Im Juni erfährt Bernd Böttig, dass sich seine Schüler gegenseitig diesen Videoclip auf ihre Handys schicken: Ein Mädchen mit Kopftuch will Musik hören, die Mutter aber verlangt, dass es den Koran liest. Das Mädchen weigert sich, die Mutter verflucht es daraufhin – da formt sich unter dem Kopftuch des Mädchens ein Rattenkopf. »Ich habe diesen Clip verboten«, sagt Böttig, »aber das Schlimme ist, dass unsere türkischen und arabischen Mädchen diesen Quatsch trotzdem glauben.« Was Bernd Böttig Quatsch nennt, nennen viele seiner Schüler Ehre, Achtung und Würde. Bernd Böttig ist Direktor der Eberhard-Klein-Oberschule am Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg. Wenn es stimmt, dass Sprache der wichtigste Schlüssel zur Integration ist, dann müssten sich er, seine 17 Lehrer und die sechs Sozialpädagogen wenig Sorgen machen. Alle 350 Schüler sprechen ausreichend Deutsch, viele von ihnen sehr gut. Und das, obwohl sie nur im Unterricht mit den Lehrern Deutsch reden, sonst eigentlich nie. Warum auch? Zu Hause unterhalten sie sich mit ihren Eltern auf Türkisch oder Arabisch, mit ihren Freunden auch, in den Satellitenschüsseln sind die Fernsehprogramme ihrer Heimatländer eingestellt, der Metzger ist Türke, der Gemüse-, der Lottohändler, die Kellner, der Friseur, der Mann im Reisebüro – nur ein Bäcker in der Wrangelstraße ist Iraner. Aber der hat, der Kundschaft zuliebe, Türkisch gelernt. Auch viele irakische oder libanesische Schüler der Eberhard-Klein-Oberschule haben inzwischen Türkisch gelernt, um sich mit der Mehrheit ihrer Klassenkameraden unterhalten zu können. Einen Mitschüler, dessen Muttersprache Deutsch ist, gibt es nicht mehr. Im Juni vor einem Jahr haben die vier letzten Deutschen ihren Abschluss hier gemacht. Seither ist die Klein-Schule die Erste in Deutschland, in der nur noch Kinder unterrichtet werden, deren Eltern aus dem Libanon, dem Iran, aus Albanien, Afrika, vor allem aber aus der Türkei nach Berlin gekommen sind. Da gab Bernd Böttig der »taz« ein Interview. Nun hätte ein Gewitter losbrechen können oder mindestens ein Sturm: Wer hat hier eine Entwicklung verschlafen? Wird es bald andere Schulen geben, in die auch keine Schüler deutscher Herkunft mehr gehen, welche Auswirkungen hat das auf die Integration der ausländischen Schüler, wenn sie bald völlig unter sich sind? Wer ist hier gefordert? Der Einzelne? Die Schulen? Der Staat? Oder wenigstens die zuständigen Berliner Senatoren für Bildung oder Soziales, in deren Ressort Integration fällt? Doch selbst die meldeten sich nicht bei Bernd Böttig, dem Direktor. Es meldete sich überhaupt niemand. Damals, im Juni 2004, als Böttig das Interview gab, lebte Hatun Sürücü noch. Sie wurde acht Monate später, im Februar, ermordet, weil sie die Ehre ihrer Familie verletzt hatte, weil sie ihr Kind allein erzog und einen deutschen Freund hatte, »weil sie lebte wie eine Deutsche«, sagen drei ihrer Brüder, die derzeit in Berlin-Moabit vor Gericht stehen, angeklagt, ihre 23 Jahre alte Schwester mit drei Kopfschüssen getötet zu haben. Zwei der Brüder, denen jetzt der Prozess gemacht wird, gingen früher in die Eberhard-Klein-Schule. Zwei ihrer Schwestern besuchen sie noch. Vielleicht ist das der Grund, warum die Journalisten nun seit diesem Sommer Bernd Böttig die Tür einrennen, ja, bis aus Spanien und Frankreich kommen sie in die Skalitzer Straße, um den Direktor über die in Deutschland einzigartige Situation seiner Schule zu befragen. Sofort wurden Nebenkriegsschauplätze eröffnet: Ausländerfeindlichkeit musste Böttig sich vorwerfen lassen für seine Aussage, verirrten sich doch mal deutsche Eltern an seine Schule, rate er ihnen ab, ihr Kind zu ihm zu schicken, denn es würde hier nicht glücklich, wenn es nicht versteht, was in den Pausen geredet wird.
