Der bessere Heidi

Bruce Darnell macht TV-Karriere – weil der Quereinsteiger professioneller menschelt als die Konkurrenz. Dagegen sieht seine Ex-Chefin Heidi Klum ziemlich blass aus.

Der Termin mit Bruce Darnell ist erst in einer halben Stunde. Vor dem Loft im Kölner Stadtteil Mülheim nieselt es, der Wind bläst so stark und kühl, dass man seinen Schal enger um den Hals und den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben zieht. Da erscheint plötzlich Darnell in der Tür, vor ihm geht seine Agentin Angelika Mester-Witt. Es ist Mittagszeit, beide halten ihr Essen vor sich auf Papptellern und sind auf dem Weg ins benachbarte Hotel. Aber während sich die Agentin mit vorgebeugtem Oberkörper gegen den Wind stemmt, stolziert Darnell aufrecht. Er hat die Augen nur leicht zusammengekniffen und sein Kopf streckt sich kerzengerade über seine schmalen Schultern – wie bei einer Renaissance-Statue. Irgendwie hat man gleich das Gefühl, dass Darnell auf jeden seiner Schritte achtet. Als wäre der Mülheimer Bordstein ein Pariser Laufsteg. Dabei hat der Mann gerade Pause. Der erste Eindruck: Darnell geht perfekt, sein Anzug sitzt perfekt, die Krawatte ebenso. Nur was da auf seinem Pappteller liegt, sieht nicht so perfekt aus. Genau kann man es nicht erkennen, jedenfalls ist es viel weniger als das, was die Agentin jetzt zu sich nehmen wird.

Bruce Darnell ist mit einer Nebenrolle in der Castingshow Germany’s Next Topmodel zum Star geworden. An der Seite von Heidi Klum trat er als Juror auf und brachte den Models bei, wie man sich mit 13 Zentimeter hohen Absätzen auf dem Laufsteg nicht den Knöchel bricht. Manchmal vergaß er bei seinen Ansagen, dass er Deutsch und nicht Englisch sprach. So wurden seine Sprüche berühmt. Der Klassiker: »Die Handtasche muss lebendig sein!« Für die Models war Darnell aber nicht nur der Laufsteg-trainer. Er nahm sie in den Arm, wenn sie Trost brauchten, weinte oft selbst, wenn Klum eine von ihnen aus der Show warf. Und während Klum die Rolle der kalten Richterin spielte, sorgte Darnell mit seinen emotionalen Eskapaden für ein bisschen Wärme. Der Clou: Darnell musste für seine Rolle nicht schauspielern, er sah sich selbst ohnehin immer als die »beste Freundin« der Models. Auf die Zuschauer wirkte er im Gegensatz zu Klum authentisch. Vielleicht hat man Darnell deshalb keinen neuen Vertrag für die dritte Staffel gegeben. Es heißt, Heidi Klum habe ihm die Popularität missgönnt. Oben im Loft laufen derweil die Vorbereitungen für den Nachmittagsdreh. Seit Dienstag ist Darnell mit seiner eigenen Show Bruce in der ARD zu sehen. Wieder spielt Darnell das, was er am besten kann: die mitfühlende »beste Freundin«. Er soll in zwölf Folgen etwa zwanzig Kandidaten helfen, die unzufrieden mit ihrem Aussehen sind.

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Da ist zum Beispiel dieses hübsche Mädchen mit den hässlichen Narben am Hals. Sie trägt immer Rollkragenpullis, auch im Sommer, weil sie das Gefühl hat, jeder starre nur auf ihre Narben. Darnell hat sie in einem Kaufhaus auf ein Podest gestellt. Dann fragte er Passanten, ob ihnen an dem Mädchen etwas auffalle. Manche fanden sie »bildhübsch«, andere meinten, sie wirke »ein bisschen schüchtern«, keinem Einzigen fielen die Narben auf. »Sie war so glücklich, als ich es ihr erzählt habe«, wird Darnell später sagen und mit Tränen in den Augen hinzufügen: »Diese Sendung ist der Höhepunkt meines Lebens.« Es ist diese Art von übertriebenem Mitgefühl, die Darnell auszeichnet. Mit der Marke »Darnell« behauptet die ARD: Hier macht sich ein Moderator nicht Sorgen um den Erfolg seiner Sendung, sondern um das Wohlergehen seiner Kandidaten. Und das ist bei allen Kai Pflaumes oder Oliver Geissens eine echte Rarität im deutschen Fernsehen.

