Mailand vor 40 Jahren. Vor der pompösen Familienkapelle der Feltrinellis auf dem Cimitero Monumentale herrscht Belagerungszustand. Für jeden der 8000 Beerdigungsteilnehmer ist ein Carabiniere im Einsatz, in der Luft kreisen Hubschrauber. Geballte Fäuste werden in die Luft gereckt, und man hört Parolen wie: »Genosse Feltrinelli, du wirst gerächt werden!«
Der von einer Dynamitexplosion verstümmelte Tote gehörte seit Ende der Fünfzigerjahre zu den führenden intellektuellen Köpfen Europas. Mit 17 wird Giangiacomo Feltrinelli Partisan und kämpft gegen die deutsche Wehrmacht. Mit 21 erbt er ein Milliardenvermögen und gründet einen Verlag, der einen steilen Aufstieg hinlegt wie kein zweiter in Europa. Mit 43 geht er in den Untergrund und finanziert linksradikale Guerillaorganisationen. Mit am Sarg stehen an diesem Tag die vier Frauen, die Feltrinelli geheiratet hat. Ehefrau Nummer drei ist in Göttingen aufgewachsen und hat als Fotoreporterin unter ihrem Mädchennamen Inge Schönthal ein paar weltbekannte Bilder gemacht.
SZ-Magazin: Frau Feltrinelli, wie wurden Sie mit Anfang 20 Fotoreporterin?
Inge Feltrinelli: Ich war eines dieser deutschen Nachkriegsmädchen, die hungrig waren, endlich etwas von der Welt zu sehen. Deshalb zog ich 1950 von Göttingen nach Hamburg. Ich kam im Keller der Fotografin Rosemarie Pierer unter. Meine Matratze stand im Vorraum zu ihrer Dunkelkammer. Mittags aß ich für 50 Pfennige in der dpa-Kantine am Mittelweg. Ich lernte das Abc des Fotografierens, und da ich ein flottes Mädchen war, das ein wenig wie Leslie Caron aussah, konnte ich als Fotomodell etwas Geld verdienen. Als ich mit dem Fahrrad durch Pöseldorf fuhr, stoppte neben mir ein schickes weißes Auto. Der Mann am Steuer deutete auf meinen Fotoapparat und fragte, ob ich Fotografin sei. Es war Hans Huffzky, der Gründer der Frauenzeitschrift Constanze. Als er meine Fotos sah, sagte er: »Entsetzlich! Eine Katastrophe! Hören Sie auf, Schiffe im Hafen zu knipsen. Sie müssen Menschen fotografieren.« Ein paar Monate später schickte er mich nach Spanien, um junge, moderne Frauen zu fotografieren. Huffzky wurde mein Professor Higgins und stellte mir die Verleger Rudolf Augstein und Axel Springer vor. Beide waren noch auf ihrem Weg nach oben und sehr easy going. Es war damals leicht, nach den Sternen zu greifen und die Welt zu erobern.
Wie waren Springer und Augstein Anfang der Fünfziger?
Springer war total unpolitisch, dafür sehr elegant und sehr charming. Er war ein Dandy, der Veilchensträuße an junge Mädchen wie mich schickte und sagte: »Männer wie ich sind an der Grenze, wir haben viele feminine Seiten. Deshalb mögen uns die Frauen.« Ein Lieblingsspruch von ihm lautete: »Wenn ich gefragt werde, ob ich im Dritten Reich verfolgt wurde, sage ich immer: ›Nur von Frauen.‹« Augstein fuhr oft in großen amerikanischen Cabriolets um die Alster herum. Weil er so klein war, sah er in seinen Straßenkreuzern noch kleiner aus. Aber für ihn waren sie ein Schutz, um seine Schüchternheit zu verbergen. Tanzen konnte er überhaupt nicht. Er hüpfte herum wie ein Osterhase.
Mit 22 kamen Sie an Bord eines Luxusliners erstmals in die USA. Wie haben Sie die Überfahrt finanziert?
Ein Freund aus meinem Hamburger Netzwerk hatte dafür gesorgt, dass die Reederei mich umsonst mitfahren ließ. Mit auf dem Schiff war der Zeit-Chefredakteur Richard Tüngel. Er brachte mir bei, wie man Austern und Eier im Glas mit Stil isst. In New York wohnte ich durch Vermittlung von Freunden bei der Großenkelin von J. P. Morgan in einem luxuriösen Penthouse an der Fifth Avenue. Es war eben alles viel einfacher als heute für eine junge Frau ohne Geld, die Karriere machen wollte.
In New York gelang es Ihnen, ein Phantom zu fotografieren: Greta Garbo.
