Keine Panik

WM-Fieber, Vogelgrippenwahn und Terrorangst: Wir reagieren schnell hysterisch. Warum eigentlich? Ein Essay über die Angst.

»Unendlich«, so wusste Martin Luther, »ist die Macht der Teufel, unendlich ihre Zahl.« Das war keine spezifisch reformatorische Erkenntnis, das war die Summe des Glaubens des christlichen Mittelalters. Und er, der glaubensstarke Mann, vermeinte die Teufel auch selber zu spüren: Der Böse, so sagte er nämlich, schlafe öfter bei ihm als seine Frau Käthe.

Angst vor dem Bösen, vor Tod und vor Teufel, gehörte und gehört zur Religion. Religiosität besteht zu einem nicht ganz geringen Teil aus Symbolhandlungen, die aus der Angst kommen, die sie beschwichtigen und dabei helfen sollen, mit ihr fertig zu werden. Im Mittelalter herrschte eine gewaltige Angst vor dem Schicksal nach dem Tode und eine große Hoffnung darauf, zu den wenigen Erwählten zu gehören. Die-se Angst und diese Hoffnung wurden von den geistlichen und den weltlichen Autoritäten instrumentalisiert. Schon der Pariser Bischof Wilhelm von Auvergne, er ist 1249 gestorben, gab offen zu, welche Funktion die von den Theologen formulierten, grell ausgemalten Höllendrohungen hatten: nämlich Gehorsam zu erzeugen – genauso wie das auch elterliche Drohungen den Kindern gegenüber bezweckten.

Diesen Gehorsam brauchte die Amts-kirche und die weltlichen Machthaber brauchten ihn auch. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen über Nutz und Frommen dieser Ängste, und manchmal deckten sich diese. Der französische König Philipp V. der Lange nutzte die Gerüchte über angeblich bevorstehende Brunnenvergiftungen durch Leprakranke und Juden dazu, um deren Besitz zu beschlagnahmen und auf diese Weise seine Staatsfinanzen zu sanieren. Und über den Klerus stellte ein Kirchenkritiker im 14. Jahrhundert fest: »Würden die Priester nicht von der Hölle reden, würden sie verhungern.« Auf der Basis der Angst gediehen freilich auch eine gewisse caritas und eine ganze Reihe von Spitälern: Spätestens vor ihrem Ableben kauften sich nämlich Fürsten, Bankiers und Spekulanten von der Sünde der »Geldmacherei und Krämerei« frei, weil bekanntlich eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt.

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Es gibt also gefährliche und ungefährliche Methoden, mit Ängsten fertig zu werden. Die ungefährlichen richten sich nach innen: Zu ihnen gehören schöne Riten, wunderbare Zeremonien, tröstende Gebete. Zu ihnen zählen die Rituale am Totenbett, die früher dazu dienten, die auf den Toten wartenden Geister zu bannen; und der schwere Grabstein, der aufs Grab gesetzt wird, war ursprünglich nicht dafür da, um darauf eine Namenstafel anzubringen, sondern um zu verhindern, dass ein Toter als Wiedergänger zurückkommt.
Gefährlicher sind die aggressiven Methoden der Angstabwehr, die sich nach außen richten: Die Suche nach Sündenböcken, nach Menschen also, die man strafen muss, um Unheil und Verdammnis von einem selber abzuwenden, war (und ist noch immer) todgefährlich. Es genügte jahrhundertelang das bloße Gerücht, einer sei mit dem Teufel im Bunde, der oder die seien schuld an der Pestilenz, um sie gefangen zu setzen, zu Geständnissen zu zwingen und dann zu verbrennen. Heute genügt das Gerücht, es sei jemand mit Bin Laden im Bunde, um Cluster-Bomben über ganzen Landstrichen abzuwerfen: Was dem Weißen Haus sein Bin Laden, das war dem Vatikan über Jahrhunderte der Teufel. »Wer gegen den Teufel kämpft, hat den lieben Gott logischerweise auf seiner Seite.« So feixt der Kabarettist Peter Ensikat von der Berliner »Distel«; so glaubt es George W. Bush.
Der US-Präsident hat gelernt, was vor ihm schon andere Herrscher wussten und was Machiavelli gelehrt hat: Wer seinem Volk Angst macht, der braucht es nicht zu fürchten. Und so veröffentlichen das FBI und das amerikanische Amt für Heimatschutz seit dem 11. September 2001 ihre Terrorwarnungen zumeist dann, wenn die Regierung neue Sicherheitsgesetze oder Kriegsresolutionen erlässt. Angst lässt sich nutzbar machen für Machterhalt und Machterweiterung, sie ist eine Autobahn für Sicherheitsgesetze; Angst schafft freie Bahn für alles, was die Angst zu lindern verspricht.

