Auf dem Friedhof seiner Gemeinde liegen die Knochen von Adolf Hitlers Eltern vergraben, doch Pfarrer Kurt Pittertschatscher konnte noch nie verstehen, warum das jemanden besonders interessiert.
»Es ist das Grab von Alois und Klara Hitler. Und was können Eltern dafür, wenn ihr Sohn so ist?«, sagt er im Amtszimmer seiner Kirche, in Abwehrhaltung sitzend. Pfarrer Pittertschatscher ist 58 Jahre alt und ein schlaksiger Typ. Seine langen Beine hat er übereinandergefaltet, seine Arme vor dem dünnen Oberkörper verschränkt, sein Kopf ist ihm zwischen die Schultern gerutscht. Das sieht weder besonders bequem noch entspannt aus.
Er spricht nicht gern über das Grab. Und er hatte wohl gehofft, dass mit dem Entfernen des Grabsteins und der Blumen im vergangenen Jahr dieses Kapitel nun endlich geschlossen ist. Längst haben Gras und Löwenzahn die einstige Grabstelle überwuchert, nichts erinnert mehr an die zwei Menschen, die dort unter der Erde liegen. Doch die Geschichte, die um das Grab stattgefunden hat, vergisst sich nicht so schnell und zieht noch immer die merkwürdigsten Gestalten an, auch wenn Pfarrer Pittertschatscher das nie so geradeheraus sagen würde.
Er sagt: »Es war früher so, das stimmt, dass es zu Adolf Hitlers Geburtstag manchmal Kerzen auf dem Grab gegeben hat, nicht übertrieben viele Kerzen, aber sie standen wohl nicht wegen der Eltern da, sondern wegen des Sohns.«
Und was haben Sie da gedacht?
»Ich habe das zu Anfang ja gar nicht so gesehen, ich komme eher selten auf den Friedhof. Und ich schaue nicht so auf dieses Grab.« Für Pfarrer Pittertschatscher ist es eines unter vielen, zumindest sagt er das. Er ist hier aufgewachsen, in Leonding, einer österreichischen Kleinstadt zehn Autominuten südlich von Linz, er kennt das Grab also seit seiner Kindheit, vielleicht ist das der Grund dafür.
Vor zwölf Jahren hat er die katholische Pfarrei St. Michael übernommen, deren Kirche im Zentrum von Leonding steht. Sie hat einen hübschen Zwiebelturm und ein barockes, goldleuchtendes Altargemälde, sie ist mehr als 350 Jahre alt. Und doch ist die Gemeinde in der Welt vor allem wegen des Grabs der Hitler-Eltern bekannt. Man ahnt, wie sehr das den Pfarrer stört.
Seine Körperhaltung entspannt sich erst, als er grundsätzlich über seine Pfarrei sprechen kann: 6500 Mitglieder, ein Viertel aller Leondinger. Zur Sonntagsmesse kommen im Schnitt 500 Menschen, Jung und Alt, »es ist eine sehr lebendige Gemeinde«, sagt er.
Haben Sie im Gottesdienst denn jemals über das Grab gesprochen, schließlich ist allein der Name für viele ja schon eine Provokation?
Sein freundliches Pfarrersgesicht wird für einen Moment wieder ernst.
Nein, sagt er, noch nie.
»Es wird im Ort totgeschwiegen«, meint Thomas Hinterberger. Von seiner Haustür aus sind es zwanzig Schritte bis zur Kirche, doch im Gottesdienst war er seit dreißig Jahren nicht mehr. Sein Garten grenzt an den Friedhof, und ohne ihn würde der Grabstein der Hitlers wohl heute noch dort stehen.