Sie stand gedankenverloren an einer Ampel an der Madison Avenue und putzte sich mit einem Kleenex die Nase. Sie schien erkältet zu sein. Niemand erkannte sie, obwohl sie mit ihrem pflaumenblauen Hut auffallend elegant aussah. Dass ich einen Schnappschuss von ihr machte, bekam sie nicht mit. Das Magazin Life zahlte mir 50 Dollar für das Bild. Das Honorar verdankte ich einem Satz von Henri Cartier-Bresson, den mir Huffzky eingebläut hatte: »A good photograph captures the decisive moment.« Ob dein Bild gestochen scharf ist, ist nicht so wichtig. Was zählt, ist, dass du beim Auslösen den entscheidenden Moment erwischst.
1953 bat Sie der Rowohlt-Chef Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, seinen Autor Ernest Hemingway auf Kuba zu besuchen. Was war Ihre Mission?
Hemingway hatte seit den Dreißigerjahren dieselbe deutsche Übersetzerin. Ledig-Rowohlt fand ihre Sprache altbacken und wollte die Bücher neu übersetzen lassen. Da Hemingways Agent die Deutschen hasste, bekam er nie eine Antwort auf seine Depeschen. Als ich mit 100 Dollar in der Tasche auf Kuba ankam, rief ich 14 Tage lang immer wieder bei Hemingway an, aber jedes Mal radebrechten irgendwelche Hausangestellten, dass niemand zu Hause sei. Am 15. Tag war Hemingway selber am Telefon. Er sagte: »Kommen Sie zum Lunch. Ich schicke Ihnen meinen Fahrer.« Die Finca Vigía, in der er lebte, lag 20 Kilometer außerhalb von Havanna in einem Dorf namens San Francisco de Paula. Als ich sagte, dass ich lieber mit dem Bus kommen würde, merkte er, dass ich keine alte Schachtel war, und forderte mich auf, meinen Badeanzug mitzubringen. Ich bin dann zweieinhalb Wochen bei ihm geblieben.
Hemingway war damals 54. Hat er sich in Sie verliebt?
Vielleicht! Ich kam ja jung und frisch da an. Aber natürlich war ich ein gut erzogenes Göttinger Mädchen.
Hemingway war in vierter Ehe mit der ehemaligen Kriegsreporterin Mary Welsh verheiratet. Wie reagierte sie, als Hemingway Sie in seinem Schlafzimmer übernachten ließ?
Mary fand mich auch flott und war sehr nett zu mir. Es herrschte amerikanische Gastfreundschaft, und so schlief ich im kühlsten Zimmer. Beide waren begierig, ein deutsches Nachkriegsmädchen zu erleben, das nicht zur Nazigeneration gehörte. Hemingway wurde mein zweiter Professor Higgins. Er wollte mich informieren und mir Kuba zeigen.
Wie ging es in Hemingways Finca zu?
Es gab fünf Diener, einen Chauffeur, einen schwarzen Butler und 30 Katzen. Hemingway stand um sechs Uhr morgens auf und arbeitete bis elf. Dann hatte er schon drei Martini on the rocks getrunken. Um elf Uhr vormittags sind wir oft in die Bar »El Floridita« gefahren, um Papa Dobles zu trinken. Das ist ein wundervoll erfrischender Cocktail aus Rum, Limettensaft und sehr viel Zuckersirup. Wenn wir aus der »El Floridita« ins Sonnenlicht hinaustraten, hatte ich allerdings das Gefühl, einen Hammer an den Kopf zu kriegen. Zum Mittagessen gab es wundervollen Amarone aus Verona. Er liebte diesen Wein. Nach dem Essen nahm er ein Sitzkissen vom Sofa, legte es auf den Fußboden und schlief darauf ein. Als ich diesen großen Bären auf der Erde liegen sah, habe ich ein Foto gemacht. Nachdem ich es ihm gebeichtet hatte, musste ich versprechen, das Bild nicht zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Daran habe ich mich gehalten.
Hemingway war von mimosenhafter Empfindlichkeit. Ihnen gegenüber auch?
Einmal gab es einen Eklat. Er war schlechter Laune, weil ihn ein zweitägiger Bootstrip mit New Yorker Kaufhaus-Milliardären deprimiert hatte. In einer Bar fing er an, mit Geldmünzen um sich zu werfen. Er schien es zu genießen, wie die kleinen Jungen sich um die Münzen prügelten. Für mich benahm er sich wie diese alten Imperialisten in Afrika, die den Schwarzen Glasperlen vor die Füße schmeißen. Ich war als junge Frau keck und aggressiv und sagte: »Papa, das finde ich wirklich entsetzlich, was Sie da machen!«
Papa?
