Ist es radikal, zuhause abzutreiben?

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland über das Strafgesetzbuch geregelt – und werden von den Betroffenen als erniedrigend empfunden. Wie würden Abtreibungen ablaufen, wenn die Schwangeren selbst darüber entscheiden dürften? Fakt ist: Für selbstorganisierte Abbrüche benötigt man keine Stricknadeln mehr, sondern nur noch eine Pille.

Foto: Paula Winkler

Vor rund einem Monat hat Argentinien als größtes lateinamerikanisches Land Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legalisiert und über das Gesetz eine Kostenübernahme garantiert. Im März 2020 wurde in Neuseeland die Regelung zu Abtreibungen, die von 1977 stammte, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Schwangerschaftsabbrüche sind dort seitdem eine medizinische Leistung. In Irland wurde 2019 das strenge Abtreibungsrecht, das Teil der irischen Verfassung war, mit einer Mehrheit von 66,4 Prozent durch ein Referendum beendet. Es hatte zuvor Menschen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollten, dazu gezwungen, sich den Abbruch abseits des Gesundheitssystems zu organisieren oder dafür ins Ausland zu reisen. Die Debatte über das Ende des Abtreibungsverbotes hatte der Tod von Savita Halappanavar 2012 neu entfacht, die in einem irischen Krankenhaus starb, weil die Ärzt*innen sich aufgrund der bestehenden Rechtslage weigerten, ihre unvollständige Fehlgeburt medizinisch zu beenden. In dem katholisch geprägten Land wurde im Zuge der langen Kampagne für eine Liberalisierung nicht nur für eine Zukunft geworben, in der Schwangere sicher abtreiben können, sondern zugleich das Unrecht thematisiert, das all die Jahrzehnte zuvor geschehen war.

Deutschland hat, anders als nach wie vor häufig angenommen wird, keine liberale Regelung. Abbrüche sind in Deutschland nicht legal. In (West-)Deutschland sind sie seit 150 Jahren über das Strafgesetzbuch geregelt. Ab 1972 hatte das »Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft« Abbrüche in der DDR legalisiert, mit der Wiedervereinigung wurde diese Praxis jedoch beendet. Das gesamtdeutsche Modell, das mit einem reformierten §218 StGB eine Fristenlösung vorsah, wurde vom Bundesverfassungsgericht 1992 gekippt. Das Gericht sah unter anderem eine »grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes« und verlangte eine strengere Regelung. Paragraf 218 StGB ermöglicht bis heute theoretisch, dass eine Person gegen ihren Willen zum Austragen einer Schwangerschaft gezwungen werden kann. Bricht eine Schwangere ihre Schwangerschaft eigenständig ab, kann sie in Deutschland zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Schwangerschaftsabbrüche werden nur dann nicht geahndet, wenn die engen Vorgaben des Gesetzes eingehalten werden, das unter anderem eine Beratungspflicht und eine mindestens dreitägige Bedenkzeit zwischen Beratung und Abbruch enthält.

Eine Schwangerschaft zu erzwingen, ist die größtmögliche Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität einer Person, die nicht schwanger sein möchte

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Wir haben also ein Gesetz, das der Maxime folgt, dass Dritte darüber entscheiden, ob jemand eine Schwangerschaft austrägt. Eine Schwangerschaft zu erzwingen, ist jedoch die größtmögliche Verletzung der körperlichen und seelischen Integrität einer Person, die nicht schwanger sein möchte. Dass ein Gesetz ermöglicht, sich über den erklärten Willen einer Schwangeren hinwegzusetzen und Gewalt erlaubt, damit eine Schwangerschaft ausgetragen wird, sollte von einer aufgeklärten Gesellschaft zurückgewiesen werden.