Thomas Hinterberger wirkt wie das exakte Gegenteil zu seinem verschlossenen Nachbarn, dem Pfarrer. Er ist 53 Jahre alt, hat eine kräftige Statur und einen Genießerbauch. In seinem Wohnzimmer fläzt er sich auf sein Sofa, fährt sich mit der Hand durch die grauen, schulterlangen Haare, reibt die großen Füße, die in schwarzen Socken stecken, genüsslich aneinander. Dann nimmt er einen Schluck Weißwein und sagt: »Schon als ich fünf oder sechs Jahre alt war, habe ich gewusst, dass dieses Grab kein normales Grab ist: weil die ganzen Neonazis immer bei uns geklingelt haben, um zu fragen, wo es denn ist. Es gab damals ja noch kein Internet.«
Auch Thomas Hinterberger ist in Leonding aufgewachsen, in dem Haus, in dem er heute noch lebt. Sein Urgroßvater hat es 1895 gekauft. Drei Jahre später, 1898, sind Alois und Klara Hitler mit ihrer Tochter Paula und ihrem Sohn Adolf nach Leonding gezogen. Sie wohnten 300 Meter Luftlinie entfernt auf der anderen Seite des Friedhofs. Adolf war damals neun und ging auf die Volksschule. 1903 starb sein Vater, 1905 zog die Mutter mit ihm nach Linz, bis auch sie 1907 starb und neben ihrem Mann auf dem Friedhof in Leonding bestattet wurde.
»Als Jugendlicher habe ich mir immer gewünscht, dass mein Urgroßvater einen Kunstfehler begangen hätte«, sagt Thomas Hinterberger. »Dann wäre der Welt einiges erspart geblieben.« Sein Urgroßvater war Arzt, und Hinterberger ist sich sicher, dass der junge Adolf bei ihm in Behandlung war. »Wo hätte der Bub sonst hingehen sollen?«, fragt er und meint damit wohl auch: Leonding war ein Nest damals, jeder hatte mit den Hitlers zu tun.
Der erwachsene Adolf ist dann 1938 das erste Mal nach Leonding zurückgekehrt. Am 13. März, einen Tag nach dem überwiegend umjubelten Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, legte er am Grab seiner Eltern einen Kranz nieder. Es gibt Fotos von diesem Besuch: Die Leondinger begrüßen den Führer begeistert mit gestrecktem rechten Arm.
In den folgenden Jahren haben sie von dem Zufall, den die Geschichte ihnen beschert hat, profitiert. Denn das Haus, in dem die Hitlers gelebt hatten, und vor allem das Grab wurden zur Touristenattraktion. Zehntausende Besucher kamen: HJ- und BDM-Gruppen, Göring und Göbbels. Am Eingang zum Friedhof verkauften Souvenirhändler Postkarten. Die beiden Wirtshäuser mussten vergrößert werden, neue Gästezimmer wurden gebaut. Auch wenn die meisten Historiker anmerken, dass Hitler seine Familiengeschichte stets zu verhüllen versucht hat, wurde Leonding zum Teil des Führerkults, ein Wallfahrtsort. Und Thomas Hinterberger sagt, dass es nach 1945 zwar abgenommen, aber nie ganz aufgehört hat. »Nur wollte hier keiner darüber sprechen. Aufarbeitung null. Es war wie ein Riesenschleier über dem Ort.«
Kameradschaftstypen in Springerstiefeln, Hitler-Klone mit Seitenscheitel
Mit 19 ist er deswegen abgehauen, sagt er. Erst nach Salzburg, wo er Theaterregie gelernt hat, später nach Paris. Sein Großonkel, das weiß er, war mit Heinrich Himmler befreundet, seine ganze Familie verbandelt mit den Nazis. Thomas Hinterberger hat die Rolle des rebellischen Sohns gewählt. Eines seiner Theaterstücke, auf das er besonders stolz ist, handelt von den Grausamkeiten auf Schloss Hartheim, wo die Nazis Behinderte vergast haben. 1990 ist er dann nach Leonding zurückgekehrt, weil sein Großvater ihm das schöne alte Haus neben der Kirche vererbt hat.