Alle nannten ihn Papa. Und dann hat er mich ganz scharf attackiert: Von einer Deutschen lasse er sich so etwas schon gar nicht sagen. Er hatte etwas Sadistisches, wenn er betrunken war – und das war er fast jeden Tag. Ich packte mein Gepäck und wollte am nächsten Morgen abreisen. Als ich um sechs Uhr morgens aus dem Haus schlich, sah er mich und sagte: »Stalin is dead!« Es war der 5. März 1953. Er hatte die ganze Nacht lang Radio Moskau gehört und war tief bewegt. Er wusste, dass jetzt eine weltgeschichtliche Umwälzung bevorstand und hielt mir kleinem blödem deutschem
Mädchen einen langen pädagogischen Vortrag. »Dieser Mann hat euer Berlin gerettet«, sagte er immer wieder.« Mit seinen Exkursen über Stalin hatte er mich wieder gefangen, und ich blieb.
Die Ehe mit Giangiancomo Fetrinelli
In ihrem Büro steht zwar noch eine Schreibmaschine, aber Mobiltelefone nutzt sie: Inge Feltrinelli bestellt eben einen Tisch im »Torre di Pisa«, ihrem Lieblingsrestaurant in Mailand.
Ihr berühmtestes Foto ist auch ein Selbstbildnis. Es zeigt Sie, strahlend lachend, im trägerlosen Badeanzug mit einem sichtlich angetrunkenen Hemingway und dessen Bootsmann.
Um dieses Foto zu inszenieren, habe ich sehr lange antichambrieren müssen. Wir sind fast jeden Tag mit seinem Bootsmann Gregorio Fuentes auf der Pilar rausgefahren. Gregorio war sein Vorbild für Der alte Mann und das Meer. Er ist mit 104 Jahren gestorben. Als eines Tages die Stimmung an Bord nett war, bat ich Gregorio, den 30 Kilo schweren Marlin rauszuholen, der steif gefroren in der Eisbox lag. Ich baute mein Stativ auf, stellte mich zu Hemingway und Gregorio und machte mit Selbstauslöser fünf, sechs Fotos. Das war mein Scoop. Eins der Fotos ging um die Welt. Gregorio wurde darauf abgeschnitten, aber das konnte ich als Newcomerin nicht ändern. Mit dem Bild war meine Karriere gemacht, und ich bekam Berühmtheiten wie Picasso, Simone de Beauvoir und Marc Chagall vor meine Kamera.
Dass Sie oft mit auf den Bildern waren, führte gelegentlich zu Unmut. In der Constanze monierte eine Leserbriefschreiberin: »Liebe Constanze, ich bin eigentlich immer mit Dir zufrieden. Nur regen mich die Berichte Deiner Reporterin Inge Schönthal auf, wie jetzt in Heft 14: ›Constanze war zu Gast bei Hemingway‹. Der Bericht an sich ist ja schon recht, aber muss es sein, dass auf jedem Bild Inge Schönthal mit drauf ist? Nimmt sie immer einen Fotoreporter mit, oder macht sie alles nur mit Selbstauslöser? In diesem Fall kann ich ihr nur gratulieren, wie gut sie sich immer trifft.«
Ich war fotogen, und meine Storys verkauften sich besser, wenn ich als roter Faden mit auf den Bildern war. Oriana Fallaci hat sich auch immer fotografieren lassen, damit sie ihre Artikel besser verkaufen konnte.
Zu den Männern, die Sie fotografierten, gehörten Gary Cooper, Allen Ginsberg und John F. Kennedy. Hatten Sie Affären?
Ich war ein unabhängiges Mädchen und habe natürlich sehr geflirtet. Mit einem Mann zusammen zu sein war aber immer ganz allein meine Entscheidung. Wenn mir die Männer nicht mehr gefielen, habe ich sie verlassen. Ich habe mich durch irgendwelche Männerstorys auch nie von meiner Karriere abbringen lassen. Es waren aber auch alles leichte Geschichten. Die große Liebe war nicht dabei.
Das änderte sich, als Sie 1958 Gast eines Rowohlt-Festes in Reinbek waren.
Am 14. Juli lud mich Ledig-Rowohlt zu einer Party ein, die er zu Ehren seines italienischen Kollegen Giangiacomo Feltrinelli gab. Giangiacomo war damals 32 und galt als miracle man: ein kommunistischer Milliardär, dem es in seinem zweiten Jahr als Verleger gelungen war, von Boris Pasternak die Weltrechte für Doktor Schiwago zu bekommen. In Russland durfte der Roman nicht erscheinen, und die Kommunistische Partei Italiens übte Druck aus, dass Giangiacomo die Finger von diesem Buch lässt. Er widerstand den Pressionen, und so wurde Pasternak der erste Dissident, von dem man etwas zu lesen bekam. Doktor Schiwago ist bis heute der größte Weltbestseller unseres Verlags.
Wurden Sie Feltrinelli vorgestellt?
