caramella in seinem Dorf und kaufte, seinen Ratschlägen folgend, die ersten Setzlinge. Im Frühjahr darauf besuchte ich ihn wieder. Um andere Sorten auszuprobieren. Und so weiter. Bis zu seinem Tod. Er war ein gutherziger Mann.«
Später verkauften die Bridonneaus das Haus mit Cézanne-Blick und zogen in die-se Wohnung am Rande von Aix. Seither borgt sich Yves Land von Freunden, mal hier, mal dort, je nachdem, wer gerade eine Parzelle frei hat. Die Tomaten, die wir an diesem Abend verzehren, sind Teil der ersten Ernte von einem Feld, das zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt liegt.
Am nächsten Morgen fahren wir hin. Les Platanes heißt der Ort. Die Julihitze duftet nach gemähtem Gras, Oleanderbüsche blühen, seitlich unseres Weges durch den Garten einer alten Villa hängen reife Mirabellen. Das Tomatenfeld liegt im hintersten Teil des weitläufigen Grundstücks, dahinter liegt nur noch buschige Wildnis. Derzeit kommt Yves alle zwei Tage vorbei, um zu ernten, zu bewässern, vor allem aber, um zu prüfen, ob seinen Pflanzen in der Zwischenzeit nichts zugestoßen ist. In der Provence haben Tomatenstöcke dieselben Feinde wie Rebstöcke: Wildschweine und Mehltau. Mehltau ist ein Schimmelpilz, der die Pflanzen in Rekordzeit tötet.
Aber heute gibt es nur Gutes festzustellen. »In unserer Gegend bekommen Tomaten 16 Stunden Sonne am Tag«, prahlt Yves, als wäre ihm die provenzalische Wetterkarte zu verdanken. »Daher ihr hoher Zuckergehalt und der fruchtige Geschmack. Bisher wuchs in dieser Ecke des Gartens nur Unkraut. Deshalb steckt der Boden voller Nährstoffe.« Ich sehe das Ergebnis: 72 Stöcke, verteilt auf acht Reihen, mit 33 verschiedenen Sorten. Manche Zweige mussten schon gestützt werden: Einige der Früchte, die wie Weihnachtskugeln an ihnen hängen, wiegen mehr als ein Kilo pro Stück.
In der Provence beträgt die Erntezeit für Tomaten fast fünf Monate, von Mitte Juni bis Anfang November. Im nördlichen Frankreich sind es nur drei Monate. Ausgehend von den Mengen, die Yves in den ersten Wochen dieses Sommers gepflückt hat, kann er, sofern ihm nicht die Wildschweine dazwischenkommen, mit einer Jahresernte von rund 500 Kilo rechnen. Dabei ist sein Tomatenfeld in Les Platanes kaum größer als sein Wohnzimmer in Aix.
Bedenkt man dazu, dass der jährliche Tomatenkonsum der Franzosen bei 35 Kilo pro Kopf liegt, inbegriffen Saucen und Suppen, ergibt sich folgende Erkenntnis: Eine überschaubare Zahl von privaten Züchtern könnte ein ganzes Volk davor bewahren, die roten Wasserbomben aus den Super-, Mega- und Hypermärkten zu konsumieren – jedenfalls im Sommer, der Jahreszeit für Tomaten in dieser Gegend.
Wie kam es eigentlich zu diesen Wasserbomben? 1950 verzehrte die Menschheit zehn Millionen Tonnen Tomaten, heute sind es mehr als 160 Millionen Tonnen in einem Jahr. Das macht die Tomate zur meistgegessenen Frucht der Welt. Stuft man sie – aufgrund ihrer überwiegenden kulinarischen Verwertung für Salate – als Gemüse ein, rangiert sie in dieser Tabelle weltweit an zweiter Stelle, gleich hinter der Kartoffel.
Das bedeutet, dass seit einem guten halben Jahrhundert ein Haufen Geld zu machen ist mit Tomaten – sofern sich deren Produktion an die Auflagen von Vertrieb und Verkauf hält. Diese besagen, dass alle für den modernen Markt bestimmten Tomaten einer Sorte gleich groß sein müssen. Denn sie haben akkurat und effizient in ihre Transportkisten zu passen.
Und weil die Reise zu immer weiter entfernten Verkaufszentren irgendwann länger dauerte als die Haltbarkeit normaler Tomaten, mussten diese eine dickere Haut bekommen. So konnten sie auch 15 Tage nach der Ernte noch »frisch« im Supermarkt liegen. Tomaten wie jene, die einst aus den Gemüsegärten unserer Großeltern kamen, halten sich nach dem Pflücken vier bis fünf Tage, dann werden sie sehr schnell matschig.
Die Anpassung der Tomate an die Bedürfnisse des Marktes ließ nach Ansicht jener, die daraus ihre Gewinne schöpften, nur einen Weg zu: F1-Hybridisierung, das heißt die Kreuzung zweier samenfester Sorten in erster Generation. Mit dem Ziel, in den Hybriden nur die vom Vermarkter gewünschten Eigenschaften zu erzeugen, also in erster Linie Uniformität in Größe, Farbe, Form und Festigkeit. Der Geschmack solcher Tomaten wurde zur Nebensache.
