Wer Opa wirklich war

Was weiß man wirklich über seinen Großvater? Meist nur das persönliche Erlebte und eine Hand voll Geschichten. Unsere Autorin hat eine Offizierskiste aus dem Zweiten Weltkrieg voller Briefe ihres Opas geerbt. Und darin einen Mann entdeckt, der sie stolz macht und zugleich erschreckt.

Seit ein paar Wochen steht die rote Kiste meines Opas in unserem Flur, eine Offizierskiste, ich habe sie von meinem Onkel geerbt. Ich sollte sie haben, weil ich von allen Enkeln wohl am meisten damit anfangen könne. Ich bin Journalistin, mein Opa war Journalist. Seitdem diese Kiste in der Wohnung steht, verbreitet sie ihre Wirkung, sie zieht mich an - und stößt mich ab.

Erst mache ich einen Bogen um sie, vielleicht aus Angst, dass sie das Bild, das ich von meinem Opa habe, zerstören könnte. Dass die Vorstellung von einem feinsinnigen Mann zerbröselt und darunter ein Nazi auftaucht, immerhin hatte er diese Tätowierung. Mein Vater hat mir von ihr erzählt. Es war die Blutgruppenzugehörigkeit, die Mitglieder der Waffen-SS trugen. Opa hat sie nicht mehr weggekriegt.

Dann kommt der Tag, an dem ich den Deckel doch anhebe, ich habe zu viele Fragen, bin zu neugierig, will wissen, wer mein Opa war und auf welcher Seite er gestanden, wirklich gestanden hat. Das erste, was ich sehe, beruhigt mich noch: Ausgaben der satirischen Wochenzeitung »Simplicissimus«, für die mein Opa geschrieben hat. Kurz nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler schreibt er: »Drum les ich jetzt am liebsten Todesanzeigen. Was soll man auch sonst machen?« (5. Februar 1933)

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Ich atme auf – bis ich andere Zeitschriften finde: »Deutsche Front«, »Der junge Nationalsozialist«, »Der Aufmarsch - Blätter der deutschen Jugend« – warum hat er sie in die Kiste gepackt? Hat er auch für nationalsozialistische Blätter geschrieben? Ich finde Fotos, Briefe, Landkarten, erfahre, dass mein Großvater im Januar 1943 an die Ostfront versetzt und verwundet wurde – insgesamt 40 Jahre Korrespondenz, bis 1968, da starb meine Großmutter.

Spätestens jetzt lässt mich die Kiste nicht mehr los, sie wird in meine tägliche Routine integriert, jeden Abend lese ich mich durch seine Aufzeichnungen. Die Kiste hat mein Leben in Bewegung gebracht. Sie hat mir gezeigt, wie friedlich und lebenswert unser heutiges Deutschland trotz aller Krisen ist - und wie es war, in einem Weltkrieg zu leben. Ich suche nach Antworten und finde immer noch mehr Fragen, allen voran, warum dieser feinfühlige, belesene Mann in die SS eingetreten ist? War er zu ängstlich, um Widerstand zu leisten? Oder hoffte er, dadurch an einen Job und eine Wohnung für sich und seine Verlobte zu kommen?

Was ich auch finde: erstaunliche Parallelen zwischen ihm und mir. Wirken die Erlebnisse meines Großvaters in mir nach? Ich fahre zum Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, wo die »personenbezogenen Akten« der SS-Mitglieder lagern. Ich tauche immer tiefer ein in das Leben meines Großvaters, manchmal wird es so intim, dass ich fast nicht weiterlesen möchte. Am Ende bekomme ich Antworten - auch auf Fragen, die ich mir noch nie gestellt hatte.
 
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Die rote Kiste

Die alte Truhe aus einer Scheune offenbart unserer Autorin ein allzu deutsches Leben: das ihres Großvaters, der Hitler ablehnte und trotzdem der SS beitrat.

Foto: Urban Zintel