Nein. Ich kam verspätet, weil ich gerade von einer Fotoreportage aus Ghana zurückgekommen war, und sah den Ehrengast schüchtern und verloren in einer Ecke stehen. Er war schlecht angezogen, rauchte eine Zigarette nach der anderen oder kaute an seinen Nägeln. Ich ging zu ihm und erzählte, dass ich seine Mutter in New York auf einem Ball des Herzogs von Windsor fotografiert hatte. Sie war eine der schönsten und exzentrischsten Frauen Europas, herrschsüchtig, arrogant und sehr verwöhnt. Da sie wegen eines Jagdunfalls ein Glasauge hatte, trug sie zur Camouflage ein Monokel. Der Ball war natürlich sehr hip. Da ich nicht eingeladen war, habe ich mich reingeschmuggelt. Im Tüll meines Ballkleides hatte ich meine Rolleiflex und vier Kilo Fotoausrüstung versteckt. Es gab noch keine Kameras mit eingebautem Blitz, deshalb musste man einen Akkumulator mitschleppen. Über diese Geschichte sind wir ins Reden gekommen.
Nach der Party fuhren Sie Feltrinelli nach Hamburg.
Wir waren die letzten Gäste, und ich bot an, ihn in sein Hotel zu fahren. Vor dem »Vier Jahreszeiten« setzten wir uns auf eine Bank und redeten bis zum Morgengrauen. Diese Bank gibt es heute noch. Wenn ich in Hamburg bin, setze ich mich jedes Mal auf sie.
Wie wirkte Feltrinelli auf Sie?
Introvertiert, scheu, schwermütig, hoch kompliziert und voller Selbstzweifel - ein echter italienischer Intellektueller eben. Was uns einte, war unsere flammende Neugier für Ideen und Menschen.
War es Liebe auf den ersten Blick?
Na ja, das sind solche Klischees. Es war schon eine ungeheure Faszination und Anziehungskraft da, aber er war gerade von seiner zweiten Ehefrau getrennt und fuhr am nächsten Tag allein zum Zelten ans Nordkap. Eine Woche später schrieb er mir eine Postkarte und lud mich nach Kopenhagen ein. Da hat es dann gefunkt. Am Ende des Jahres bin ich zu ihm nach Mailand gezogen. Ein paar Monate später haben wir in Mexiko geheiratet. Da er schon zweimal verheiratet war und Scheidungen in Italien illegal waren, mussten wir die Ehe im Ausland schließen.
Der Verleger Klaus Wagenbach hat Sie mal als »ewigen Kindergeburtstag« beschrieben: fröhlich, übermütig, unverschämt vital, anstrengend, laut. Passte das mit Feltrinellis kontemplativem Wesen zusammen?
Ich war mit meiner frivolen Impertinenz ganz und gar komplementär zu ihm - und damit genau die richtige Frau für ihn. Unser gemeinsamer Nenner war, dass wir das Leben im fünften, sechsten Gang fuhren. Wir brauchten keine fünf Minuten, um unseren Koffer zu packen und Schriftsteller wie Henry Miller oder Karen Blixen zu besuchen. Das Leben mit ihm war so intensiv und im besten Sinne anstrengend, dass ich die Fotografie aufgab. Sie kam mir auf einmal unwichtig vor. Meine flotte Zeit war abgeschlossen. Fortan interessierten mich Autoren und ihre Bücher.
1964 verbrachten Sie mit Ihrem Mann einen Monat bei Fidel Castro in Kuba. Aus welchem Grund?
Castro hatte uns eingeladen, weil er seine Autobiografie schreiben wollte und einen Verleger suchte, der mit seinen Ideen sympathisierte. Wir wohnten in der Villa eines geflohenen Zuckerbarons, die als Gästehaus der Regierung benutzt wurde. Im Park patrouillierten schwer bewaffnete Revolutionsgarden. Ein Butler brachte uns die besten französischen Bordeauxweine aus dem Keller, aber Giangiacomo winkte ab: »Heben Sie diese Flaschen für andere Gäste auf. Wir trinken lieber Rum.« In den ersten zwei Wochen ließ Castro sich nur ein einziges Mal blicken. Man vertröstete uns mit immer neuen Ausreden. Später lud er uns öfter zu sich nach Hause ein. Er lebte in einem schlichten, modernen Bungalow. Auf dem Dach gab es einen kleinen Hühnerstall und einen Basketballkorb. In den Pausen spielten die beiden Männer eins gegen eins. Auch dabei legte Castro seine olivgrüne Militäruniform nie ab.
Castro war damals 38. Wie wirkte er auf Sie?