Normalerweise werden Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar oder auch Germany’s Next Topmodel dafür geschaffen, den Voyeurismus der Fernsehzuschauer zu bedienen. Keiner, der den Wettbewerb Deutschland sucht den Superstar gewonnen hat, ist tatsächlich auch einer geworden. Keines der ausgewählten Models kommt je an die Klasse einer Linda Evangelista oder Naomi Campbell heran. Die Shows dienen ihren wahren Protagonisten. Sie machen Dieter Bohlen und Heidi Klum noch berühmter, als sie schon sind. Das ist gut fürs Geschäft, und der Zuschauer bekommt, was er sich am meisten wünscht: echte Gefühle der Kandidaten. Der Medienpsychologe Jo Groebel sagt: »Das ist wie im Theater. Es gibt die Guten, die Lächerlichen, die Sexobjekte. Leute mit atemberaubendem Talent, aber eben auch Menschen, die man glühend verabscheuen kann. Für eine Identifikation sind diese geliebten Feinde sehr wichtig.«

Darnell hat die Mechanismen der Castingshows auf den Kopf gestellt. Zwar würde es ihm nie einfallen, seine Kandidaten wie etwa Dieter Bohlen mit derben Sprüchen zu beleidigen; aber Darnell und Bohlen verbindet die Tatsache, dass sie oft aus dem Bauch heraus agieren. Bei ihnen wirkt kaum etwas aufgesetzt, weil sie es nicht von Anfang an gelernt haben, sich an die Regeln des Fernsehens zu halten. Man braucht sich nur Jörg Pilawa anzusehen: Hier mal ein kleiner Witz, da mal eine nette Bemerkung – das ist Unterhaltungsfernsehen aus dem Lehrbuch der Rundfunkanstalten. Immer korrekt, immer höflich, leider oft auch zum Gähnen langweilig. Darnell ist genau das Gegenteil von Pilawa.

Deshalb hat man es bei der ARD auch längst aufgegeben, ihm ein Konzept für jede Folge zu schreiben. Es würde nichts nützen, da Darnell sich eh nicht daran hält. Ein Beispiel: Als die ersten Folgen von Bruce im November gedreht wurden, hatte man knapp ein Dutzend Markierungen auf den Studioboden geklebt. »Damit der Moderator immer weiß, in welche Kamera er blicken muss«, sagt Azime Akbaba, Aufnahmeleiterin der Bruce-Show. Aber Darnell ignorierte diese Markierungen. Spontan sprang er von der Couch auf, wenn er sitzen bleiben sollte, oder rannte von einer Ecke in die andere, wenn er eine Idee hatte.

Für die Kameraleute war er ein Desaster. »Aber mit der Zeit haben wir verstanden, wie Bruce tickt«, sagt Akbaba. »Wir sind ihm immer mit einer Handkamera hinterhergehechelt.« Akbaba war bei der Arbeit mit Bruce oft erschöpft, aber trotzdem glücklich. »Ich habe schon mit vielen Moderatoren zusammenge arbeitet. Sie kommen morgens ins Studio, set zen ihr Lächeln auf, reden über Liebe oder über vermisste Personen, und wenn die Aufzeichnung vorbei ist, knipsen sie ihr Lächeln wieder aus und gehen nach Hause. Niemand zeigt vor der Kamera sein wahres Gesicht. Bruce ist da anders. Er ist immer Bruce – auch wenn die Kamera aus ist.«

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Die Mittagspause ist vorbei. Interviewtermin im Hotel. Angelika Mester-Witt betreut Darnell seit 25 Jahren. Seit er in Deutschland bekannt geworden ist, begleitet sie ihn zu fast jedem offiziellen Termin. Auch jetzt sitzt sie nur einen Schritt entfernt. Manchmal ruft Darnell sie mitten in der Nacht an und weint. Dann muss sie ihn trösten, weil er schlecht geträumt hat. »Das gehört bei Bruce einfach dazu.« Wenn Mester-Witt ›Bruce‹ sagt, klingt es, als spreche sie über ein Kind, das tägliche Fürsorge braucht.

»Es ist immer derselbe Albtraum«, sagt Darnell. »Es ist Nacht, ich schwimme im Meer, die Wellen schlagen hoch, kein Land in Sicht. Ich habe furchtbare Angst. Würde ich jetzt aufhören, mich zu bewegen, würde ich untergehen. Deshalb paddle ich immer weiter, immer weiter.« Man könnte nun versuchen, diesen Traum zu deuten, und auf Darnells prägende Kindheit hinweisen. Als fünftes von zehn Geschwistern wuchs er in Colorado auf und wurde »an Weihnachten immer in den
Keller gesperrt«. Der Grund: Er war einer außerehelichen Affäre seiner Mutter entsprungen. In der Schule haben ihn die Kinder gehänselt, weil er anders als seine Geschwister aussah. Seine Geschwister, sagt Mester-Witt, seien klein und stämmig gewesen; Darnell dagegen, das sieht jeder, ist groß gewachsen und sehr dünn.

