Die Geschichte deutscher Traditionsunternehmen ist in den meisten Fällen auch eine Geschichte von Kollaboration, rücksichtslosen Profiteuren, Kriegsgewinnlern. Das war bei Daimler-Benz so, bei der Deutschen Bank, bei Volkswagen. Und auch bei der Firma Leica, die 1925 die erste Kleinbildkamera der Welt präsentierte und mit ihrer Entwicklung wenige Jahre später bei den Nazis reüssierte.
Mit Leicas ausgestattete Einheiten aus dem Propagandaministerium von Joseph Goebbels schwärmten Ende der Dreißigerjahre ins Warschauer Ghetto aus, wo sie Aufnahmen von den »entarteten« Gewohnheiten der Juden machen sollten; zugleich lieferten die handlichen Kameras die idealisierten Nazibilder von der »Herrenrasse« – ein Trend, der besonders stark in der zeitgenössischen Reklame von Leica selbst auffällt, wo arische Frauen auf Sprungbrettern balancieren, während ihre blonden Kinder neben dem Pool herumtollen. Nach außen gilt Leica als ein nationalsozialistischer Musterbetrieb, der Armee und Luftwaffe mit Leicas belieferte, Steuerungssysteme für die V2-Rakete herstellte und dessen Chef, Ernst Leitz II., prominentes Mitglied der NSDAP war. Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Der andere wurde in der vergangenen Woche in Palm Beach, Florida, von der amerikanischen Anti Defamation League (ADL) ausgezeichnet. Preisträger: der 1956 verstorbene Ernst Leitz II. Der Leica-Chef tritt damit in eine Reihe mit Jan und Miep Gies, die Anne Frank und ihre Familie aufnahmen, und Oskar Schindler, dem deutschen Industriellen, der mehr als 1200 polnische Juden vor dem Tod bewahrte. Die ADL, dem Kampf gegen Antisemitismus verpflichtet, ehrte Leitz mit dem Preis »Courage to Care« (Mut, sich zu kümmern), dafür, dass er in den 1930er-Jahren mindestens 41 Juden zur Flucht aus Nazideutschland verhalf und 23 Menschen vor einer Bestrafung gemäß den Nazigesetzen gegen Ehen zwischen Juden und Deutschen schützte.Es sind Taten, die mehr als 50 Jahre nicht bekannt waren und nun ein vollkommen anderes Licht auf den einstigen nationalsozialistischen Musterbetrieb werfen.
Sein humanitäres Engagement für die Juden in Wetzlar, dem Unternehmenssitz, begann Ernst Leitz II. schon wenige Tage nach Hitlers Machtübernahme im März 1933, und im Nachhinein erscheint es wie ein einfacher Trick, mit dem der Firmenpatriarch die Menschen vor Deportation und Vernichtung rettete: Leitz engagierte jüdische Männer in seinem Betrieb in Wetzlar als Lehrlinge, nach unterschiedlich langen Ausbildungszeiten wechselten sie dann nach New York in die Filiale von Leica in der Fifth Avenue oder einen der vielen assoziierten Betriebe überall in den USA. Leitz kam für die Reisekosten seiner Schützlinge auf und leitende Angestellte seines Unternehmens verfassten Empfehlungsschreiben für die Flüchtlinge und halfen ihnen, an Visa zu kommen. Erst 1939, als nach Hitlers Einmarsch in Polen Deutschlands Grenzen geschlossen wurden, musste Leitz seine Hilfe einstellen.
Frank Dabba Smiths Erscheinung ist nicht unbedingt die eines unerbittlichen Detektivs. Mit seiner leisen Stimme, dem schütteren hellbraunen Haar und einer Brille nach Art Woody Allens lebt er seit den späten 1980er- Jahren in London und strahlt eher die Unschuld eines Buchgelehrten aus. Aber es war Smith, der Rabbi aus Kalifornien, der die andere Leica-Geschichte als Erster publik machte, seit nunmehr 15 Jahren forscht er nach den Hintergründen.
Schon als Schuljunge in San Diego fing er an zu fotografieren und mit 15 investierte er all das Geld, das er bei seiner Bar-Mizwa-Feier bekommen hatte, in seine erste Leica – der Anfang einer Liebesbeziehung, die bis heute währt. Als halbprofessioneller Fotograf hat er bereits mehr als 150 Bilder im britischen Wirtschaftsmagazin Economist publiziert.