Er redete wie ein Wasserfall und war kein guter Zuhörer. Er lebte in seiner eigenen Gedankenwelt und schien laut Giangiacomo wenig Marx gelesen zu haben. Zu mir war er sehr charmant und entertaining. Am meisten beeindruckten mich seine unglaublich schönen Hände. Es gab jedoch auch schwere Auseinandersetzungen. Giangiacomo hatte überhaupt keine Hemmungen, Castro scharf zu attackieren, weil er die Homosexuellen in Kuba verfolgen ließ. Er sagte: »Es ist absurd, dass ihr eine Revolution machen wollt, ohne eure konservativen katholischen Konventionen zu revolutionieren.« Für Castro war das eine ungeheuerliche Majestätsbeleidigung. Man spürte, dass es in seiner Umgebung niemanden gab, der ihm widersprach. Giangiacomo imponierte ihm, weil er sich nicht servil verhielt. Ein schwerreicher, unabhängiger Intellektueller, der die Welt verändern will: So jemanden kannte er nicht. Wir luden all die Schriftsteller zu uns ein, die von Castro drangsaliert wurden. Jeden Tag war open house. Wir waren Gäste des kubanischen Staates, aber wir haben uns benommen wie in Mailand.
In Ihrem Verlagshaus in Mailand hatten Sie einen literarischen Salon gegründet, der Furore machte. Die Gästeliste reichte von Max Frisch bis James Baldwin.
Ich war sehr eng mit Gottfried und Brigitte Bermann Fischer befreundet, den Erben des S. Fischer Verlags. Die beiden hatten vor dem Krieg in der Erdener Straße in Berlin ein offenes Haus für Künstler und Wissenschaftler aller Art geführt. An einem Abend war Thomas Mann zu Besuch, am nächsten erschien Albert Einstein in Turnschuhen. Diese Idee habe ich mit einigem Erfolg kopiert.
Als Peter Handke mit langen, fettigen Haaren bei Ihnen erschien, zeigten Sie ihm, wo das Shampoo steht.
Das war deutsche Besserwisserei. Wie kann man nur so etwas Impertinentes sagen? Für diese Unverschämtheit geniere ich mich noch heute.
Mitte der Sechziger lernten Sie auf Sylt Ulrike Meinhof und deren Mann Klaus Rainer Röhl kennen. Welchen Eindruck hatten Sie von den beiden?
Das Haus, in dem ich die beiden kennenlernte, stand zum Verkauf. Außer ein paar Betten und einem Grammofon war es leer. Es lief die ganze Zeit A Whiter Shade of Pale von Procol Harum. Röhl war maliziös und brutal und quälte seine Frau. Sie war eine große Utopistin und hatte einen glänzenden analytischen Verstand. Selbst der superkluge Augstein fand sie toll. Wenn die beiden miteinander diskutierten, war sie ihm absolut ebenbürtig. Hätte Augstein ihr damals eine Kolumne im Spiegel gegeben, dann wäre sie statt Terroristin vielleicht die deutsche Simone de Beauvoir geworden. Aber er hatte wohl Angst vor ihrer Unbedingtheit.
Als Ihnen vergangenes Jahr die Karlsmedaille verliehen wurde, erzählte der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust, wie er Ende der Sechziger in Berlin Ihren Mann kennenlernte: »Einmal schleppte Feltrinelli Dynamitstangen an und übergab sie Rudi Dutschke. Dieser schmuggelte die brisante Ware dann angsterfüllt aus dem Haus - versteckt unter der Matratze des Kinderwagens, in dem Gretchen Dutschkes Baby mit dem biblisch-revolutionären Namen Hosea Che schlief.«
Ich war nicht dabei, deshalb kann ich diese Geschichte nicht bestätigen.
Als Dutschke im April 1968 am Berliner Kurfürstendamm von drei Kugeln an Kopf und Schulter getroffen wurde, fand er in Ihrem Mailänder Haus Unterschlupf.
Der Komponist Hans Werner Henze rief uns an und sagte: »Dutschke hat sein halbes Gedächtnis verloren. In Deutschland ist es zu gefährlich für ihn. Könnt ihr ihn aufnehmen und beschützen lassen?« Giangiacomo hatte sich 1943 mit 17 Jahren als Partisan dem Kampfkorps Legnano angeschlossen, das der 5. US-Armee zugeordnet war. Ein paar dieser Partisanen hatten nach dem Krieg eine Bodyguard-Firma gegründet. Die haben dann sehr gut auf Dutschke aufgepasst. Er war zum Teil ganz weggetreten und dann wieder sehr fröhlich. Ein gebrochener Mann, der furchtbar unter Schock stand. Er klagte über rasende Kopfschmerzen. Ansonsten war er der bescheidenste und dankbarste Gast, den man sich vorstellen kann.
Wann gab es die ersten Risse in Ihrer Ehe?
1967.