Anders als sogar nun in Irland, sind die Kosten für einen Abbruch in Deutschland in der Regel selbst zu zahlen. Sie können einen beträchtlichen Teil des Monatseinkommens fressen, da sie sich hier auf etwa 350 bis 600 Euro belaufen, manchmal sogar auf bis zu 1000 Euro für operative Eingriffe. Sie werden von den gesetzlichen Krankenkassen nur auf Antrag bei einem geringen Netto-Einkommen von bis zu 1258 Euro übernommen. Durch die Privatisierung der Kosten tragen in einem vermeintlich solidarischen Gesundheitssystem die Personen, die schwanger werden können – meistens sind es cis Frauen –, die finanziellen Risiken von Sex allein. Männer werden weder in die Verantwortung genommen noch mit Scham belegt.

Während viele Länder beim Thema reproduktive Rechte große Fortschritte machen, steckt die politische Debatte darüber in Deutschland aktuell bei einem Unterparagrafen fest, der Ärzt*innen das sachliche Informieren über den Eingriff untersagt. Nach Paragraf 219a StGB sind in den vergangenen Jahren immer wieder Mediziner*innen angezeigt und verurteilt worden, die auf ihren Websites darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Man darf in Deutschland Abbrüche vornehmen lassen, aber nicht darüber reden. Es ist ein Verdienst der Allgemeinärztin Kristina Hänel (hier ein Porträt über sie), dass der Kampf um reproduktive Rechte in Deutschland wieder zu einer größeren gesellschaftlichen Debatte geworden ist. Hänel wehrte sich öffentlich gegen die erste Verurteilung durch das Amtsgericht Gießen 2017, das zu der Auffassung kam, dass sie das »Werbeverbot« verletzt habe, indem sie über darüber informiert habe, dass und wie sie in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Paragraf 219aStGB kriminalisiert Ärzt*innen für ihre Pflicht, ratsuchende Patient*innen sachlich aufzuklären, und schränkt sie in ihrer Berufsfreiheit ein.

Die große Koalition konnte sich trotz öffentlichen Drucks 2019 nicht darauf verständigen, den Paragrafen zu streichen, um damit zu beenden, dass Abtreibungsgegner*innen ihn als systematische Einschüchterungstaktik gegenüber Ärzt*innen missbrauchen. Die Strafanzeigen nach Paragraf 219a gehen zu großen Teilen auf die zwei Männer Klaus Günter Annen und Yannick Hendricks zurück. Letzterer bezeichnete in einem taz-Interview sein Vorgehen als »Hobby«. Für die betroffenen Ärzt*innen haben die Anzeigen Prozesstermine, Rechtskosten und Geldstrafen zur Folge. Die Bundesregierung verabschiedete schließlich einen Kompromiss, der Fachpersonen nun erlaubt, auf ihrer Website anzugeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Jedoch sieht die absurde Regelung vor, dass sich Patient*innen über andere Quellen über die Methoden informieren. Um zu erfahren, ob in der Praxis medikamentöse Abbrüche, Absaugungen oder Ausschabungen angeboten werden, müssen Schwangere in der Praxis anrufen. Aufgrund der Anfeindungen und Bedrohungen, die Ärzt*innen durch Abtreibungsgegner*innen erfahren, ist es für Schwangere oft mühevoll, überhaupt herauszufinden, wo Abbrüche möglich sind, da nur wenige Ärzt*innen diese Angabe öffentlich machen.

Wieder einmal muss bei einer Rechtsfrage, die ein Gleichberechtigungsthema berührt, das Bundesverfassungsgericht tätig werden

In der dritten Januarwoche 2021 wurde das Urteil gegen die Allgemeinärztin Kristina Hänel vom Oberlandesgericht Frankfurt bestätigt und ihre Revision zurückgewiesen. Nun ist der nächste rechtliche Schritt für Hänel und ihre Anwält*innen eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch die Berliner Ärztin Bettina Gaber, die 2019 nach Paragraf 219a verurteilt wurde, hat bereits in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wieder einmal muss bei einer Rechtsfrage, die ein Gleichberechtigungsthema berührt, das Bundesverfassungsgericht tätig werden, da die Bundesregierung das bestehende Problem nicht lösen will – oder keines sieht.