Zum ersten Mal erfuhr Smith von der wichtigen Rolle, die Leitz bei der Rettung von Juden aus Nazideutschland spielte, als er während seiner Studienzeit in Berkeley in einem Artikel über Norman Lipton, den Herausgeber von Popular Photography, einen kleinen Hinweis auf die Leica-Lehrlinge las. Mit 25 Jahren hatte Lipton in der Werbeabteilung bei Leica in der Fifth Avenue gearbeitet. Von Mai 1938 bis August 1940, beschreibt Lipton, habe er dort zahlreiche deutsch-jüdische Flüchtlinge aus der Wetzlarer Fabrik getroffen: »Ich sah um die 20 bis 30 müde Frauen und Männer an der Wand unseres großen offenen Büros aufgereiht. Sie hatten alle Gepäck in der Hand und eine Leica um den Hals. Langsam und der Reihe nach betraten sie das Büro. Alle paar Wochen, wenn die SS Bremen oder SS Europa an den Hudson River Piers in unserer Nähe angelegt hatte, ging die Prozedur von Neuem los.«
Dann, so Lipton, habe man die Flüchtlinge zum nahegelegenen »Great Northern Hotel« auf der West 57th Street gebracht, wo sie Unterkunft und Verpflegung bekamen, bis man für sie eine Stelle bei Leica oder anderen Betrieben der Fotobranche gefunden hatte. »Tag für Tag telefonierte der Leica-Geschäftsführer herum, auf der Suche nach Stellen, die zur Ausbildung seiner Schützlinge passten. Das konnte bei Kodak, Wollenstack, Ilex, Univis oder anderen Optik-unternehmen im Staat New York sein, in Fotogeschäften oder -labors, in der Produktion oder Verwaltung.«
1967 begann Lipton seine ehemaligen jüdischen Kollegen zu suchen und zu interviewen, weil er eine Geschichte für Reader’s Digest schreiben wollte. Als er sich an Günther Leitz, den jüngsten der drei Söhne von Leitz wandte, bekam er eine überraschende Antwort. Beim Abendessen im Haus Friedwart, einem prächtigen Anwesen mit Blick auf Wetzlar, das Leitz 1917 bauen ließ, machte Günther klar, dass er die Geschichte zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht sehen wollte. »Mein Vater«, erklärte Günther Leitz, »tat, was er konnte, weil er sich für seine Angestellten und ihre Familien und für unsere Nachbarn verantwortlich fühlte.« Widerstrebend gab Lipton der Bitte des Leitz-Sohnes nach, und es ist nur der Hartnäckigkeit des Rabbis Frank Dabba Smith zu verdanken, dass die Angelegenheit sich damit noch nicht erledigt hatte.
Denn 1997, bei einem Aufenthalt in New York, fand er einen weiteren Hinweis auf die Leica-Story – dieses Mal in einer Enzyklopädie über jüdische Fotografie. Nun beschloss er, den Kontakt zu Lipton zu suchen, der inzwischen 80 und im Ruhestand war.
Eines der ersten Dokumente, die Lipton ihm zeigte, war ein Brief, den Nathan Rosenthal, ein Wetzlarer Getreidehändler, 1947 aus New York an Leitz schickte. Zunächst beschreibt Rosenthal, wie ihn die »Naziverbrecher« 1938 zur Flucht nach Amerika zwangen. Der zweite Absatz des Briefes weckt Smiths besonderes Interesse: »Ich werde Ihnen«, heißt es da, »ewig dankbar sein, dass Sie, als ich Ihnen 14 Tage nach Hitlers Machtübernahme mein Anliegen vortrug, meinen Sohn Paul, der sich in der Schule zunehmend dem Antisemitismus der Lehrer ausgesetzt sah, sofort in Ihr Unternehmen aufnahmen, ohne auf die möglichen politischen Konsequenzen zu achten. Die Ausbildung, die er dann bei Ihnen erhielt, und die spätere Anstellung in Ihrem Unternehmen hier in New York ermöglichte uns die Auswanderung, die andernfalls völlig ausgeschlossen gewesen wäre.«
Lipton zeigte Smith einen weiteren Brief, diesmal einen von 1961 von einem gewissen Henry Enfield, der in Miami mit Kameras handelte. Darin beschreibt Enfield, wie er 1935, als er in Frankfurt lebte, seinen Sohn vorsichtshalber nach England geschickt hatte, und wie Leica dem Jungen, als er mit der Schule fertig war, eine Stelle bei Wallace Heaton vermittelte, einem bekannten Fotogeschäft auf der Bond Street. Im August 1938, drei Monate vor der Reichspogromnacht, hatte Enfield Leitz um Rat gefragt, weil er seinen Warenbestand auflösen wollte, um in die USA zu emigrieren. Mit Hilfe einiger Führungskräfte von Leica erhielt er ein Visum von der amerikanischen Vertretung in Stuttgart. Enfield bekam ein Empfehlungsschreiben für die New Yorker Leica-Filiale. Unterzeichnet war es von Alfred Türk, dem Verkaufsleiter von Leica. Diese Aktion sollte Leitz teuer zu stehen kommen, nach Enfields Abreise spielte ein Spitzel aus der Wetzlarer Fabrik Türks Brief der Gestapo zu. Türk landete im Gefängnis und Leitz musste nach Berlin fahren, um – mit Erfolg – seine Freilassung zu erwirken.
