Sind wir nicht alle ein bisschen Mad Men?

Egal ob die Große Koalition torkelt oder Bushido rumpöbelt - Journalisten erklären mittlerweile fast alles, was in Deutschland passiert, anhand amerikanischer Fernsehserien. Wir würden da gern ein paar Zweifel anmelden.

Was haben Bushido, die Krise der Männer, die NSA-Affäre, der Krieg gegen den Terror, die Rezession und überhaupt ganz insgesamt das Deutschland der Gegenwart gemeinsam? Ja, nicht schlecht, das sind alles Themen, über die man sich für eine gewisse Zeit mit Hilfe von Rauschmitteln hinwegtrösten kann, ohne was zu ändern. Die richtige Antwort aber lautet anscheinend: All diese Themen kann man nur verstehen, wenn man amerikanische Fernsehserien wie Die Sopranos, Breaking Bad, Homeland und Mad Men schaut.

Jedenfalls liest man das derzeit häufig. Als vergnügter Fernsehzuschauer könnte man meinen, die großen US-Fernsehserien, die seit ein paar Jahren vor allem auf DVD oder im Internet gestreamt so erfolgreich sind, wären in erster Linie handwerklich herausragende und oft mitreißende, rührende Unterhaltung. Nee, liebes Publikum, das wäre zu einfach. US-Fernsehserien müssen inzwischen dafür herhalten, alles zu erklären. Sie sind zum führenden Symbol- und Geschichten-Quell derer geworden, die es angesichts der eher unübersichtlichen Realität danach dürstet, komplizierte Sachverhalte mit coolen Beispielen zu belegen. Gerade eben wieder: ein Porträt über den Rapper Bushido im Spiegel, das mit der ausführlichen Beschreibung einer Szene aus der Mafia-Serie Die Sopranos beginnt. Wohl, weil Bushido mal gesagt hat, er schätze diese Serie.

Tatsächlich aber, weil es eingeweihter und moderner wirkt, mit der Beschreibung einer Szene aus einer sieben Jahre alten Episode einer US-Fernsehserie mehr über Bushido zu sagen, als mit der Beschreibung einer Szene aus der Realität 2014. Botschaft: Wer Bushido verstehen will, muss die Sopranos kennen. Oder die Zeit-Titelgeschichte Anfang des Jahres über Männer als das »geschwächte Geschlecht«, die damit begann, dass die Krise des modernen Mannes nicht am Beispiel von, äh, Männern erzählt wurde, sondern am Beispiel von Tony Soprano, Walter White, Nicholas Brody und Jimmy McNulty, den fiktiven Figuren aus Sopranos, Breaking Bad, Homeland und The Wire. Weil Fernsehserien »die große alte Tragödie vom Zusammenprall von Seele und Norm neu erzählen«: »Wie hart, wie weich muss ein Mann heute sein – das ist das große aktuelle Thema, um das diese Fernsehserien kreisen.« Echt? Kreisen sie vielleicht um dieses Thema, weil es eben nicht ihr Thema ist, so wie man einen Kreisverkehr benutzt, um ganz woanders hinzukommen? Oder anders gefragt: Warum wird plötzlich alles und jeder in Deutschland mit Hilfe von amerikanischen Fernsehserien erklärt? Warum diese Überhöhung von anspruchsvoller Unterhaltungsware zu einer Art heiligem Meta-Text, der Antworten auf alles hat?

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Eigentlich müsste es doch reichen, dass im Moment eine Revolution stattfindet: In Deutschland ist eine Art Parallelwelt des Fernsehens entstanden, in der Menschen amerikanische Serien auf DVD und im Internet schauen, zusammen oder allein, mehrere Folgen hintereinander statt brav eine am Abend, und wenn’s besonders spannend ist, eine ganze Staffel an einem Wochenende. Und dieses Phänomen verdrängt langsam, aber sicher das traditionelle Hörzu-Fernsehen. Warum muss im Zuge dieser Revolution die amerikanische Fernsehserie auch noch komplett überhöht werden? In den Feuilletons wird die moderne Fernsehserie inzwischen prinzipiell als »große Erzählung der Gegenwart« bezeichnet, die in dieser Wettbewerbskategorie den Roman ersetzt, sodass ein brillanter Serienschöpfer ein moderner Balzac oder Tolstoi ist. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, die US-Fernsehserie nicht nur als Meisterwerke zu preisen, sondern als einen weisen Urtext, der alles erklärt. Die Standardformulierung stand schon 2009 in einem Feuilleton-Text über Mad Men: »Wer das Deutschland der Gegenwart verstehen möchte, muss merkwürdigerweise eine amerikanische TV-Serie anschauen, die in den Sixties spielt.«