Paragraf 219a ist im internationalen Vergleich etwas Einzigartiges. Den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zusätzlich über die Ebene der ärztlichen Informationsmöglichkeiten zu beschränken, passt zum politischen Diskurs in Deutschland über sexuelle Selbstbestimmung. Denn dieser bewegt sich irgendwo zwischen verlogen, verklemmt, feige und bevormundend. In Deutschland vermeiden viele Politiker*innen eine Positionierung und weichen der Frage aus, ob Paragraf 218 StGB, der Schwangerschaftsabbrüche im Strafrecht festhält, Bestand haben sollte in einer Gesellschaft, die Gleichberechtigung als Wert anerkennt. Selbst in sich als progressiv verstehenden Gruppen wird bei der Abtreibungsfrage häufig betont, die gegenwärtige gesetzliche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch sei der Kompromiss, der den gesellschaftlichen Frieden wahre. Aber wie kann man von Frieden sprechen, wenn diejenigen, die den Eingriff wählen, stigmatisiert und schlecht behandelt werden und bangen, wie sie den Abbruch bezahlen sollen? Wie kann man von Frieden sprechen, wenn Ärzt*innen kriminalisiert werden? Wie kann man von Frieden sprechen, wenn Abtreibungen auf der einen Seite erschwert werden, aber auf der anderen Seite bei bestimmten pränatalen Diagnosen quasi erwartet wird, dass die Schwangerschaft abgebrochen wird? In Frieden leben die, für die diese Regelung in ihrem Leben keinerlei konkrete Bedeutung hat.

Die politische Auseinandersetzung über Schwangerschaftsabbrüche wird mit dem Verweis auf den gesellschaftlichen Frieden und die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes seit Jahrzehnten verweigert, obwohl anderen gesellschaftlichen Themen mit moderneren Haltungen begegnet wird und Gesetze reformiert werden. Frauen sollen Konzerne führen können, dafür gibt es nun ein Gesetz. Aber über ihre Körper bestimmen sie nicht allein? Es lässt sich nicht genau sagen, ob Regierungspolitiker*innen das Thema so unangenehm ist – es geht schließlich um Sex, Gebärmütter und ein bisschen Blut –, dass sie es lieber aussparen, oder ob sie ganz bewusst einer Diskussion aus dem Weg gehen, damit ihre reaktionäre Haltung möglichst wenig Aufmerksamkeit bekommt.

In der politischen Debatte um Paragraf 219a war für die Union ganz besonders der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Verantwortung, dessen Ministerium sich theoretisch um die reproduktive Gesundheit in Deutschland kümmern und Lösungen für die bestehenden Versorgungsprobleme erarbeiten müsste. Denn die Möglichkeiten, eine Schwangerschaft abzubrechen, werden in Deutschland immer weniger. »Kliniken müssten einen Sicherstellungsauftrag erfüllen«, sagt Kristina Hänel in einem Gespräch mit mir in der vergangenen Woche. »Stellen so auszuschreiben, dass neu eingestellte Ärzt*innen Abbrüche durchführen, wäre der Anfang.« Spahns Ministerium gab lieber eine Studie in Auftrag, um etwaige psychische Folgen von Abbrüchen zu erheben. Mit welchem Ziel?

