Sonst noch was?

Kind, Karriere und die Freiheit, alles zu tun, was wir wollen: die Politik soll für uns Lösungen finden, wie sich das vereinbaren lässt. Dabei ist das gar nicht möglich.

Ein bisschen Arbeit, ein bisschen Feiern, ein bisschen Sport, ein bisschen Reisen, ein bisschen Erholung: Wer jetzt auch noch Kinder haben möchte, sollte unbedingt balancieren können.

Ich bin 38 Jahre alt. Ich habe keine Kinder. Ich muss nichts, also wirklich gar nichts unter einen Hut bringen. Meine Wochenenden bestehen aus 48 Stunden freier Zeit. Ich kann, sofern ich das möchte, jede Nacht durch- und jeden Morgen ausschlafen. Ich kann verreisen, wann und wohin und so lange ich will. Work-Life-Balance – so nennt ihr das doch – betrifft mich nicht. Natürlich bin ich nicht frei, aber es geht mir gut, und es könnte ewig so weitergehen.

Soll es aber nicht. Weil ich Kinder will. Nicht morgen, aber in ein, zwei Jahren, so genau nehme ich es nicht. Ich möchte Vater werden, eine kleine Familie, einen Sohn oder eine Tochter haben, obwohl mir in meinem Leben überhaupt nichts fehlt – ich halte das für eine sehr gute Voraussetzung. Und deswegen beobachte ich seit einiger Zeit Menschen, die Kinder haben, also Eltern, sehr genau. Worüber sprechen, worüber jammern sie? Wirken sie gestresst oder glücklich? Zerrissen oder zufrieden? Lieben sie ihre Kinder oder dekorieren sie sich nur mit ihnen? Und wer kümmert sich wirklich, wenn es drauf ankommt: die Mutter oder der Vater? Ganz ehrlich: In meinem Umfeld, das (behauptet es zumindest) eher nicht konservativ ist, sind es vor allem die Mütter. Natürlich halten mir Freunde dauernd Handyfotos ihrer Kinder ins Gesicht; natürlich erzählen sie mir vom kleinen, warmen Glück, abends ins Kinderzimmer zu schleichen, für eine Gutenachtgeschichte, einen Blick, eine Berührung. Trotzdem sind es meistens die Frauen, die verzichten oder sich aufreiben, weil sie es allen recht machen wollen: ihren Kindern, ihrem Mann, ihrem Chef, ihren Freunden und sich selbst.

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Laut einer Studie aus dem Herbst 2013 finden immer noch 80 Prozent der 18- bis 44-jährigen Männer, dass Frauen besonders gut bügeln können. Und immer noch nehmen nur 30 Prozent der Väter Elternzeit, die meisten von ihnen für, sage und schreibe, zwei Monate, nach denen sie von der »intensivsten Zeit ihres Lebens« schwärmend zurück ins Büro kommen, um fleißig weiterzuarbeiten.

Und weil das so ist, beschweren sich die Frauen: »Die große Erschöpfung« heißt ein Essay, der vor ein paar Monaten im Spiegel erschienen ist, ein anscheinend mit letzter Kraft zu Papier gebrachtes Überforderungsprotokoll einer Redakteurin, die gleichzeitig Mutter und Ehefrau ist. Ein paar Wochen später druckte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einen Text mit dem Titel »Man muss wahnsinnig sein, heute ein Kind zu kriegen«. Darin gesteht eine dreißigjährige Autorin, wie unfassbar groß ihre Angst vor dem Kinderkriegen ist, weil alle um sie herum so tun, als wäre das eigene Leben vorbei, wenn so ein Kind erst mal auf der Welt ist. Das klang zwar alles ein bisschen neurotisch, aber Sorgen machen muss man sich schon, wenn Kinderkriegen zunehmend als Wagnis, ja als Risiko dargestellt wird. Wenn eine junge Frau aus der Mitte der Gesellschaft in Panik verfällt, weil sie sich nicht vorstellen kann, wie sie das schaffen soll: ein Kind haben, einen Job haben und nicht unter die Räder kommen – wohlgemerkt in einem der reichsten und sichersten Länder der Erde, nämlich Deutschland, mit einem Sozialstaat, der Betreuungsgeld, Kindergeld, Elterngeld, Mutterschaftsgeld bereitstellt – alles Wohltaten, von denen drei Viertel der Menschheit noch nie etwas gehört hat.

