Reiner Calmund

Wenn Reiner Calmund plötzlich vom Bildschirm verschwinden würde, und keiner hätte es bemerkt, wäre er dann wirklich weg?

Nehmen wir einmal an, Reiner Calmund würde von heute auf morgen aus der Öffentlichkeit verschwinden. Und zwar richtig. Keine Interviews mehr über Fußball, nirgendwo. Keine Sendungen mehr im Fernsehen, in denen er kocht oder isst – genauso wenig wie Sendungen, in denen er nicht kocht und nicht isst, dafür aber seine nackten Speckringe auf Fitnessgeräte wuchtet und versucht, abzunehmen. Keine Kolumnen mehr, keine PR-Auftritte, keine Motivationsvorträge, keine »Botschafter«-Posten für irgendwas, nicht mal für Kinderschutz, Behindertenfußball oder Schulsport.

Das irre ist: Reiner Calmund würde immer noch existieren. Irgendwo da draußen wäre er noch da. Und lebte. Sehr gut sogar, wie man annehmen kann. Von seinem Verein Bayer Leverkusen, für den er sich 28 Jahre lang krummgemacht hat, erhält er eine Rente, die so schlecht nicht sein kann, genau wie seine Honorare der letzten Jahre. Für die Villa auf Mallorca und die philippinische Küchenhilfe sollte es weiterhin reichen; auch die geliebten Thailand-Reisen wären nicht gefährdet. Statt an zwei Tagen die Woche würde er an sieben Tagen die Woche zu Hause schlafen, bei seiner dritten, relativ jungen Frau, die er selbst gern als »Lottogewinn« bezeichnet. Vielleicht würde er mit ihr noch ein Kind zeugen, was sein erklärter Wunsch ist. Das Ding ist nur: Reiner Calmund selbst glaubt nicht, dass er noch existieren würde, wenn er all die oben genannten Dinge nicht mehr tut. Rainer Calmund glaubt, er wäre dann ausgelöscht. Wie sonst könnte man seinen manischen Drang erklären, sich medial immer weiter
zu vervielfachen? Zusätzlich zu all dem existiert er auf Second Life, wo er sich ein virtuelles Heim namens »Calli Island« gebaut hat – selbstverständlich mit Fußballstadion. Er existiert auf der Website Calli.tv, wo er regelmäßig Videoblogs veröffentlicht, die er auch auf Youtube laufen lässt. Er existiert in den Netzwerk-Communitys Xing, MySpace und Facebook. Es gibt ihn als kostenlose iPhone-Applikation namens »Callis Tipps«. Und jawohl, seit Neuestem twittert er.

Noch wirkt das etwas verrückt. Speziell für einen Sechzigjährigen. Es zeigt aber nur, was uns alle erwartet. Die einzige Währung, die in der Ökonomie der Zukunft wirklich zählt, wird die Währung der Aufmerksamkeit sein. Diese Ökonomie wird uns zwingen, Mediendarsteller unserer selbst zu werden – möglichst auf allen Plattformen, möglichst rund um die Uhr. Und die schreckliche, warnende, streng geheime und doch völlig offene Botschaft des Reiner Calmund ist diese: Wer einmal den Schritt getan hat, in eigener Sache konsequent auf Sendung zu gehen – für den gibt es kein Zurück.

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Foto: Getty