Für Darnell ist die Ausgrenzung in der eigenen Familie das Thema seines Lebens: »Ich war nie Teil von etwas Besonderem, hatte nie eine Familie. Ich habe immer gespürt, dass ich nicht dazugehöre.« Darnells Augen füllen sich mit Tränen. Leise sagt er: »Ich trage den Namen eines Mannes, der nicht mein Vater ist und der mich nie als Sohn akzeptiert hat. Das war als Kind sehr hart. Irgendwann habe ich verstanden: Ich habe zwar Brüder und Schwestern, aber unser Blut fließt nicht in dieselbe Richtung. Diese Menschen gehören nicht mehr zu meinem Leben.« Darnell dreht den Kopf in Richtung Mester-Witt, und die Frau mit den dunkel umrandeten Augen nickt. Auf ihn scheint dieses Nicken wie ein beruhigendes Zeichen zu wirken. Es ist alles in Ordnung, Bruce, bedeutet dieses Zeichen.

In Heidi Klums Modelshow war Darnell der sogenannte Sidekick, eine Nebenfigur, die mal für Heiterkeit, mal für einen sentimentalen Moment sorgte. Von ihm waren meist kurze Ausschnitte zu sehen. In dieser Nische konnte der Laufstegtrainer sich entfalten. Er musste sich keine Sorgen um das große Ganze machen, er konnte so sein, wie er eben ist. »Das ist halt Bruce«, dachte man sich als Zuschauer vor dem Fernseher, wenn er vor den Models über verschiedene Catwalk-Schuhe referierte und – mit einem, zugegeben, imposant hohen Stöckelschuh in der Hand – zu dem Schluss kam: »Das ist der Wahrheit!« Doch nun ist Darnell selbst der Star der Sendung. Das ändert alles. Er kann sich nicht mehr hinter Heidi Klum verstecken. Die Frage ist: Wird das Publikum ihn 25 Minuten lang mit der gleichen Empathie im Wohnzimmer empfangen wie in jenen Sekundeneinspielern, für die er bekannt wurde? Oder wird der »Running Gag« bei Germany’s Next Topmodel, wie ihn die taz letztes Jahr noch beschrieb, als Hauptdarsteller mit der Zeit zum Langweiler, weil er nicht mehr bieten kann als nur Tränen und ein paar Styling-Tipps?

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der große Unterschied: Bruce Darnell ist zwar kein Entertainer wie Harald Schmidt, dafür begrüßt er jeden Mitarbeiter per Handschlag.

Wer fair sein will, sollte die ersten Folgen abwarten. Oben im Loft haben sich die meisten Mitarbeiter der Sendung aber schon jetzt ein Bild von Bruce Darnell gemacht. Denn es kommt nicht oft vor, dass ein Moderator die Vornamen aller am Set Anwesenden kennt und auch die schüchterne Praktikantin jeden Tag per Handschlag begrüßt. Und sehr selten kommt es vor, dass ein Moderator das gesamte Team vom Tonassistenten bis zum Produzenten zum Essen einlädt. Aufnahmeleiterin Azime Akbaba sagt: »Bruce ist einmalig, er ist die eigentliche Show!« Das weiß natürlich auch die ARD und geht damit ein großes Risiko ein. Denn Darnell ist kein Entertainer wie Harald Schmidt, der seine Shows minutiös plant. Die Gefahr besteht, dass Darnell nur ein lustiger Sidekick sein kann. Dann wäre der »Höhepunkt seines Lebens« nach diesen zwölf Folgen vorbei. 

Darnell hat seine langen Beine in die Hotellobby ausgestreckt. Er sitzt jetzt da, wie seine Freundin Mester-Witt seinen Vornamen ausspricht. Ein Kind, für das man automatisch einen Beschützer-instinkt entwickelt. Doch dann blickt man dem 50-Jährigen tiefer ins Gesicht und erkennt den Ansatz von Altersfalten, sieht das stoppelgroße ergraute Haar und seine dünnen, aber drahtigen Arme, deren Haut faltiger ist als die auf seinem Gesicht.

Würde man nicht wissen, dass Darnell nach jahrelangem Training jede Pose in Sekundenschnelle inszenieren kann, würde man ihm ohne jede Einschränkung alles glauben, was er über sein Leben erzählt. So bleibt immer der kleine Verdacht, dass sich die Geschichten ein bisschen zu perfekt ineinanderfügen: die Ausgrenzung als Kind, der Abbruch des Kontakts zu seiner Familie, die harten Jahre als Fallschirmspringer beim US-Militär, schließlich die Entdeckung als Model in Aachen, »beim Gläserspülen in einer Diskothek«. Und jetzt hat er eine eigene Show in der ARD. Der amerikanische Traum ist wahr geworden.

»Nein, nein, ich bin nicht so wichtig«, sagt Bruce Darnell zum Ende des Interviews, als er den Interviewer schon umarmt und an sich drückt, als wäre es ein Freund, den er lange nicht gesehen hat. »Ich bin nur ein kleines Licht.« Damit hat Bruce Darnell recht. Er hat nur eine Show im Vorabendprogramm der ARD. Niemand erwartet von ihm, dass er bald Thomas Gottschalk bei Wetten, dass . . ? ablöst. Er ist nur ein kleines Licht, das für seinen Traum brennt.

Hier geht es zu Heidi Klum und der Frage, warum es so schwer fällt, sie gernzuhaben.