Der Marienhof-Star Sven Thiemann, 37, verdiente 14 Jahre lang Geld mit wenig Arbeit. Ab Herbst ist es umgekehrt: Er macht ein Praktikum und beginnt zu studieren.
Fast ein Jahr ist es her, da blieben sie nach der letzten Klappe einfach sitzen, die Schauspieler und die Kameraleute. Ein paar applaudierten, es gab Bier und Prosecco in Pappbechern; jemand hatte Kuchen mitgebracht, gegen Mitternacht flossen ein paar Tränen. Auf dem Bavaria-Gelände in München war soeben die Marienhof-Folge 4053 abgedreht worden; es war - nach 19 Jahren - die letzte.
Sven Thiemann, der 14 Jahre den Charly gespielt hatte, Charly Kolbe, den alle so gern hatten, trank kein Bier. Er war auch nicht traurig oder wütend. Zumindest kann er sich nicht daran erinnern. »Ganz ehrlich, ich weiß es nicht mehr«, sagt er. »Ich glaube, ich bin nach der letzten Szene nach Hause.« Drei Wochen später steigt die Marienhof-Abschiedsparty in einer Münchner Bar. Ein letztes Mal auf Familie machen, große Momente beschwören, trinken, tanzen, Trost finden - immerhin hatten hier ein paar Menschen ihren Job verloren. Wieder haut Sven Thiemann nach einer Stunde ab. »Nach Bad Tölz«, sagt er, »Autogrammstunde in einer Disco.«
Wer sich an seinem letzten Arbeitstag davonstiehlt, wenn sich alle in den Armen liegen, ist entweder ein komischer Vogel oder verzweifelt: Thiemann ist keins von beidem. Er hatte sich nur schon viel früher verabschiedet, um genau zu sein, zwölf Jahre früher; eine bedrohliche Krise hatte ihm damals die Augen geöffnet. Das Ende der Serie konnte ihm nichts mehr anhaben, weil er innerlich längst weg war; vielleicht war es sogar eine Erlösung, weil jetzt beides vorbei war: der Traum Marienhof. Und der Albtraum. Und so kommt es, dass Thiemann am ersten Tag seiner Arbeitslosigkeit ziemlich gelassen in den Flieger nach Lanzarote steigt, um sich ein bisschen zu bräunen.
Mai 2012: Thiemann lebt immer noch in München. Er nimmt einen Schluck Red Bull, die Dose hat er zum Interview mitgebracht. Man kennt diesen Typen; ein Fernsehgesicht, die Zahnlücke, der stechende Blick. Draußen parkt der BMW, »sein Vernunftauto«. Einen Z3 und einen Porsche hat er zu Schrott gefahren. Er trägt ein Muskel-Shirt, man sieht die sauber rasierten Achseln, die gestutzten Brusthaare; schon jemand, den Mädchen gut finden, erst recht, wenn er jeden Tag im Fernsehen zu sehen ist. Gibt man seinen Namen bei Youtube ein, heißen die beiden ersten Links »Sven Thiemann shirtless«.
»Ich will nicht undankbar klingen«, den Satz sagt er oft. Auf keinen Fall will er alte Fans oder Kollegen vor den Kopf stoßen, indem er die Serie rückblickend schlechtredet. »Ich bereue gar nichts«, sagt er. »Der Marienhof, das war die Zeit meines Lebens.« Und doch merkt man, wenn man ihm eine Weile zuhört, dass die Sache vertrackter ist, weil diese Seifenopern-Jahre schon geil, aber auch anstrengend waren. Voller Möglichkeiten und Übermut, und doch so leer, weil es einen auch aushöhlen kann, wenn man etwas macht, was einen nichts angeht, vielleicht sogar unterfordert, und weil diese ewige Frage nicht aufhörte: Worum geht es hier eigentlich - in dieser Serie, aber auch in meinem Leben, im Leben des Sven Thiemann, der doch mal den Traum hatte, ein richtig guter Schauspieler zu werden.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass er eher klein ist als groß, laut Internet-Fanseite 1,65 Meter. »Soll ich ehrlich sein?«, sagt er. »Ich wollte Anerkennung. Und ich wollte Frauen. Vor allem deswegen bin ich Schauspieler geworden.« Als er 1996 die Schauspielschule in München abschließt, ist er 22 Jahre alt. »Du hast als Schlechtester begonnen und als Bester aufgehört«, sagt ihm sein Lehrer zum Abschied. Er rutscht gut rein ins Geschäft, spielt kleine Rollen, 1997 kommt das Marienhof-Angebot: Eine Soap, aber was soll’s, denkt sich Thiemann, der zu diesem Zeitpunkt auf 22 Quadratmetern über einem Penny-Markt wohnt und jeden Morgen um sechs aufwacht, wenn die Laster zum Ein- und Ausladen kommen. Er nimmt an und verdient auf Anhieb 3000 Mark brutto - damals ein kleines Vermögen für ihn. »Und nach einem Jahr bin ich eh weg«, davon ist er überzeugt.