Böttig ist seit 13 Jahren Direktor der KleinSchule. Man glaubt ihm, wenn er sagt: »Ich mag meine Schüler.« Sehen die ihn in der Pause, rufen sie: »Hallo, Herr Böttig!« Über den Vorwurf, ausländerfeindlich zu sein, muss Böttig richtig laut lachen: »Ich habe 350 ausländische Schüler und soll ausländerfeindlich sein?« Er lobt sie, weil sie freundlich und höflich seien. Natürlich gebe es an der Schule manchmal Probleme, jedoch auch nicht mehr als an anderen. »Das Problem liegt anderswo: Sie können einen deutschen Schüler nicht integrieren, auch zehn oder zwanzig nicht. Vierzig Prozent müssen es mindestens sein, sonst fühlen die sich isoliert und halten sich in den Pausen vor dem Lehrerzimmer auf, weil nur da Deutsch gesprochen wird.« Er sagt auch, er habe den Niedergang Kreuzbergs zweimal erlebt: In den siebziger Jahren zogen die Deutschen hier weg, nach dem Mauerfall auch die bildungsbewussten Ausländer. Ihm sind die anderen geblieben. Bis vor zehn Jahren hatte die Klein-Schule noch vierzig Prozent deutsche Schüler. Dann fiel der Paragraf, der die Berliner Schulen verpflichtete, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen deutschen und ausländischen Schülern herzustellen. Seither können sich alle weiterführenden Schulen in Berlin ihre Schüler aussuchen und natürlich nehmen sie zuerst die guten und jene, die nicht lernbehindert sind. Der Eberhard-Klein-Oberschule bleibt der Rest. Sie wurde in »Integrierte Haupt- und Realschule« umbenannt und muss all jene unterrichten, die von den anderen Schulen abgelehnt werden – weil ihre Noten zu schlecht oder weil sie lernbehindert sind. »Auch unsere Hauptschule muss inzwischen alle Randgruppen integrieren«, sagt Böttig, »Ausländer, sozial Schwache, Behinderte.« Und darum versuchen nicht nur deutsche Eltern unter allen Umständen, ihre Kinder auf andere Schulen zu schicken, sondern auch ausländische, denen Bildung und Arbeitsplätze für ihre Kinder wichtig sind. Fünfzig Prozent der Eltern, die ihre Kinder auf Bernd Böttigs Schule schicken, beziehen Sozialhilfe, weitere dreißig Prozent bekommen Wohngeld oder andere staatliche Hilfen, manche schon in der dritten Generation. Für viele Schüler der Klein-Schule bedeutet Sozialhilfe nichts anderes als geregeltes Einkommen. Kein Wunder, da nur zehn Prozent der Schüler nach ihrem Abschluss eine Lehrstelle finden. Eine Zahl, die nicht nur für die Eberhard-Klein-Schule gilt, sondern auch für andere Hauptschulen in Kreuzberg, Marzahn oder Treptow. Wenn, wie in Berlin, nur noch acht Prozent eines Jahrgangs die Hauptschule besuchen und Lehrstellen ohnehin Mangelware sind, suchen sich die Firmen ihre Lehrlinge lieber unter der großen Zahl der Realschüler oder Gymnasiasten. Früher gingen die Klassenreisen der KleinSchule in die Türkei, damit die deutschen Mitschüler einmal erleben, wie es ist, Außenseiter und der Sprache nicht mächtig zu sein. Heute fahren die Schüler dorthin, weil viele von ihnen das Land, aus dem ihre Eltern stammen und dessen Pass sie besitzen, gar nicht oder kaum kennen. Ihre Eltern haben meist zu wenig Geld, um in den Ferien in ihre alte Heimat