Es gab viel Angst in der Zeit nach den Attentaten in New York und Washington (und es ist nicht schwer, sie immer wieder zu aktivieren). Die Angst waberte durch die Nachrichtensendungen, sie besetzte das Denken der Menschen; sie versorgte sich mit Gasmasken und Ciprobay; sie zog sich Latex-Handschuhe über die Finger und sie hielt Taubendreck für Anthrax. Und der Radius des Formenkreises der Angst wuchs: Es gab eine neue Flugangst, die Milzbrand-angst, die Angst vor Biobomben und Giftanschlägen. Es gab die Angst vor Schläfern, vor dem Islam, dem Islamismus und der Scharia. Es gab eine neue Angst vor Zuwanderung und allem, was fremd ist. Richtig gelegt hat sich diese Angst seitdem nicht mehr. Sie kommt zu den gängigen Ängsten und ihren jeweiligen Konjunkturen hinzu – sei es der Angst vor Drogen oder vor Sexualmord. Wenn es keine sicheren Arbeitsplätze mehr gibt, wenn das Bildungssystem mehr schlecht als recht funktioniert, wenn ein großer Teil der Mittelschicht Angst vor dem sozialen Abstieg hat und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, dann ist es bequem, nicht darüber, sondern über Kindesentführung, die Gefahr von Designerdrogen und über gekaperte und abzuschießende Flugzeuge zu reden.
Der Mechanismus der Angst funktioniert wie eine riesige Orgel. Vor ihr sitzen viele Spieler, nicht nur Terroristen, sondern auch Politiker, Chefredakteure und Chefkommentatoren. Diese Orgel verfügt über eine Klaviatur mit vielen Registern, ein Windwerk und eine Windlade, welche die verdichtete Luft den Pfeifen zuleitet. Und wenn dann von so vielen kräftig georgelt wird, dann erbebt und erschauert alles. Dann wird »Sicherheit« zu einem Wert, bei dem schon das bloße Versprechen das Prädikat »legislativ wertvoll« verdient, dann werden die »Geeignetheit« und die »Verhältnismäßigkeit« neuer Maßnahmen, etwa ein Flugzeugabschussgesetz oder ein Krieg gegen einen Schurkenstaat, gar nicht mehr lang geprüft. Hauptsache, es geschieht etwas. Später merkt man dann womöglich (siehe den Krieg gegen den Irak), dass die letzten Dinge schlimmer sind als die ersten.
Der französische Historiker Jean Delumeau beschreibt, wie sich die Kirche des 14. bis 18. Jahrhunderts durch die Vielzahl der von ihr fast freudig angenommenen Feind- und Angstbilder (Ketzer, Hexen, Juden, Teufel, Muselmanen) in den Status einer belagerten Stadt begeben hat: »In einer Atmosphäre der Belagerung«, so Delumeau, »stellte die Inquisition eine Art Erlösung dar.« Diese Inquisition ist nicht so furchtbar weit weg: Es gibt immer mehr frühere Liberale wie Michael Ignatieff, der Philosoph und Harvard-Professor für Menschenrechtspolitik, die nun für die Folter eintreten, indem sie diese als verschärfte Vernehmungsmethoden bezeichnen. Und es gibt immer mehr Verteidiger von Recht und Ordnung, die Folter nicht mehr nur dulden, sondern sie fordern – und nicht nur von einem Recht, sondern gar von einer Pflicht zum Foltern reden, wenn anders Menschenleben nicht zu retten seien. Die Werber sehen in der Folter einen Anwendungsfall des Satzes »Opferschutz geht vor Täterschutz«.
Damals, in den alten Zeiten, wurde Folter allenthalben als Teil des Katastrophenschutzrechts begrüßt. Da war eine unheimliche Gefahr, da war der Einbruch des grauisch Fremden in die geordnete Welt. Man wollte Schuldige finden, man suchte nach einfachen Kausalitäten; man wollte das scheinbar Unerklärliche erklären, der Gefahr einen Namen geben, sie damit bannen. »Alle, die irgend teil daran hatten«, so steht es in den alten Protokollen über die Torturen, mit denen man vermeintlichen Brunnenvergiftern und Peststreichern ein Geständnis herausfolterte, »waren der Überzeugung, dass nur in der bestehenden Praxis Heil und Sicherheit zu finden sei.« Wer in einschlägigem Verdacht stand, war eine Quelle unabsehbarer Gefahren, und vor diesen Gefahren mussten die Opfer geschützt werden. Die Folter war also praktizierte Schutzpflicht des Souveräns gegenüber seinen Untertanen, und das Folterrecht war, um einen Begriff aus der Diskussion von heute zu nehmen, Feindrecht.

Dem so genannten Feindstrafrecht, wie es der Bonner Strafrechtsprofessor Günther Jakobs formuliert, geht es »um die Herstellung erträglicher Umweltbedingungen dadurch, dass alle diejenigen … kaltgestellt werden, die nicht die kognitive Mindestgarantie bieten, die nötig ist, um sie praktisch aktuell als Personen behandeln zu kön-nen«. Es handle sich, so erklärt der Professor seine Feindstrafrechtslehre, »um die rechtliche Regelung einer Exklusion: Feinde sind aktuell Unpersonen. Auf den Begriff gebracht ist Feindstrafrecht also Krieg, dessen Totalitarität auch davon abhängt, was vom Feind alles befürchtet wird.« Das heißt: Je größer die Angst, umso mehr darf man dem echten oder vermeintlichen Feind antun.

Wo bleibt da die Aufklärung? Sie hat womöglich nur die Angstvorstellungen säkularisiert. Die Teufel sind jetzt von dieser Welt und das Böse wird jetzt von ihnen produziert. Aber die Mechanismen zur ihrer Bekämpfung und deren politische Nutzanwendung haben sich nicht grundlegend verändert. Angst war, ist und bleibt ein Elixier der Macht.