Erst recht mit dem Übergang zur »bodenunabhängigen« Produktion Anfang der Neunzigerjahre. Seither gedeihen Gewächshaustomaten auf engstem Raum und ohne Berührung mit der Erde. Sie wurzeln in Steinwolle oder Kokosfasern. Der Ertrag pro Quadratmeter ist durch diese Anbauweise, die wie ein botanisches Pendant zu Legehennenbatterien anmutet, auf das Fünf- bis Zehnfache gestiegen. Seit solche Wassertomaten die Supermärkte überfluten, trösten wir alten Freunde von Yves uns mit den sommerlichen Tischrunden in der Provence. Natürlich hätten wir dieses Glück gern mit der Welt geteilt. 1998 brachte Yves, beseelt von der Qualität seiner zweiten Ernte, eine Kiste Tomaten aus dem Garten bei Saint-Maximin zu einem Gemüsehändler in Aix. Der Mann wollte versuchen, sie seiner städtischen Kundschaft schmackhaft zu machen. Doch all die schönen Cœur de Bœuf, Brandywine, Black Pineapple, Noire de Crimée verfaulten in der Kiste. Niemand wollte sie. Weil diese Produkte nicht gleich groß, gleich rund, gleich rot waren, wirkten sie in den Augen der Städter nur unappetitlich. Andererseits: Wie hätten wir jemandem einen Vorwurf daraus machen können? Zumindest die nach 1980 Geborenen haben möglicherweise noch nie eine richtige Tomate gegessen. Und man vermisst ja nicht, was man nicht kennt.
Woher auch? In Frankreich führt die staatliche Saatgutkontrollbehörde GNIS ein Verzeichnis von »legalen« Tomatensorten. Das heißt von solchen, die kommerzialisiert werden dürfen. Diese Liste schrumpft seit Jahrzehnten. 1954 standen 876 Sorten darauf, heute sind es noch 182. Doch auch davon schaffen es nur sehr wenige Sorten bis in die Läden, allen voran die berüchtigte Hollandtomate.
Die großen Gewinner dieser Schlankheitskur sind die Agrochemie-Giganten Monsanto, Syngenta und Limagrain. Diese drei Konzerne, so wird allgemein angenommen, beherrschen bereits drei Viertel des Saatgutmarktes. Die US-Firma Monsanto, berüchtigt für ihre Methoden, noch den ärmsten Bauern weltweit teures transgenes Getreide und Gemüse aufzuzwingen, möchte den Schweizer Konzern Syngenta schlucken, und hat dafür 45 Milliarden Dollar geboten. »Wer das Erdöl kontrolliert«, sagte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, »der beherrscht die Staaten. Wer die Nahrungsmittel kontrolliert, der beherrscht die Völker.«
Vor zwei Jahren sah es schon so aus, als beuge sich auch Europa der Industrie. Im Mai 2013 veröffentlichte die EU-Kommission ihre neue Saatgutverordnung. Diese erhob Industriepflanzen zur Norm. Alte und seltene Landsorten von Gemüse, Getreide und Obst wurden als wertlos eingestuft.
Doch in einigen EU-Ländern, besonders in Österreich, entfachte der Brüsseler Lobbyisten-Coup den Volkszorn. Fast eine Million EU-Bürger unterzeichneten Petitionen gegen die Brüsseler Verordnung. Mit Erfolg: Im März 2014 wurde die Vorlage vom EU-Parlament abgewiesen. Im Februar 2015 zog die Kommission das Papier zurück.
Gewiss wird die Industrie nicht lockerlassen. Ihre F1-Hybriden – die die Tomatenbauern nicht selbst vermehren können und deren Saatgut daher jedes Jahr aufs Neue gekauft werden muss – dulden keine Konkurrenz seitens der Natur. Am besten also, alle »echten« Sorten, die in Frankreich unter dem Namen tomates anciennes laufen, sterben aus.
Der schillerndste Gegner dieser Vision dürfte Prinz Louis Albert de Broglie sein. »Wir werden alles tun, um der Menschheit die tomates anciennes zu erhalten«, verspricht er. Der Prinz besitzt das Château de la Bourdaisière an der Loire. In den vergangenen 23 Jahren hat er in seinem Schlossgarten das Conservatoire de la Tomate angelegt: die mit 658 samenfesten Sorten größte Tomatensammlung der Welt. Er ist kein Spinner, sondern ein international angesehener Mann.
»Irgendwann«, prophezeit de Broglie, »wird dieser Industriewahnsinn in der Landwirtschaft sein Ende nehmen müssen. Und dann werden sich die Menschen auch wieder auf den wahren Geschmack dieser herrlichen Frucht besinnen. Hier im Konservatorium können sie alles finden, was für den Wiederaufbau einer echten Tomatenzucht vonnöten ist.«
An jedem zweiten Septemberwochenende veranstaltet das Konservatorium ein Festival de la Tomate. Tausende von Besuchern wandeln dann auf den gepflegten Parkwegen zwischen üppigen Tomatenstöcken. Nicht nur, um die 658 Sorten in ihrer natürlichen Reifezeit zu bewundern, sondern vor allem, um zu kosten.
Und die Industrie? »Sie versucht den derzeitigen Geschmacks- und Gemütswandel bei vielen Verbrauchern für sich zu nutzen«, glaubt Nicolas Toutain, der junge Chefgärtner im Reich des Tomaten-Prinzen: »In den Supermärkten tauchen neben gewöhnlichen Industrietomaten nun immer häufiger Cœur de bœuf und Noire de Crimée auf. Zu erheblich höheren Preisen, versteht sich. Dabei sind diese angeblichen Bio-Sorten auch wieder nur Fälschungen. F1-Hybriden aus den Laboren der Industrie. Im Innern der einen finden Sie statt saftigem Fleisch klaffende Löcher. Und beim Hineinbeißen in die andere läuft Ihnen das Wasser nicht im Munde zusammen, sondern außen am Kinn herunter.«
Sicher ist, dass meine Freunde und ich auch im nächsten Jahr wieder am Tisch von Yves Bridonneau sitzen werden. Bis dahin will Yves sein Buch veröffentlicht haben: Petit traité savant de la tomate, Eine kleine Tomatenkunde.
Fotos: Stephanie Füssenich