1968 hörte Ihr damals sechsjähriger Sohn, wie Ihr Mann zu Ihnen sagte: »Was ich geworden bin, habe ich dir zu verdanken, aber in der Politik muss ich meinen eigenen Weg gehen.«
Wir hatten uns trotz unserer perfekten Allianz auseinandergelebt. Auf die Gründe möchte ich nicht eingehen.
Der Zeitschrift Emma sagten Sie 1984: »Dass wir uns trennten, ist eine Fifty-fifty-Schuld.«
Ich weiß, dass ich eine Menge falsch gemacht habe. Ein Grund der Entfremdung war, dass ich seine politische Radikalisierung nicht verstehen konnte. Er hat sich mehr und mehr vom Verlag entfernt. Er wollte gewaltsam die Welt verändern, ich wollte den Verlag bewahren, der meine Passion geworden war.
Mein Sohn ist nicht frivol wie ich.
1969 übertrug Ihr Mann Ihnen die Verlagsgeschäfte und ging mit gefälschten Papieren in den Untergrund. Die westlichen Geheimdienste verfolgten seine Spuren fortan in Prag, Paris, Kuba und Bolivien. Er gründete eine »Widerstandszelle« namens Gruppo d’Azione Partigiana und soll einen Teil seines Vermögens der Guerilla in Bolivien und Venezuela gespendet haben. Zur Begründung schrieb er: »Als einziger Ausweg, um Faschismus und Imperialismus zu schlagen, bleibt die frontale Auseinandersetzung.«
Er hat die Türen hinter sich zugeschlagen. Ihm reichte das Wort nicht mehr, er wollte die Tat. Deshalb driftete er immer weiter ab.
Nach einem Treffen in Nizza notierten Sie 1970 in Ihr Tagebuch: »Niemand kann ihn mehr verstehen, he’s lost.«
Er war hundertprozentig überzeugt, dass in Italien ein neofaschistischer Staatsstreich mit Unterstützung der NATO bevorstand. Er lebte in einer anderen Welt und war durch meine Argumente nicht mehr zu erreichen. Da war nichts mehr zu machen. Wir haben uns dann nur noch über unseren Sohn unterhalten und den Verlag.
Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?
Zwei Monate vor seinem Tod, am Lago Maggiore. Er war abgemagert und wirkte wie ein gehetztes Tier. Er sagte, es gebe Mordpläne gegen ihn. Er werde enden wie der marokkanische Oppositionspolitiker Ben Barka, der 1965 vom französischen Auslandsgeheimdienst SDECE entführt und ermordet worden war. Am Tag von Giangiacomos Tod waren wir in Lugano verabredet, um eine notarielle Angelegenheit zu besprechen. Als er nicht erschien, fuhr ich mit einem unguten Gefühl nach Mailand zurück.
An diesem Tag, dem 14. März 1972, wurde die verstümmelte Leiche Ihres Mannes auf einem Feld außerhalb Mailands gefunden. Laut Polizeibericht soll er beim Versuch, einen Hochspannungsmast mit 15 Dynamitstangen zu sprengen, durch eine Ungeschicklichkeit sich selbst in die Luft gejagt haben.
Ich habe diese Version nie glauben können. Für mich war es wahrscheinlicher, dass er Opfer eines verschleierten Mordes war. Er wäre niemals so ungeschickt gewesen. Er war kein parfümierter Dandy, sondern ein Mann der Berge. Diesen Strommast hochzuklettern wäre für ihn als Bergsteiger so wie Kaffeetrinken gewesen.
Am Sarg Ihres Mannes gab es eine seltsame Szene. Während die Menge nach Vergeltung rief, sagte Ihre Schwiegermutter: »Endlich hat mein Leiden ein Ende!«
Giannalisa fühlte sich als leidendes Opfer ihres abtrünnigen Sohnes, der ihre Familie, ihren Stand, ihre Kaste verraten hatte. Endlich hatte ihr Trauma ein Ende. Dass ihr Sohn nur 45 Jahre alt geworden war, schien für sie zweitrangig zu sein.
Mit am Sarg stand Sibilla Melega, eine blutjunge Boutiquenverkäuferin, die Feltrinelli 1969 in vierter Ehe geheiratet hatte. Was ist aus ihr geworden?
Sie lebt in Österreich und hat einen Sohn. Mehr weiß ich nicht.
Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft waren bis Anfang diesen Jahres unter Verschluss. Italienische Journalisten haben die Akten jetzt neu ausgewertet - mit spektakulären Resultaten. Demnach hatte die Staats-anwaltschaft aufgrund medizinischer Gutachten erhebliche Zweifel an der Unfalltheorie. Der Grund: An den Händen des Toten waren Male von Fesseln, und der Kopf wies an mindestens zwei Stellen Merkmale von Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand auf.