Die Argumente dafür sind fünf Jahre später kaum noch nachvollziehbar, aber Mad Men ist geblieben, was die Serie schon damals war: eine wunderschön anzuschauende Geschichte über gequälte Seelen in der New Yorker Werbewelt vor fünfzig Jahren. Ist das nicht mehr als genug, weil: mehr, als wir vom deutschen Fernsehen noch erwarten? Wahrscheinlich schreibt, während wir hier sitzen, schon jemand, dass man die Mischung aus Abgründen, Getriebenheit und Pragmatismus der Edathy-Affäre nur versteht, wenn man die aktuelle Staffel der Polit-Serie House of Cards mit Kevin Spacey gesehen hat. Oder dass man die jahrelangen Verschleppungen und Versäumnisse der NSU-Ermittlungen nur begreift, wenn man die Langzeit-Mordgeschichte True Detective mit Woody Harrelson und Matthew McConaughhey gesehen hat, die »derzeit beste Fernsehserie« (The Atlantic).

Zum einen steckt hinter dieser zwanghaften Überhöhung einfach das, was jeder Serien-Fan tut, wenn er anderen von Neu-Entdeckungen oder ewigen Favoriten vorschwärmt: Indem man die Serie, die man liebt, überhöht, erhöht man sich selbst, und ein bisschen vom sorgfältig konfektionierten Glamour der US-Unterhaltung scheint auch auf einen selbst. Und es hat auch was Eifersüchtiges, nach dem Motto: Ja, ihr alle schaut Mad Men und Breaking Bad zur Unterhaltung, ich aber lese daraus die Antworten auf die großen Fragen der Gegenwart, echt.

Seltsam daran ist, dass einerseits zwar immer wieder der Realismus und die handwerkliche Perfektion der US-Serien gepriesen wird, im gleichen Atemzug aber, wenn man ihre Handlung nimmt, um ganz andere Konzepte damit zu erklären, zumal deutsche, diese Realität sozusagen verleugnet wird, zumindest auf Abstand gehalten.

Vielleicht steckt aber auch immer noch das Bedürfnis dahinter, all die Stunden Lebenszeit, während derer man die US-Serien weggeschaut hat, vor sich selbst und der Welt zu rechtfertigen; das Bedürfnis, die eigene Weltflucht ebenfalls zu überhöhen, als seherisch und weise. Womit die Verklärung von US-Fernsehserien zu Welterklärungstexten nichts anderes wäre, als sich Jahrzehnte später gegen die Eltern zu verteidigen, die einem immer gesagt haben, Fernsehen würde blöd machen. Nein, Mama. Es macht super schlau. Es erklärt sogar Bushido. Oder die NSA und diese ganze amerikanische Paranoia. Glaubst du nicht, Mama? Tja, hättest du mal Homeland geschaut. Dann wüsstest du, wie das ist mit der NSA und der Überwachung und warum die USA auf ihre Verbündeten herabsehen.

Es ist nervig, in großen Texten des deutschen Journalismus damit behelligt zu werden, man müsse erst diese oder jene US-Serie gucken, um die Welt zu verstehen. Vor allem aber ist es schade, weil dies der Kunstform Fernsehserie nicht gerecht wird. Das Tolle an den gepriesenen US-Serien der letzten zehn, 15 Jahre, mit ihren weiten Handlungsbögen, ihren gebrochenen Figuren, ihren geistreichen Dialogen, ist nämlich gerade nicht, dass sie als Allegorien über die Gegenwart taugen oder uns die Welt erklären. Alle hier genannten Serien haben vielmehr eins gemeinsam, das ungleich wertvoller ist: Sie werfen uns immer wieder auf uns selbst zurück. Indem sie sich auf die Psychologie ihrer Anti-Helden konzentrieren, auf ihre ethischen Dilemmata und ihr moralisches Versagen, sind wir ständig gezwungen, uns ganz persönlich mit diesen Figuren in Beziehung zu setzen. Nichts zwingt einen so sehr damit, sich selbst zu erkennen und sich womöglich in Frage zu stellen wie eben Die Sopranos oder Breaking Bad. All diese Serien sind nicht über Bushido, den War on Terror oder den modernen Mann. Sondern über einen selbst und über die Leute, mit denen man sie anschaut und mit denen man dann darüber reden kann, wie man selbst sich in dieser oder jener Situation verhalten hätte und warum; und für wen und wessen Mordtat und wessen Doppelleben man noch Verständnis hat, und wofür nicht mehr.

Und vielleicht ist am Ende dann das der wahre Grund dafür, die Serien als Allegorien für alles Mögliche zu missbrauchen: Es ist leichter zu sagen, dass große, bedrohliche Kunst einem endlich die Welt erklärt, statt auszuhalten, dass sie einen zwingt, sich selbst zu erforschen.

Illustration: Daniel Frost