Die ersten Monate rasen an ihm vorbei wie ein Actionfilm. Thiemann ist ehrgeizig, findet die Serie nicht gut genug, will sie besser machen, legt sich mit Regisseuren an, reibt sich auf. Jeden Samstag, jeden Sonntag lernt er die Szenen der kommenden Woche. Er stellt Kameras auf, um sich selbst zu filmen. Er lernt die Texte seiner Kollegen, er will jeden Einstieg exakt treffen, er will der Beste sein. Nach einem Jahr hat er es geschafft. »Du hast neue Maßstäbe gesetzt«, loben ihn die Kollegen. Er wird vom Publikum zum beliebtesten Darsteller gewählt. Den nächsten Vertrag darf er sich aussuchen: Er besteht auf fünf Monaten Urlaub im Jahr. Er bekommt sie. Er will mehr Geld. Er bekommt es. Zuletzt verdient er 7000 Euro netto – bei 100 Tagen Arbeit im Jahr, manchmal waren es auch nur 50. »Auf einmal war alles so leicht«, sagt er, hätten ihn diese fünf drehlosen Monate, die er sich doch selbst gewünscht hatte, nicht in eine existenzielle Leere geschubst. Auf einmal waren die Fragen wieder da: Warum mache ich das? Was ist der Sinn? Mein Ziel? Mein Anspruch? Mein Glück? Sie martern ihn. Er hat viel Zeit und immer ein paar Scheine in der Tasche. Als ihn seine Freundin verlässt, dreht er durch, bricht zusammen - Dunkelheit, Leere, Therapie. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war.
Danach ist Endstation.
Sven Thiemann hat gerade viel Zeit. Er sitzt in Cafés, läuft durch die Stadt, orientiert sich. »Ich sehe die Gelegenheit zum Wachstum.« Oder: »Ich will nicht mehr satt sein.« Das sind so Thiemann-Sätze im Jahr 2012. Wenn er Fans von damals begegnet, sagt er: »Freut mich, dass ihr die Serie gut fandet«, seine Autogrammkarten hat er weggeschmissen. 14 Jahre Seifenoper können einiges mit einem Menschen anstellen: Man wird mit Geld geködert, mit Geld bei Laune gehalten und nach einer Reise voller Annehmlichkeiten wieder ausgespuckt. Und egal, wie cool oder nebenbei man diesen Lebensabschnitt mitgenommen hat, danach ist Endstation. Dann geht es nicht weiter; gerade treten sich an dieser Endstation ziemlich viele Marienhof-Darsteller auf die Füße.