Der Feldzug gegen die reproduktive Selbstbestimmung in Deutschland ist leise, denn er geschieht vor allem über politische Untätigkeit

Es gibt bemerkenswerterweise keine journalistischen Interviews mit Jens Spahn, in denen er intensiv über die gesundheitliche Versorgung von Schwangeren befragt wird. Probleme gibt es nicht nur in der regionalen Versorgung mit Abbruchsmöglichkeiten, sondern auch in der Hebammen- und Geburtshilfe. Liegt es an Spahn, lässt er diese Fragen nicht zu? Liegt es am Desinteresse des politischen Journalismus, der in Deutschland eher eine Männerdomäne ist und in dem feministische Perspektiven selten sind? Als 2019 in der ARD-Talkshow von Anne Will unter dem Titel »Recht auf Leben und Selbstbestimmung« über Paragraf 219a diskutiert wurde, nahm nicht der Bundesgesundheitsminister an der Runde teil, sondern der CDU-Politiker Philipp Amthor, der weder Gesundheits- noch Gleichstellungsexperte ist, aber Abtreibungsgegner*innen wie den »Marsch für das Leben« und den Verein »Durchblick« unterstützt. Ich denke, dass Spahn bewusst auf diesen öffentlichen Auftritt verzichtet hat, weil er sich bei diesem Thema nicht hätte profilieren können. Die Argumente für die Gängelung von Schwangeren und Ärzt*innen sind zu dünn. Die Gesellschaft ist längst weiter.

Der Feldzug gegen die reproduktive Selbstbestimmung in Deutschland ist leise, denn er geschieht vor allem über politische Untätigkeit. Je nach konfessioneller Ausrichtung oder Willen der Klinikleitung bieten selbst zahlreiche Krankenhäuser keine Abbrüche an. Auch viele niedergelassene Ärzt*innen scheuen die Stigmatisierung, die nicht nur ihre Patient*innen trifft. »Die strafrechtliche Regelung hat einen enormen Abschreckungseffekt auf uns Ärzt*innen«, sagt die Ärztin Alicia Baier, die in Deutschland die »Doctors for choice« gegründet hat.

Doctors for Choice ist ein deutschlandweites Netzwerk aus Ärzt*innen, Studierenden und weiteren Gesundheitsberufen, die sich u.a. dafür einsetzen, dass Abbrüche Teil der Ausbildung werden und den Versorgungslücken in Deutschland begegnet werden kann. Die Gruppe organisiert seit Längerem Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Ärzt*innen und Studierende. Derzeit sind etwa 50 Ärzt*innen und 40 weitere Menschen aus dem Gesundheitsbereich dort Mitglied.

Da Abbrüche eine freiwillige Leistung von Ärzt*innen sind und sie nicht dazu verpflichtet werden können, diese durchzuführen, wird die Versorgungslage in Deutschland zunehmend schlechter. Ärzt*innen, die in Rente gehen, finden keine Nachfolger*innen für ihre Praxen, sagt Baier. Die Frauenärztin und Pro-Familia-Beraterin Gabrielle Stöcker aus Köln sagt mir am Telefon, dass manche Praxen den Eingriff plötzlich nur noch bis zur zehnten statt bis zur erlaubten zwölften Woche anbieten würden und auch darüber hinaus das Angebot schmaler werde, etwa weil  Ärzt*innen in Rente gehen.

Auch in Deutschland müssen Schwangere in einigen Bundesländern immer weitere Wege auf sich nehmen, um eine Praxis zu erreichen, die ihnen hilft. »Hoffnung habe ich für die Zeit in zirka zehn Jahren. Wenn die Medizinstudierenden und jungen Assistenzärzt*innen, die sich jetzt zunehmend für das Thema interessieren, ihre eigenen Praxen haben, wird die Versorgung vielleicht wieder besser werden«, meint Alicia Baier. Sie setzt sich mit Doctors for choice dafür ein, dass Schwangerschaftsabbrüche endlich ein fester Bestandteil der gynäkologischen Ausbildung werden.