Aber es reicht halt immer noch nicht. Und deshalb sollen die Politiker doch bitte noch bessere Bedingungen dafür schaffen, damit endlich beides gleichzeitig möglich ist: Beruf und Familie, Kinder und Karriere. Also noch mehr Kindergeld. Noch mehr Homeoffice. Noch mehr Kita-Plätze. Laut Familienreport können sich darauf mehr als 90 Prozent der Deutschen einigen.

Was aber, wenn die Lösung für diesen Konflikt nicht bei der Regierung, sondern bei uns selbst liegt? Wenn nicht Manuela Schwesig und Andrea Nahles unentschlossen sind, sondern wir? Weil wir nicht wissen, worauf wir im Leben setzen wollen, um es als gelungen zu empfinden. Ich glaube nämlich, dass Kinder und Karriere sich gar nicht vereinbaren lassen, zumindest nicht so, wie wir es gern hätten, weil das eben nicht geht, richtig viel Zeit mit den Kleinen verbringen und gleichzeitig jedes Jahr ein bisschen mehr verdienen, mehr Anerkennung abgreifen, sich mehr verwirklichen. Was also, wenn das vielleicht Sheryl Sandberg und Ursula von der Leyen hinkriegen oder zumindest so tun als ob, aber die meisten halt nicht, weil irgendjemand, irgendetwas immer leidet, die Beziehung, das Kind, der Sex, der Job oder wir selbst, wenn wir wieder mal dem Glück hinterherhecheln, den Kinderwagen in der Linken, das Smartphone in der Rechten, vor Augen das übernächste Wochenende, wenn endlich mal wieder die Schwiegereltern in der Stadt sind.

Im 21. Jahrhundert scheinen wir Menschen der westlichen Welt davon überzeugt zu sein, dass wir auf nichts mehr verzichten müssen: Veganer fordern Bohnenquark, der nach Fleisch schmeckt, Vielflieger fordern Internet auf 10 000 Meter Höhe, Arbeitnehmer fordern weniger Arbeitsstunden bei steigendem Lohn. Und Menschen, die sich für Katholiken halten, fordern eine Kirche, die zum Zeitgeist passt, weil sie am Ende zwar erlöst werden wollen, sich aber bitte nichts verbieten lassen möchten. Wir gehen davon aus, dass uns alles zusteht und wir es uns redlich verdient haben, jeden Aspekt des Lebens kennenzulernen und auszukosten – aber das ist falsch. Genau wie es kein Internet ohne Missbrauch und kein Wirtschaftssystem ohne Verlierer gibt, gibt es auch keine unschuldige Emanzipation. Immer wird der Konflikt auf irgendjemandes Rücken ausgetragen, jahrhundertelang auf dem der Frauen und heute eben auf dem der Kinder, weil sie entweder gar nicht mehr geboren oder halt gestillt, gewickelt und oft recht schnell an eine Betreuungsstätte abgeschoben werden, weil wir zwar die Erfahrung machen wollen, welche zu haben, aber nie so richtig Zeit finden, uns um sie zu kümmern.

Ein bisschen mehr an Sicherheit ist immer ein bisschen weniger an Freiheit – und umgekehrt.