Richtig gut aus der Sache rausgekommen ist eigentlich nur Isabella Hübner mit einer Rolle in der Bayern-Daily Dahoam is Dahoam. Trotzdem hat sie vorsichtshalber eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht. Die anderen hangeln sich von einem Theatergastspiel zum nächsten; anstrengende Tourneen sind das, auf kleinen Bühnen in Unterföhring oder Waldkraiburg. Die meisten warten, dass das Telefon klingelt und versuchen, solange es stumm bleibt, neue Facetten an sich zu entdecken, die sie auf DVD an Castingagenturen und Produktionsfirmen schicken. Christian Buse, 52, der fast 13 Jahre lang den Geschäftsmann Thorsten Fechner gespielt hat, kommt auf drei Drehtage in den letzten 15 Monaten. Zwei für die Telenovela Sturm der Liebe und eine zehnsekündige Szene für den Kinofilm Was weg is, is weg - die am Ende aus dramaturgischen Gründen rausgeschnitten wurde. Seit einem Jahr ist er in allen Online-Datenbanken mit kostenpflichtigem »Premium-Eintrag« vertreten, bislang ohne Erfolg. Es gibt einige, die erzählen offen von ihrer Angst und ziehen ihre Aussagen in letzter Sekunde zurück. »Die Wahrheit ist halt nicht sexy.« Und überhaupt habe man jetzt den Kurs gewechselt: Von »Es ist alles so furchtbar« hin zu »Das Leben geht weiter«. Besetzungsstopp. Das Wort ist gefallen, als die meisten von ihnen noch wehmütig zurückgeschaut und noch nicht begriffen haben, was das Ende der Serie eigentlich bedeutet. So ein Besetzungsstopp wird nicht verhängt, aber es gibt ihn. Er hängt in der Luft wie eine unsichtbare Mauer, die die Angebote von den Schauspielern fernhält. Als hätten jeder von ihnen - wie bei diesem Partyspiel - einen Zettel auf der Stirn kleben, auf dem »Achtung, Marienhof!« steht. Darsteller, die ihr Gesicht fünf, zehn oder mehr Jahre einer Seifenopernfigur geliehen haben, gehen einen Pakt ein. War man der Gute, kann man nachher nicht der Böse sein, weil alle nur den Guten sehen. Ist man weiter der Gute, wird man sein Image nicht los, verliert an Attraktivität, wird nicht mehr gebucht. Thiemann war der Gute, der Sensible, der für jeden da war. Ausgerechnet er leidet heute am wenigsten darunter, dass es die Serie nicht mehr gibt. Ein Zeichen? Natürlich. Aber wofür? Dass er pragmatisch ist? Oder nur zynisch? Lässig oder leidenschaftslos? Zwischen 1999 und 2001 spielte er dreimal im Tatort. »Ganz ehrlich«, sagt er, »das war auch nicht viel anders als mein Job beim Marienhof.«
Vielleicht hätte er nach dem Zusammenbruch aussteigen müssen. Natürlich war das ein Signal dafür, dass diese Konstellation ungesund ist für einen, der idealistisch und sensibel, ehrgeizig und haltlos ist. Einen, der zu viel vom Leben will - wie er eben. Irgendwas passte nicht zusammen, war nicht deckungsgleich. Aber Thiemann blieb: »Weil ich das Geld wollte. Und das leichte Leben. Das war reines Kalkül.« Damals hört er auf, sich quälende Fragen zu stellen. Er verdrängt den eigenen Anspruch und macht weiter, obwohl er jeden Respekt vor dem, was er tut, verloren hat. Von da an fühlt er sich zwölf Jahre lang wie ein Arbeiter, der seine Schicht rumkriegen muss. Er spielt den Beruf des Schauspielers; ist nicht mehr neugierig, nur noch gelangweilt, unterfordert, am Ende zynisch. Die Texte lernt er drei Minuten, bevor die Klappe fällt. Beim Team wird er immer beliebter, weil der Ehrgeiz weg ist. Am Abend liest er wie besessen Bücher über Spiritualität, Taoismus, Psychologie. Egal, wen man fragt, die Kollegen sind sich einig: »Sven ist ein Suchender.« Fragt man ihn heute, ob er gelitten hat damals, sagt er: »Nein, ich habe nur begriffen, dass wir hier keine Kunst machen, sondern Schnellrestaurant. Ich habe die Serie akzeptiert.« Und man fragt sich, was trauriger ist: ein untalentierter Schauspieler, der um sein Leben spielt? Oder ein guter Schauspieler, der sich zwölf Jahre lang unter Wert verkauft? Sven Thiemann ist ein guter Schauspieler. »Vielleicht der beste von uns allen«, sagt Wolfgang Seidenberg, der 16 Jahre lang den Klempnermeister Töppers gespielt hat.
Und weil er das weiß, beginnt nach der Krise eine lange Phase des Kompensierens. Er kauft sich eine Loft-Wohnung mit Blick auf die Alpen. »Auf die Terrasse habe ich mir ein Podest gebaut, da lag ich auf einer Liege, in der Ferne fuhr die S-Bahn ein und aus. Das war urbane Romantik pur.« Sein Wohnzimmer hat 60 Quadratmeter, in der Mitte steht ein Zwei-mal-zwei-Meter-Whirlpool, das Bett lässt er sich aus Mailand kommen: 7000 Mark. Er mietet was Kleines am Chiemsee, für die Wochenenden, geht oft aus, lädt viel ein, wird dauernd angesprochen. Sven Thiemann hatte 17 Freundinnen - Affären nicht mitgerechnet. »Ich war nicht gierig«, sagt er, »ich war gleichgültig. Und hatte mich für den leichten Weg entschieden.« Die Wahrheit ist wohl: Thiemann erträgt seinen Job und inszeniert sein Leben - es gibt Leute, die gehen an so was zugrunde.