Viele Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben, sprechen von einer entwürdigenden Erfahrung

Vielleicht würde die Normalisierung im Studium auch dazu beitragen, dass manche Ärzt*innen ihren Patient*innen empathischer begegnen. Viele Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben, sprechen von einer entwürdigenden Erfahrung, in der sie sich entmündigt gefühlt hätten und herablassend behandelt worden seien. In ihrem Bemühen, einen Abbruch zu erhalten, muss eine Schwangere mit mehreren fremden Personen sprechen – Beratungsstelle, Krankenkasse, oft eine fremde Praxis –, bevor ihr gestattet wird, ihr Leben ohne Schwangerschaft fortzusetzen. »Es ist keine private Angelegenheit, aber es sollte eine sein«, sagt die Ärztin Gabrielle Stöcker. Die Art, wie Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland reguliert sind, ist eine Gängelung und Machtdemonstration eines Systems, das die Idee wirklicher Gleichberechtigung abwehrt.

Könnte es ganz anders sein? Könnten Schwangerschaftsabbrüche schön sein? Es gibt schließlich keinen Grund – und auch kein Gesetz! –, demzufolge ein Abbruch eine erniedrigende und schlechte Erfahrung sein sollte, die man sofort verdrängen möchte. Das am häufigsten beschriebene Gefühl nach Schwangerschaftsabbrüchen ist einer Studie des Wissenschaftsteams um Corinne Rocca zufolge auch fünf Jahre später Erleichterung, und die Entscheidung wird von den Frauen mehrheitlich nicht bereut. Wie unter anderem die umfassende Studie »frauen leben 3« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gezeigt hat, treffen Frauen eine bewusste biografische Entscheidung, um »die Voraussetzungen für Familie unter möglichst guten Bedingungen für die berufliche Weiterentwicklung erst noch zu sichern«.

Wie würden Schwangerschaftsabbrüche ablaufen, hätten diejenigen, die sie betreffen, sich das ausgedacht? Versuchen Sie mal, sich vorzustellen, wie Sie selbst in dieser Situation behandelt werden möchten. Denken Sie an einen notwendigen medizinischen Eingriff. Was würden Sie sich wünschen? Was würde Ihnen helfen, damit Sie sich wohlfühlen?

Über die »Abtreibungspille«, die aus zwei Medikamenten besteht, die mit zeitlichem Abstand eingenommen werden, können frühe Schwangerschaftsabbrüche schon heute zuhause durchgeführt werden. Die erste Pille wird in der Praxis genommen, die zweite zuhause. Die Schwangerschaft endet da. Man kann allein sein oder zusammen mit Menschen, deren Anwesenheit man sich wünscht. Auf diesem Weg können Schwangere sich eine Atmosphäre des Vertrauens, des Respekts oder der Urteilsfreiheit schaffen. Der medikamentöse Abbruch kommt nur bis zur neunten Schwangerschaftswoche in Frage, ist jedoch eine sichere Methode.

In Berlin hat die Gruppe »Ärztinnen pro Choice« – nicht identisch mit Doctors for choice – gerade das Modellprojekt »Telemedizinisch begleiteter medikamentöser Schwangerschaftsabbruch« initiiert, um darauf zu reagieren, dass Schwangere in der Pandemie noch einmal zusätzlich darin eingeschränkt sind, die Vielzahl von Terminen rund um einen Abbruch wahrzunehmen, beispielsweise weil sie in Quarantäne oder durch fehlende Kinderbetreuung nicht mobil sind. Die erste Tablette nehmen sie bei der telemedizinischen Begleitung dann in digitaler Anwesenheit der Ärztin, erklärt die Frauenärztin Dr. Jutta Pliefke, die Mit-Initiatorin des Modellprojektes ist. Das Ärztinnen-Team steht zudem rund um die Uhr telefonisch bereit, sollte es zu Komplikationen kommen. Dass eine Schwangere nach einem Abbruch zuhause im Krankenhaus weiter behandelt werden muss, sei extrem selten.