Es ist eine Tatsache, dass den Frauen der Zugang in die Chefetagen und damit zu beruflicher Verwirklichung ermöglicht werden muss. Es ist aber auch eine Tatsache, dass sich jetzt auch noch die andere Hälfte der Menschheit in die Hände einer Effizienz- und Wachstumslogik begeben hat, die erstens Stress auslöst und zweitens Mütter und Väter immer mehr zu Konkurrenten werden lässt. Laut Statistischem Bundesamt halten 68 Prozent der Deutschen die Karriere der Frau für das größte Konfliktpotenzial in einer Beziehung. Warum? Weil sie sich ständig vergleichen: Wer verdient mehr? Wer arbeitet weniger? Wer kann sich besser verwirklichen? Wer muss sich stärker einschränken? Alle zusammen jagen wir der Utopie eines sich ständig steigernden Lebensgefühls hinterher und rennen immer wieder gegen die Wand, weil sich Glück nun mal nicht organisieren lässt, sondern immer nebenbei stattfindet.

Alle suchen Bestätigung im Beruf, Bestätigung durch den Partner, Bestätigung durch die Kinder, Bestätigung auf Facebook. Und wenn wir doch mal auf etwas verzichten, dann freiwillig, aus eigenem Antrieb, auf Kohlensäure im Wasser oder Zucker im Kaffee. Wir verzichten nicht, um zu entsagen, sondern, um davon zu profitieren, das ist ein Unterschied. Gut möglich, dass viele sich deshalb lieber im Netz als in der Wirklichkeit aufhalten. Weil wir dort alles zu jeder Zeit auf Knopfdruck bekommen. Wir füllen Warenkörbe, bestellen, schicken zurück, bestellen neu. Wir lernen Menschen kennen, verlieren das Interesse, klicken sie weg, lernen neue kennen, alles – scheinbar – ohne Konsequenzen. Die Logik des Netzes ist rein konsumistisch. Das Leben aber ist dialektisch organisiert: Legt man auf der einen Seite etwas in den Warenkorb hinein, fällt auf der anderen Seite etwas heraus. Ein bisschen mehr an Sicherheit ist immer ein bisschen weniger an Freiheit – und umgekehrt. Ein bisschen mehr an Gesundheit ist meistens ein bisschen weniger an Spaß – und umgekehrt. »Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust und keinen Verlust ohne Gewinn«, sagt die ungarische Philosophin Ágnes Heller. Mit jeder Entscheidung für etwas entscheiden wir uns gleichzeitig gegen etwas anderes. Wir müssen immer einen Preis zahlen. Wir sind immer noch zur Freiheit verurteilt. Aber vor lauter technischer Machbarkeitshysterie und digitalem Möglichkeitswahn fällt es uns immer schwerer, Entscheidungen zu treffen und die dazugehörenden Konsequenzen zu tragen. Es scheint, als wäre uns das Wissen abhandengekommen, dass Entsagung nicht nur möglich ist, sondern auch Glück bedeuten kann.

Wir könnten doch wenigstens mal versuchen, unsere Vorstellung vom geglückten Leben zu überdenken und uns ernsthaft zu fragen: Worauf bin ich zu verzichten bereit, weil mir mein Kind, meine Gesundheit, meine immer älter werdenden Eltern oder meine Integrität wichtiger sind? Auf die nächste Stufe der Karriereleiter? Auf die um 15 Quadratmeter größere Wohnung? Auf das, was ich mir früher unter einem unabhängigen Leben vorgestellt habe? Ist es wirklich so undenkbar, zugunsten eines Kindes auf die nächste Mini-beförderung zu verzichten oder – warum nicht? – umgekehrt, weil sich jemand halt nur dann spürt, wenn er nicht zwei, sondern dreihundert Leuten sagen kann, was sie tun oder lassen sollen? Alle reden davon, dass wir nur noch teilen und nichts mehr besitzen wollen, dabei stecken wir bis zu den Kragen unserer Kaschmirpullover in einer narzisstischen Repräsentationskultur des Vergleichens und Angebens, in der wir Kinder als Bedrohung für unseren eigenen Status wahrnehmen.