In seinem Wohnzimmer hebt er jetzt die Beine von der Couch, schlüpft in blaue Doc-Martens-Schuhe und führt auf den Kirchplatz hinaus. In der jahrhundertealten Idylle wirkt er wie ein Eindringling. Er zeigt auf die zwei Denkmäler rechts von ihm, die an die Leondinger erinnern, die in den beiden Weltkriegen gefallen sind. »Jedes Jahr zu Allerheiligen kommen hier FPÖ-Politiker und Burschenschaftler und legen Kränze nieder«, sagt er. Viele würden dann weiterziehen zum Hitler-Grab. Dazu gebe es die klassischen Neonazis, die das Grab aufsuchen: Kameradschaftstypen in Springerstiefeln, Hitler-Klone mit Seitenscheitel. Und das passiere nicht einmal im Jahr, sondern ein-, zweimal im Monat. Besonders schlimm sei es um den 20. April herum, Adolf Hitlers Geburtstag. »Ich fand das unerträglich«, sagt er.
Leonding ist nicht der einzige Ort, dessen Vergangenheit solche Besucher anzieht. In Braunau, Hitlers Geburtsstadt, versammeln sich jedes Jahr am 20. April linke Aktivisten vor dem Haus, in dem die Hitlers damals gewohnt haben, um zu verhindern, dass Rechtsradikale aufmarschieren. Am besten besucht ist wohl der Obersalzberg bei Berchtesgaden, wo Hitler und andere NS-Größen Urlaub gemacht haben. Mehr als 300 000 Menschen kamen allein 2010. Die wenigsten davon werden tatsächlich Neonazis gewesen sein, sondern geschichts-interessierte Menschen aus aller Welt. Die Frage ist, was sie an diesem Ort suchen? Erkenntnisse über den Privatmann Hitler? Grusel? NS-Folklore?
Die Gemeinden haben das Problem, wie sie mit diesem Hitler-Tourismus umgehen sollen. Die Gebäude abreißen, damit aber auch ein Stück Geschichte verlieren? In Braunau zum Beispiel geht das nicht, weil das Hitler-Haus nicht nur in sämtlichen Reiseführern, sondern auch unter Denkmalschutz steht. Am Obersalzberg hat das Münchner Institut für Zeitgeschichte ein Dokumentarzentrum über die NS-Zeit eingerichtet, doch NS-Nostalgiker und Schlimmere wird das wohl kaum abschrecken. Es ist ein Dilemma.
In Leonding hat sich Thomas Hinterberger als Erstes für ein Mahnmal eingesetzt, das an die Verfolgten des Nazi-Regimes erinnert, als Gegengewicht zu den Heldengedenkstätten sozusagen. Es steht seit 2007 auf der anderen Seite des Kirchplatzes: eine Bank mit einer gekachelten Säule daneben. Setzt man sich auf die Bank, startet eine Tonaufnahme mit Texten, die sich mit den Opfern des Nationalsozialismus beschäftigen, von Elfriede Jelinek zum Beispiel. »Ich habe das so entworfen, dass es nicht kaputt gemacht werden kann. Das müsstest du sprengen, das Ding«, sagt Thomas Hinterberger und grinst wie ein später Gewinner. Seine erste Idee war es, rohes Fleisch in einem Käfig aufzuhängen, das dann langsam vergammelt und stinkt. Doch jetzt freut er sich, dass er manchmal alte Männer auf der Bank beobachten kann, die stundenlang dort sitzen und zuhören. Nur wenn jemand komme, würden sie schnell aufstehen und verschwinden.
2011 änderte sich dann plötzlich etwas. Mehr Nazis als üblich besuchten das Hitler-Grab, einer hinterließ eine Vase mit dem ziemlich eindeutigen Aufdruck »Unvergessen«, geschrieben mit zwei hervorgehobenen, altdeutschen »S«. Thomas Hinterberger glaubt, dass es mit dem Grab von Rudolf Heß zu tun hatte, das ebenfalls eine Pilgerstätte für Neonazis war und deshalb im Sommer 2011 im bayerischen Wunsiedel aufgelöst wurde. Nun reisten die Nazis eben nach Österreich. Hinterberger, der mit seiner Wut nun längst nicht mehr allein war, ging mit einigen anderen Leondingern zum Bürgermeister und sagte: »Es reicht!«
Es erschienen ein paar kritische Zeitungsartikel. Pfarrer Pittertschatscher musste erklären, warum das Grab nach mehr als hundert Jahren überhaupt noch existiert, wer es bezahlt und pflegt. Doch der Name der Person ist nie öffentlich geworden, aus Datenschutzgründen, wie der Pfarrer sagt. Vermutlich ist es eine Nachkommin aus einer früheren Ehe von Adolf Hitlers Vater Alois mit Franziska Matzelsberger.