Es gibt ihn noch, den Marienhof. Im Internet und in den Erinnerungen der Fans. Ende der Neunziger hatte die Serie über vier Millionen Zuschauer, am Ende waren es nur noch halb so viele. Auch die Biografien der Darsteller sind noch online. »Marienhof ist …«, lautet die letzte Frage, die jeder Schauspieler beantwortet – »… eine spannende Daily Soap«, hat Thiemann damals ergänzt. Auf die gleiche Frage antwortet er heute: »Marienhof war ein Arbeitsplatz, der mich stressfrei gut ernährt hat.« Er hat inzwischen eine ziemlich dezidierte Meinung über seine 14 Jahre im ARD-Vorabend. Es ist sogar so, dass sein heutiges Leben nichts mehr mit seinem damaligen zu tun hat. Ab Oktober will er Soziale Arbeit an einer christlichen Hochschule studieren. Im Moment bewirbt er sich für ein Praktikum: Projekt Omnibus, das den Eltern schwer kranker Kinder eine Wohnung in Kliniknähe und seelsorgerische Begleitung anbietet. Er wird den Platz bekommen. Sven Thiemann ist seit ein paar Monaten Schirmherr des Projekts. Bald ist er beides: Schirmherr und Praktikant. Vielleicht kann man so sagen: Der Schirmherr ist der Schauspieler, Praktikant wird der Student. »Ich habe alles auf null gestellt«, sagt er. »Ich fange noch mal von vorn an.« Thiemann wird in wenigen Wochen 38 Jahre alt.
Er hat ein Manuskript ins Café mitgebracht. 40 gedruckte Seiten. Er schreibt an einem Buch. Arbeitstitel: »Schmutz«. Einen Verlag hat er noch nicht, aber er kann nicht anders, es hat sich so viel angesammelt, Erinnerungen, Erlebnisse, aber auch Einsichten und Enttäuschungen. Alles gemeinsam drängt aus ihm heraus, also hat er drauflosgeschrieben. Ein Blick auf die Sachbuch-Bestsellerlisten macht klar, dass so was funktionieren kann: Aufstieg und Fall, Tragödie und Läuterung, Menschen lieben Lebensbeichten von Menschen, die sie aus dem Fernsehen kennen.
Auf jeden Fall schreibt er alles auf: Marienhof, Folge 684 bis 4053, nein, eigentlich sein ganzes Leben, die Exzesse, die Krisen, die Frauen, Mini-Ruhm und Fans vor der Haustür inklusive. Denn das ist ja das Problem: Man hat nach der Seifenopernblase nicht ausgesorgt. Man zahlt nicht einen Preis dafür, dass man es sich anschließend gut gehen lassen kann, notfalls mit Hilfe eines Therapeuten. Nein, der Preis ist viel höher: Man muss zurück in den Alltag, Geld verdienen, Miete zahlen. An der Parallelwelt berühmter Menschen hat man lediglich gekostet, das macht die Sache nicht leichter. So eine Seifenoper ist wie ein Brandbeschleuniger. Erst glühen die Leute, dann brennen sie lichterloh, das kann sich toll anfühlen - am Ende verbrennen sie.
Thiemann weiß schon lange, dass er eher Teil des Problems war, nicht die Lösung. Dass er in einer »Matrix« gelebt hat, so nennt er die Parallelwelt des Fernsehens mit ihren Parallelgesetzen: »Der Marienhof war immer nur der Rahmen«, sagt er, »das Eigentliche waren die Werbepausen dazwischen.« Man kann schon sagen, dass die Nachricht vom Ende eine Erlösung war, ihm selbst muss das gar nicht bewusst sein. Normal - das Wort fällt alle paar Minuten: Normales Leben. Normale Wohnung. Normales Auto. Neben dem Studium möchte er jobben. »In einer Disco oder einem Callcenter.« Er sagt: »Es fühlt sich toll an, dass mein Leben jetzt gewöhnlich wird.« Er sagt aber auch: »Wenn morgen einer anruft, ich würde es wohl wieder machen«, hält inne und ergänzt: »aber nur, wenn es sich mit dem Studium vereinbaren lässt.« Und das klingt doch mal richtig gesund.
Foto: Monika Höfler