Die Möglichkeit, in den ersten Schwangerschaftswochen medikamentös abzubrechen, hat Abbrüche abseits der regulären medizinischen Versorgung sehr viel sicherer gemacht. Sie könnte, wenn diese Möglichkeit insbesondere in Ländern mit Abtreibungsverboten Verbreitung findet, Leben retten. Selbstorganisierte Abbrüche benötigen keine Stricknadeln mehr, sondern nur noch eine Pille. Feministische Gesundheitsorganisationen wie »Women on Web« versorgen daher weltweit Menschen, die in Ländern mit Abtreibungsverboten leben, mit Medikamenten und Beratung. Auch einige Schwangere, die prinzipiell die Möglichkeit hätten, in ärztlichen Einrichtungen abzubrechen, wählen manchmal den selbstorganisierten Abbruch. Women on web zufolge hat die Organisation 2019 rund 1200 Hilfsanfragen aus Deutschland bekommen. Die Nachfrage entstand nicht nur durch die schlechte Versorgungslage in einigen Regionen, sondern auch, weil ein Schwangerschaftsabbruch als Ereignis begriffen wird, das nach den eigenen Vorstellungen ablaufen soll, und die vorhandenen Möglichkeiten zurückgewiesen werden. Die Frauen, die sich an Women on web wenden, nehmen dafür auch die Illegalität in Kauf. Die US-Wissenschaftlerinnen Alison Ojanen-Goldsmith und Sarah Prager haben sich in einer qualitativen Studie mit den Beweggründen für »alternative Abtreibungen« beschäftigt und festgestellt, dass die meisten Studienteilnehmer*innen zuvor eine Erfahrung mit einem Schwangerschaftsabbruch in einer Klinik gemacht und die Erfahrungen dort sie dazu bewegt hatten, einen weiteren Abbruch anders zu managen.

Eine Schwangerschaft abbrechen zu können unter nicht-erniedrigenden, sondern guten Bedingungen, ist nicht radikal, das ist das Mindeste, wenn die Würde und Gesundheit von Menschen, die schwanger werden können, geachtet werden sollen

Das Ideal in einer wirklich gleichberechtigten Welt wäre nicht nur, dass Schwangerschaftsabbrüche überhaupt flächendeckend, sicher und kostenlos möglich wären, sondern auch, dass sie selbstbestimmt ablaufen, in einem einfühlsamen Setting und mit Menschen, denen man vertraut. Eine Schwangerschaft abbrechen zu können unter nicht-erniedrigenden, sondern guten Bedingungen, ist nicht radikal, das ist das Mindeste, wenn die Würde und Gesundheit von Menschen, die schwanger werden können, geachtet werden sollen. Eine schlechte Erfahrung reduziert nicht die Zahl der Abbrüche, aber sie wirkt als Strafe für etwas, das nach §218a StGB »straflos« sein sollte.

In Diskussionen zu diesem Thema heißt es manchmal, dass Menschen, die nicht schwanger werden können, nicht mitreden und mitentscheiden sollten: »No uterus, no opinion.« Sie sind nicht betroffen und können sich daher nicht vorstellen, was es bedeutet, ungewollt schwanger zu sein, glauben manche. Aber das trifft den Kern nicht. Die repressive Regelung von Abtreibungen hat nichts mit Unwissen, Desinteresse und fehlendem Vorstellungsvermögen zu tun. Es geht um Macht, Kontrolle, den Anspruch der Überlegenheit und die Aufrechterhaltung einer alten sozialen Ordnung. Politiker*innen können sich noch so modern geben und Instagram gekonnt nutzen – an der Frage, ob sie Schwangeren die volle körperliche Selbstbestimmung gewähren wollen, zeigt sich, ob sie tatsächlich allen Menschen die gleiche Freiheit zugestehen wollen oder nicht.