zu reisen. Oft sind die türkischen Mädchen sogar erstaunt, wie freizügig das Leben in Istanbul im Gegensatz zu ihrem in Kreuzberg ist. Dass die Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Lehrstelle finden, hat auf ihre Träume wenig Einfluss: Die 16-jährige Merve will Polizistin werden, die 14-jährige Fatima »Zeichnerin, Tierärztin oder Autorin«, die gleichaltrige Rana Ärztin. Es braucht nur wenig Sarkasmus, um festzustellen: Wenigstens haben es die Schüler bis zur Arbeitslosigkeit schön in ihrer Schule. Denn mag sich der Senat auch keine Gedanken gemacht haben, wie die Migrantenkinder integriert werden können, so hat er doch nicht am Geld gespart: Sechs Sozialpädagogen beschäftigt die KleinSchule, das Gebäude wurde seinerzeit für 36 Millionen Mark vorbildlich renoviert, es gibt eine Bibliothek, eine Schulküche, einen Computerraum mit Flachbildschirmen, Tischtennis und Billard. Die Schüler sind gern hier. Selbst wenn sie früher Unterrichtsschluss haben, bleiben viele bis 15.30 Uhr. Vor allem die Mädchen sitzen dann im Pausenhof oder gehen heimlich hinter die Schule zum Rauchen. Daheim wartet auf sie nur Hausarbeit oder Geschwister, auf die sie aufpassen müssen. Raus dürfen sie nicht mehr. Merve, die Polizistin werden will, sagt: »Mit Deutschland habe ich nichts zu tun. Kreuzberg ist für mich Deutschland.« Für Jungs wie Ahmet dagegen heißt es nach der Schule: ein echter Mann werden, keine Schwäche zeigen, »sonst wirst du niedergemacht«. Deshalb geht er ins Fitness-Center, »Muskeln aufbauen«, und trifft sich anschließend im türkischen Sportverein mit seinen Mannschaftskameraden zum Training. »Unsere Schule ist eine Insel«, sagt Bernd Böttig. »Hier müssen sich die Schüler an Regeln halten, die draußen nichts gelten.«
Auf der Insel versuchen die Lehrer und Sozialpädagogen ihren Schülern demokratische Wertvorstellungen beizubringen, auch in Projektwochen zu Themen wie Gleichberechtigung oder Recht und Unrecht. Auf der Insel wird Deutschland gespielt, draußen ist nur theoretisch Deutschland, praktisch herrschen in vielen Familien die archaischen Gesetze Ostanatoliens. Darum musste Hatun Sürücü sterben. Ayhan, einer der Brüder, der wegen Mordes an seiner Schwester vor Gericht steht, hat sich, als er noch auf die Eberhard-Klein-Schule ging, an deren Regeln gehalten. Christine Baur, eine der Sozialpädagoginnen der Schule, beschreibt ihn im Prozess als besonnenen Schüler, der auf andere mäßigend eingewirkt habe, offen für Argumente gewesen und nie als gewalttätig aufgefallen sei: »Als ich hörte, dass er seine Schwester getötet haben soll, konnte ich es nicht glauben.« Obwohl er in Berlin geboren ist, hat ihn, seine Brüder, seine Familie Deutschland nie erreicht. Mehr noch, die deutsche Lebensweise ist der Feind, der bekämpft werden muss. Das bekam seine Schwester grausam zu spüren. Nach der Aussage Christine Baurs vor Gericht rannten noch mehr Journalisten als im Sommer der Schule die Tür ein. Mag sein, dass die Bilder der randalierenden Jugendlichen aus den französischen Ghettos sie aufschreckten, sie in Paris und Marseille eine Realität sahen, die in Deutschland erst noch bevorsteht. Was in den Fernsehbildern aus Frankreich auch auffiel: Die Muttersprache der meisten Jugendlichen ist Französisch. Die Schüler der Klein-Schule sprechen alle gut Deutsch. Lässt sich daraus ableiten, dass Sprache allein nicht als Mittel zur Integration taugt? Dass Arbeitsplätze ein noch wichtigeres