Smith hätte Rosenthal und Enfield gern selbst befragt, aber sie waren bereits verstorben. Und Paul Rosenthal, der Sohn, war nicht sehr entgegenkommend. Doch Smith gab nicht auf. Er schrieb direkt an die Familie Leitz. Prompt bekam er eine Antwort von Knut Kühn-Leitz, dem Sohn von Leitz’ Tochter Elsie.
Knut war sieben Jahre alt, als die Gestapo seine Mutter festnahm, weil sie einem Wetzlarer Juden geholfen hatte. Lebhaft erinnert er sich, wie die Gestapo in das Haus eindrang, während seine Schwester und er in der Badewanne saßen. Zwar stand Knut seinem Großvater sehr nahe. Dennoch hatte der während all der gemeinsam verbrachten Nachmittage, all den Unterhaltungen über den Familienbetrieb kein einziges Mal die jüdischen Lehrlinge aus Wetzlar und ihre Flucht nach Amerika erwähnt. Jetzt war Knut selbst neugierig, wollte mehr über die Angelegenheit erfahren und willigte ein, Smith bei seinen Recherchen in den Wetzlarer Archiven zu helfen.
Knut, ein munterer 70-Jähriger mit funkelnden blauen Augen, schaut noch regelmäßig in seinem kleinen Büro im Leica-Hauptsitz, dem Haus Friedwart, vorbei. Der helle Bau des deutschen Architekten Bruno Paul ist eine ungewöhnliche Stilmischung, mit einem prachtvollen Säulengang und Loggia, einem Empfangssaal mit geschnitzten Holztreppen, einer Christusfigur – und Büsten der männlichen Familienmitglieder aus drei Generationen. Am meisten beeindruckt jedoch die Lage des Anwesens. Nahe der mittelalterlichen Burg Kalsmunt erbaut, thront es direkt hinter und über der Leicafabrik, wie um sie schützend im Blick zu behalten.