Bis heute haben wir nie unsere Ansprüche modifiziert, sondern immer nur die Methode, mit der wir diese zu erfüllen gedenken: Also sind wir noch früher aufgestanden, haben noch mehr Yoga gemacht und noch mehr gedünstetes Gemüse gegessen. Haben noch strukturierter organisiert, noch präziser geplant, noch effizienter konferiert und noch flexibler gelebt. Irgendwann haben wir angefangen, Betriebskindergärten zu fordern, die natürlich eine feine Sache sind, aber halt auch der Beleg dafür, dass wir unsere Kinder jetzt auch noch in unser Arbeitsleben integrieren oder sagen wir: hineinzerren, dass also die Sphäre der Arbeit immer mehr in unser privates Leben hineinwuchert, damit wir den Anforderungen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems noch geschmeidiger entsprechen können. Am Ende schnellte die Burn-out-Quote innerhalb von zehn Jahren um 1400 Prozent noch oben.

Es klingt gespenstisch, aber wir sind längst eine Gesellschaft, die in einem erschöpfenden Tag im Büro mehr Bestätigung findet als in den Augen unserer Kinder. Die Geburtenrate in Deutschland ist mit 1,38 die niedrigste in der gesamten EU. Vor 50 Jahren war sie noch fast doppelt so hoch. Pro 1000 Einwohner werden in Deutschland nur 8,4 Kinder geboren. In den USA sind es 13,7, in Brasilien 15,2 und in Uganda 45,8. Ausgerechnet in dem Land, das weltweit die beste Infrastruktur bereitstellt, ein Kind zur Welt zu bringen und zu einem gesunden und glücklichen Menschen zu erziehen, werden fast keine mehr geboren, weil sie uns beim Leben und Arbeiten stören.

Alle schimpfen wir auf die gierigen Zocker, Banker und Hedgefondsmanager, auf ein System, das notwendigerweise auf Wachstum beruht und zu wenig Rücksicht auf Familien nimmt, dabei sind wir das Schmieröl dieses Systems, indem wir unser Leben exakt definierten Effizienzkriterien unterworfen haben. Denn Karriere machen wollen wir ja nicht, um überleben zu können, sondern weil wir finden, dass unser Lebensstandard ruhig mal wieder einen Tick nach oben geschraubt werden könnte. Genau wie die Banker, genau wie die Hedgefondsmanager. Früher war der unbedingte Wille zur Familie ein bürgerliches Bekenntnis. Heute ist er revolutionär, weil er sich in seiner Absolutheit gegen die Anforderungen eines Zeitgeistes richtet, der ständige Flexibilität und Selbstoptimierung verlangt.

»Das stabile Paar wird zur letzten Bastion gegen die Fliehkräfte eines total gewordenen Marktes«, schreibt der Publizist Wolfram Eilenberger. Die Soziologin Eva Illouz definiert das monogame Paar als »letzte soziale Einheit, dessen Funktionsprinzipien denen der kapitalistischen Kultur zuwiderlaufen«. Denn was tut man, wenn man sich für einen Menschen, eine Familie, ein Kind entscheidet: Man verzichtet freiwillig auf unendlich viele Optionen der Abwechslung und Selbstverwirklichung. Man legt sich fest. Schaffen wir es nicht, diesen Konflikt in uns aufzulösen, statt ihn an die Politik auszulagern und zu sozialisieren, werden wir bis ans Ende unserer Tage gestresst sein beim Versuch, mehrere Leben auf einmal zu führen, ein erfolgreiches, ein selbstloses, ein unabhängiges, ein aufopferndes und ganz wichtig: ein richtig intensives. Gewonnen haben dann die Typen, die gerahmte Bilder ihrer Frauen und Kinder auf dem Schreibtisch stehen haben, weil sie sie so selten zu Gesicht bekommen. Wir aber werden verloren haben. Wir werden erschöpft sein, eine halbe Stunde pro Woche zu Delfingesängen meditieren und Trost finden in Filmen und Büchern, geschrieben von Menschen, denen es genauso geht wie uns.

Illustration: Ted Parker