Mittel wären? Nur, wo soll ein Direktor wie Böttig die herzaubern? Die französischen Politiker sind aufgeschreckt, die deutschen sehen noch nicht allzu viel Grund dafür. Immerhin kommt im September, 15 Monate nach dem Artikel in der »taz« und drei Monate nach dem Mediengewitter diesen Sommer, Dr. Heidi Knake-Werner an die Eberhard-Klein-Schule. Aber die PDS-Senatorin für Soziales möchte sich nicht über die Situation der 350 ausländischen Schüler informieren, sondern ihnen aus dem Buch Eine Hand voller Sterne von Rafik Schami vorlesen. Sie ist spät. Zwei Bodyguards führen sie an den wartenden Schülern vorbei ins Gebäude. Auf dem Weg zur Aula sagt Bernd Böttig: »Sie wissen ja, dass wir die erste Schule sind, die keine deutschen Schüler mehr hat.« Sie antwortet: »Ja, ja, ich weiß. Ich habe letzten Monat darüber einen Bericht in der Abendschau gesehen.« 14 Monate hat es also gebraucht, bis die Senatorin, zuständig für Integration, zufällig aus dem Fernsehen erfahren hat, was zu ihren ureigensten Aufgaben gehören müsste. Auch keiner ihrer Mitarbeiter hatte sie informiert. Ein paar Tage später darauf angesprochen, sagt Heidi Knake-Werner: »Das ist nicht so wichtig, dass man es mir sofort mitteilen müsste.« Dass es nach der Eberhard-Klein-Schule bald andere Schulen in Berlin geben wird, in denen nur noch ausländische Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, nimmt die Senatorin an, aber sie weiß es nicht. Auch Günter Piening, Integrationsbeauftragter des Berliner Senats, weiß es nicht, und Klaus Böger, SPD-Senator für Bildung, Jugend und Sport, ebenfalls nicht: »Wir führen keine Migrantenstatistik. Wieso auch?« Ein Anruf bei Schulen in Neukölln, Kreuzberg oder Wedding würde ja genügen. Dann könnten sie erfahren, dass an der Carl-Friedrich-Zelter-Hauptschule der Anteil ausländischer Schüler bereits achtzig Prozent beträgt, an der Ferdinand-Freiligrath-Oberschule 82 Prozent, an der Friedrich-Ludwig- Jahn-Oberschule 94 Prozent, an der Kurt-Löwenstein-Oberschule 79 Prozent, an der Rütli-Oberschule 81 Prozent, an der Theodor-Plievier-Oberschule 82 Prozent eingerechnet jene Schüler, die zwar vor kurzem eingebürgert wurden, doch dieselben Probleme haben wie ihre ausländischen Mitschüler. Aber vielleicht stimmt ja der Satz des Bildungssenators, dass man mit Bildungspolitik solche Entwicklungen nicht stoppen kann. Nur interessieren dürfte es einen schon. Der Bildungssenator beklagt auch, dass das Zuwanderungsgesetz erst seit einem Jahr existiere und Berlin nun vierzig Jahre verfehlte Einwanderungspolitik auf Bundesebene nachholen müsse: »Da kann man keine Wunder erwarten.« Der Integrationsbeauftragte Günter Piening wiederum stellt fest: Die Entwicklung an den Schulen ist die »neue Berliner Wirklichkeit, das kann man nicht aufhalten«, und lobt sein Integrationspapier, das vor allem aus Vorschlägen und Anregungen besteht: »Wir haben das als Erste auf den Weg gebracht.« Darin kommt den Berliner Schulen eine Schlüsselfunktion bei der Integration zu. Sie sollen mit mehr Personal ausgestattet werden, eigene Konzepte entwickeln, damit sie sich den jeweiligen Anforderungen ihrer Schüler anpassen können. Ein vorbildliches Schulkonzept hat Bernd Böttig schon vor zwanzig Jahren entwickelt und es immer den veränderten Umständen angepasst. Er sagt: »Wir haben hier weniger Probleme, seit die deutschen Schüler weg sind. Wir müssen uns nicht mehr darum kümmern, die Deutschen zu integrieren.«