Bei all dieser Pracht liebte sein Großvater, so Knut, letztlich doch die einfachen Dinge. »Sein Zimmer war klein, die Einrichtung spartanisch. Er besaß vielleicht zwei Anzüge und trug jeden Tag denselben Hut. Er war ein sehr warmherziger Mensch, sehr zugänglich. Er ertrug es nicht, Menschen leiden zu sehen. Auf geistiger Ebene war er mein Beschützer. Ich wusste, wenn etwas nicht stimmte, konnte ich mich an meinen Großvater wenden und er würde mir sofort helfen.«
Im Rückblick, meint Knut, überrascht es ihn nicht, dass Günther Lipton verbat, über die guten Tagen seines Vaters zu schreiben. »Mein Großvater hat es zwar nie so direkt gesagt, aber das Credo der Familie war ›Tu Gutes, aber rede nicht darüber‹. Wenn er jetzt hier wäre, würde ihn die ganze Unterhaltung stören.«
Ernst Leitz II. wurde 1843 in Baden in eine streng protestantische Familie geboren. Leitz’ Vater, Ernst I., war für die Textilbranche ausgebildet worden. Doch 1865 entschied er sich, ins technische Gewerbe zu wechseln und zog nach Wetzlar, um an Carl Kellners Optischem Institut zu lernen. Als Kellner vier Jahre später starb, übernahm Ernst den Betrieb und erwies sich bald als aufgeklärter Chef, der als erster deutscher Unternehmer eine Gesundheitsversicherung für die Mitarbeiter einführte, später kam eine Firmenrente dazu. In dieser Tradition stand auch sein Sohn, Ernst Leitz II., der »von seinen Angestellten regelrecht verehrt wurde«, wie Smith erklärt. »Die Nazis wussten, dass ohne ihn die ganze Motivation, der Zusammenhalt und die Genauigkeit in der Fabrik dahin wären.« Und das Unternehmen lieferte wichtige Teile für die Kriegsführung der Nazis. So ließen sie Leitz gewähren, selbst als seine Tochter Elsie Leitz begann, in Wetzlar untergebrachte ukrainische Zwangsarbeiter zu besuchen und sich für bessere Verpflegung und Kleidung einsetzte. 1943 wurde Elsie festgenommen, nachdem sie einer halbjüdischen Frau verbotenerweise Schweizer Franken gegeben hatte und eine Landkarte, mit deren Hilfe sie ihr noch den Fluchtweg über die Grenze erklärte. Es dauerte drei Monate, dann aber konnte Leitz die Freilassung seiner Tochter erwirken.
Der Preis für seine Freiheiten war, dass er in die NSDAP eintreten musste. Bei der Lektüre der detailliert vorbereiteten Stellungnahmen für das Entnazifizierungsverfahren in Wetzlar 1947 wird einem schlagartig klar, wie schmerzhaft das für ihn gewesen sein muss. Leitz beginnt mit dem Hinweis, dass er 1933 Kandidat der Deutschen Staatspartei war und die Nazis »vehement« angegriffen habe, wobei er die SA als »brauen Affen« bezeichnet habe. Weiter betont Leitz, dass er sich nie von einer »fundamental demokratischen Haltung« entfernt habe. Über die gesamten 1930er-Jahre hinweg habe er Juden in seiner Fabrik eingestellt und ihnen zur Flucht ins Ausland verholfen. Einiges davon war auch der Gestapo bekannt, offenbar hatten die Nazis deshalb auch geplant, »diesen widerlichen Demokraten« nach Ende des Krieges zu liquidieren. Erst als die Nazis Leitz mit dem Rausschmiss seiner gesamten Führungsriege und der Enteignung der Fabrik drohten, habe er sich widerstrebend zum Parteieintritt entschlossen. Um, wie er sich ausdrückt, »das Schlimmste zu verhindern«.
Der Ruf als Wohltäter, welcher der Familie Leitz vorauseilte, ermutigte vielleicht auch Nathan Rosenthal, sich direkt an Leitz zu wenden, als sein Sohn Paul in der Schule unter Antisemitismus zu leiden hatte. Nicht nur wurde Paul in ein dreijähri-ges Lehrlingsprogramm aufgenommen; als die Nazis Nathan Rosenthals Getreidehandel schlossen, mietete Leitz dessen Warenlager zum fairen Marktpreis an. Dank dieser Mieteinnahmen konnte die ganze Familie Rosenthal schließlich zu Paul nach New York ziehen.
Am Ende seines Briefs von 1947 lobt Rosenthal die »Aufrichtigkeit« von Leitz’ Idealen und meint, dass seine »beispielhaften Taten auf unbestimmte Zeit weiter wirken werden«. Er fragt sich: »Wie viele junge Juden aus Gießen, Frankfurt und Darmstadt haben Sie, ohne sich um die Meinung der Nazis zu scheren, in Ihrem Betrieb ausgebildet, sodass sie später als Emigranten ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten?«
Eine genaue Antwort darauf ist schwierig, Smith hat schon viele Stunden darüber gebrütet. Obwohl er einen Artikel im News-letter der Leica Historical Society of America publiziert hat, in dem er andere Lehrlinge und ihre Familien bittet, sich bei ihm zu melden, ist es ihm bislang nicht gelungen, Liptons Aussage, wonach der damals »alle paar Wochen« etwa »20 bis 30« Flüchtlinge bei Leica New York eintreffen sah, mit handfesten Beweisen zu untermauern.
Dass Leitz seine Taten nur so unzureichend dokumentierte, hat für Smith nur einen Grund: »Er wollte kein Held werden.«