Ich kenne ein Dutzend Theorien, wer Giangiacomo ermordet haben könnte. Einige sagen, es war der Mossad, weil Giangiacomo Arafat mit Geld unterstützt habe. Andere behaupten, der italienische Staat wollte einen Geldgeber des Terrorismus loswerden. Vielleicht kommt jetzt endlich die Wahrheit ans Licht.
Nach dem Tod Ihres Mannes wurden Sie Präsidentin des Verlages und bis zur Volljährigkeit Ihres Sohnes auch Universalerbin des Vermögens.
Es begannen bleierne Jahre. Der Kopf des Verlages war nicht mehr da, und die Welt hatte sich verändert. Giangiacomo hatte immer gesagt, er wolle notwendige Bücher verlegen, statt in diesem lärmenden Universum zu denen zu gehören, die die Welt nur bunt lackieren. Aber die Verkaufszahlen unserer Bücher waren seit Jahren rückläufig, weil die Themen immer weniger Menschen interessierten. Unsere Bücher passten einfach nicht mehr in die Zeit. In den Jahren nach Giangiacomos Tod mussten wir ein Drittel der Belegschaft entlassen – für einen linken Verlag eine doppelte Katastrophe.
Sie sind seit 40 Jahren Witwe. Warum haben Sie nie wieder geheiratet?
Ich bin seit 40 Jahren mit Tomás Maldonado liiert. Tomás war Rektor der Hochschule für Gestaltung in Ulm und ist ein weltbekannter Design-Theoretiker. Er ist der innigste Freund meines Sohnes und der beste Stiefvater, den ich mir wünschen könnte. Wenn ich auf Reisen bin, sind die beiden richtig glücklich. Dann heißt es: »Die Nervensäge ist weg! Endlich können wir mal ruhig reden!«
Ihr Sohn Carlo hat 1999 ein 500-Seiten-Buch über seinen Vater veröffentlicht. Darin zitiert er aus einem Tagebuch, das er als Sechsjähriger geschrieben hat. Ein Eintrag über Rudi Dutschke lautet: »Rudi macht mit mir Quatsch und zieht sich das Hemd aus, um die Narben der Schüsse von Josef Bachmann zu zeigen. Ich soll zu ihm gesagt haben: ›Jetzt gehst du nach Deutschland zurück, nimmst eine Maschinenpistole und legst ihn um. Ta-ta-ta-ta.‹ Dieser Satz erobert sich einen Platz im Stern in der Rubrik ›Zitat der Woche‹.« Das wirkt für einen Sechsjährigen gespenstisch frühreif.
Carlo hat natürlich ein schweres Leben gehabt mit dieser schwierigen Familie. Er ist nicht frivol wie ich, sondern ein ernster Mann. Er hat den gleichen Charakter wie sein Vater. Politisch ist er nicht so ideologisch und wild engagiert, sondern kühler, rationaler - wie die Leute heute so sind. Er fährt genauso gefährlich schnell Auto wie sein Vater, ist genauso schlecht angezogen und hat die gleichen minimalen materiellen Bedürfnisse.
Ihr Sohn ist Besitzer des Verlages, Sie Präsidentin. Funktioniert das?
Wenn Vater und Sohn gemeinsam einen Verlag führen wollen, ist das schon prekär genug. Bei Suhrkamp ist das mit Siegfried und Joachim Unseld ja dann auch spektakulär schiefgegangen. Die Konstellation Mutter und Sohn ist noch schlimmer. Heute Vormittag haben Carlo und ich uns stundenlang gekracht, dass die Fetzen flogen. Aber wir raufen uns aus Notwendigkeit immer wieder zusammen. Ich hatte das große Glück, dass er sich schon als Schüler für den Verlag interessiert hat. Er hätte ja auch Drogen nehmen oder Playboy auf einer Luxusyacht werden können.
Wer von Ihnen beiden hat das letzte Wort?
Ich werde hoffentlich noch im Rollstuhl Präsidentin sein, aber mein Sohn ist the big boss. Wir streiten aber nur um tausend kleine Banalitäten. Bei den wirklich großen Entscheidungen sind wir immer d’accord. Ich kümmere mich um die Präsentation von Autoren, um internationale Kongresse und Buchhandlungseröffnungen. Diese Außenarbeit langweilt meinen Sohn oft. Deshalb kommen wir uns nicht in die Quere.
Streiten Sie über Bücher?
Unentwegt. Er wollte zum Beispiel die große Autobiografie von Keith Richards verlegen. Ich war dagegen, weil der Stoff mich nicht interessiert und die Rechte unglaublich teuer waren. Er hatte den besseren Instinkt - das Buch wurde für uns ein großer Verkaufserfolg.
Sie verlegen seit 54 Jahren Bücher. Haben Sie Lieblinge?