Im März 2012 schließlich stimmte diese sogenannte Nutzungsberechtigte der Auflösung der Grabstelle zu. Der Grabstein wurde entfernt, ebenso der markante Baum, der dahinter stand. Nur die Knochen blieben unter der Erde. Damit sollte nun endlich Ruhe auf den Friedhof einkehren, doch so ganz ist das nicht gelungen.
Fragt man Pfarrer Pittertschatscher, ob er am 20. April an der einstigen Grabstelle vorbeigeschaut hat, sagt er: »Ja, doch da war nichts.«
Aber unser Fotograf war an diesem Tag auch da und hat eine Kerze gesehen.
»Ja, aber die haben wir schnell weggeräumt«, sagt der Pfarrer und muss lachen über seine kleine Unwahrheit. Ein wenig tut er einem leid in diesem Moment, weil er es bestimmt nicht leicht hatte mit dem Grab: auf der einen Seite der polternde Hinterberger, auf der anderen seine Gemeinde, von der sich nie jemand über das Grab beschwert hat. Nur als es aufgelöst wurde, hätten sich einige gewundert, sagt der Pfarrer, denn was könnten denn die Eltern dafür?
Am nächsten Tag, es ist Fronleichnam, steht er im weißen Festtagsgewand vor seiner Kirche unter einem Baldachin, der von vier Männern der freiwilligen Feuerwehr gehalten wird, und begrüßt seine Gemeinde zur Prozession. Trotz Wind und einigen Regentropfen sind mehr als 500 Menschen gekommen: Familien, Senioren, die Blechbläserkapelle, es ist ein feierlicher, intimer Anblick. Die Prozession führt die Gewerbegasse hinunter und dann die Michaelbergstraße wieder hoch, vorbei an der »Pizzeria Bardolino«, die früher, 1903, »Gasthof Wiesinger« hieß, und in der noch immer die alte Ledercouch steht, auf der Alois Hitler damals gestorben ist. Die Kellnerin erzählt, dass mindestens fünfmal im Monat Touristen kommen würden, um sich auf der Couch sitzend zu fotografieren: Japaner, Amerikaner, Deutsche. Manche machten einen Kniefall, andere schnitzten ein Stückchen Holz aus dem Gestell, sagt sie, und man fragt sich, was die Leute wohl später mit diesem Splitter anstellen? Ihren Kumpels zeigen? In die Vitrine legen?
Als die Prozession am Friedhof vorbeizieht, schleicht ein Mann mit Rucksack zwischen den Gräbern herum, er fotografiert die Leerstelle, wo früher das Hitler-Grab war. Darauf angesprochen, guckt er erschrocken wie ein Junge, den man beim Pornoschauen erwischt hat. Er komme aus Polen, sagt er, und habe in der Nähe Urlaub gemacht. In Braunau war er auch schon, er finde das irgendwie »exciting« und sei historisch interessiert. Zwar hat er eine Glatze, aber wie ein aggressiver Skinhead sieht er nicht aus. Ein bisschen kann man sogar nachvollziehen, was ihn hierherzieht. Dieser Ort, an dem eigentlich nichts mehr zu sehen ist, lässt einen nicht kalt. Man denkt an Hitler und an das, was er angerichtet hat.
Thomas Hinterberger wollte am Ende gar nicht, dass das Grab aufgelöst wird, sagt er. »Für mich wäre es interessanter gewesen, das Grab einfach so umzugestalten, dass es für die Nazis nicht mehr als Wallfahrtsort taugt.« Eine Kunstaktion hatte er im Kopf. Denn Leonding wird die sieben Hitlerjahre ohnehin nicht mehr los.
Fotos: Paul Kranzler