Dass noch immer Menschen, die man bei anderen Themen halbwegs ernstnehmen kann, behaupten, bei einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen würden Schwangere bis kurz vor der Geburt abtreiben, ist eine rhetorische Verzweiflungstat. Wer tatsächlich glaubt, Schwangere würden zu großer Zahl derart spät einen Abbruch in Erwägung ziehen, hat sich in eine dystopische Fantasiewelt verabschiedet und so wenig Menschenkenntnis wie eine Wattwurmlarve. Es ist höchste Zeit, diese Pseudo-Argumente einzustellen, denn in der Gesundheitsversorgung von Schwangeren gibt es viel tun. Wer sich um das Wohl von Babys und Kindern sorgt und nicht erträgt, dass wir heute selbst entscheiden können, ob, wann und wie viele Schwangerschaften wir austragen, kann sich mühelos um eine besser ausgestattete Geburtshilfe, gute Kitas oder die Kindergrundsicherung kümmern.

Plastikembryos in Briefumschläge zu legen und zu verschicken bewirkt keine einzige politische Verbesserung, es belastet die Umwelt mit Müll.

Dass eine Schwangerschaft zuhause endet, ist keine radikale Idee, sondern vor allem tägliche Realität. Millionen Schwangere verlieren ihre Schwangerschaften jedes Jahr zuhause, auf der Arbeit, auf Restaurant-Toiletten. Fehlgeburten sind häufig ungewollt, eine große Zahl geschieht jedoch unbemerkt, da die Schwangerschaft endet, bevor sie festgestellt wurde. Es ist nicht Plan der Natur, dass jede befruchtete Eizelle ein Kind wird. Die Fertilitätsforschung geht davon aus, dass etwa zwei Drittel der befruchteten Eizellen sich nicht zu intakten Embryonen entwickelt und etwa die Hälfte davon sich nicht einmal in der Gebärmutterschleimhaut einnisten kann. Viele frühe Fehlgeburten werden als Menstruation wahrgenommen. In ihrem Buch Everything below the waist. Why healthcare needs a feminist revolution beschreibt die Journalistin Jennifer Block, dass, bevor Abtreibungen etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Namen bekamen und stigmatisiert wurden, auch davon gesprochen wurde, »die Monatsblutung wiederherzustellen« oder »den Lauf der Dinge zurückzubringen«. Schwangerschaftsabbrüche waren nicht immer stigmatisiert.

Während bei Abtreibungen so getan wird, als bräuchten sie eine strenge medizinische Überwachung, erleben Frauen mit Fehlgeburten die medizinische und psychologische Begleitung dabei häufig als unzureichend. Während über Fehlgeburten gesagt wird, sie gehörten zum Leben, sollen Abtreibungen möglichst in keinem Leben vorkommen. Bei Fehlgeburten wird der Verlust abgewertet, bei Abbrüchen wird das Ende einer Schwangerschaft überhöht. Dabei verhalten sich Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüche wie Schwestern: Sie werden ähnlich häufig erlebt – von Menschen, die keine Kinder haben, keine Kinder möchten oder bereits Eltern sind. Sie werden aus Scham verschwiegen. Sie haben oft gemeinsam, dass die ehemals Schwangeren sich alleingelassen fühlen und hoffen, dass sie, wenn sie die Situation noch einmal durchleben, bei diesem Mal anders behandelt werden. Nach Abbrüchen und nach Fehlgeburten kehrt die Menstruation zurück. Der Lauf der Dinge geht weiter. Wir bluten und leben.

Diejenigen, die Schwangerschaften bewusst verabschieden, und diejenigen, die sie austragen, wissen, wann die richtige Zeit dafür ist. Sie wissen, wie ein guter Rahmen für ihre Schwangerschaften und Abbrüche aussehen würde. Und sie wissen, dass es ihr Recht ist. Die argentinische Gruppe »Lesbianas y Feministas« formuliert diese Rechtsauffassung so: »Frauen haben bereits entschieden, dass Abtreibungen legal sind.« In Deutschland entscheiden gerade ebenfalls die Bürger*innen, dass Information legal ist: Da Kristina Hänel es nicht mehr darf, veröffentlichen sie die medizinische Aufklärung über Schwangerschaftsabbrüche auf ihren Websites, verbreiten sie auf Infotafeln über Instagram, Facebook und Twitter.