Bei dieser Frage habe ich immer totalen Gedächtnisschwund, aber ich zwei Bücher will ich Ihnen trotzdem nennen: Unter dem Vulkan von Malcolm Lowry und Der Leopard von Lampedusa. Aus dem Leopard stammt einer meiner Lieblingssätze: »Es muss sich alles ändern, damit sich nichts ändert.«
Sie führen seit den Fünfzigerjahren Tagebuch. Warum verlegt eine Verlegerin nicht ihr eigenes Tagebuch?
Ich hätte etwas zu erzählen, das stimmt, aber ich habe zu viel Respekt vor wirklich guten Autoren. In diesem Punkt bin ich sehr selbstkritisch. Ich finde mich nicht begabt genug. Mein Freund Ledig-Rowohlt sagte immer: »Schätzchen, wir sind Anekdotenerzähler. Das Schreiben sollten wir Autoren mit großen Ideen überlassen.« Hinzu kommt, dass ich die Hälfte meiner mehr als 50 Tagebuchbände nicht veröffentlichen könnte, ohne indiskret oder beleidigend zu sein. Ich schreibe ja auch auf, wer furchtbaren Blödsinn erzählt oder eine hässliche Krawatte trägt. Da stehen schon lustige Sachen drin.
Was geschieht nach Ihrem Tod mit Ihren Tagebüchern?
Per Testament zu bestimmen, dass sie verbrannt werden sollen, wäre dann doch zu pathetisch. Ich bin ja nicht Kafka. Vielleicht ist es für meine beiden Enkel ganz lustig, in 30 Jahren zu lesen, was für eine verrückte Großmutter sie hatten.
Sie sind 81 Jahre alt. Was halten Sie für Ihre größte Leistung als Verlegerin?
Giangiacomo hat mit Anfang 30 in zwei Jahren zwei Weltbestseller verlegt, die heute noch Evergreens sind: Doktor Schiwago und Der Leopard. So ein Glücksfall passiert einem Verlag nur einmal. Die größte Leistung ist, dass der Verlag 40 Jahre nach Giangiacomos Tod weiter besteht und einer der wichtigsten Europas ist - und dass wir in Italien das größte Distributionssystem für Bücher geschaffen haben. Als Giangiacomo starb, hatten wir sieben Buchhandlungen. Heute gehören uns 110. In unseren Buchhandlungen finden jedes Jahr mehr als 3000 Events statt. Damit sind wir eine der größten Kulturinstitutionen des Landes. In einem Moment, wo auf der ganzen Welt Buchhandlungen schließen, eröffnen wir jeden Monat neue. Und das, obwohl die Italiener Lesemuffel sind. Niemand würde hier zehn Euro Eintritt für eine Lesung zahlen. Dass die Hälfte der Bevölkerung überhaupt keine Bücher liest, ist, so simpel es klingt, auch eine Wetterfrage. Island hat prozentual die meisten Leser, weil es dort immer so dunkel ist.
Mögen Sie E-Books?
Wir müssen sie leider im Programm haben, weil sie für den Umsatz immer wichtiger werden, aber ich bin ein Dinosaurier aus der Gutenberg-Zeit. Ich kann und will keine E-Books lesen. Ich würde bestimmt immer auf den falschen Knopf drücken. Für mich ist ein Buch ein sensorisches Objekt. Ich will das Papier anfassen und an ihm riechen können.
Nichtleser assoziieren mit Ihrem Namen die »Villa Feltrinelli« am Gardasee, heute eines der teuersten Luxushotels der Welt. Warum haben Sie Ihr Familienhaus verkauft?
Ich habe wunderbare Zeiten in dieser Villa erlebt. Zu unseren Verlagsjubiläumsfesten kamen Hunderte Gäste, von Ingeborg Bachmann bis Umberto Eco. Ich war aber nach Giangiacomos Tod nicht flüssig genug, um die Verwandtschaft auszubezahlen. Das ist ein riesiges Gebäude mit 50 Zimmern. Man kann ohne Personal gar nicht drin wohnen.
Wie viele Buchmessen in Frankfurt haben Sie hinter sich?
52. Ich habe noch keine einzige versäumt. Ich bin immer schon einen Tag vorher da, weil abends das berühmte Dinner von Peter Mayer stattfindet, dem früheren CEO von Penguin Books. Da treffen sich die 30, 40 tollsten Verleger der Welt in einer sehr deutschen Kneipe namens »Zur schönen Müllerin«. Man sitzt an langen Tischen und isst Kartoffeln mit grüner Soße - und alle finden das herrlich. Jeder hält eine kleine Rede und sagt, wie wundervoll wir alle sind und wie schlecht das Buchgeschäft läuft.
Fotos: Julian Baumann