Ein nasses Laubblatt, das der Novemberwind über den Friedhof peitscht, hat sich um die Radspeiche geschlungen; die Reifen des Rollstuhls sinken in den Boden und ziehen zwei Geraden zu einem Grab. Hier liegen Alexandra Maria Freund und ihr Vater Gerhard. Die Frau im Rollstuhl trägt ein dunkles Kopftuch und eine schwarze Sonnenbrille. Ihr Gesicht wirkt knochig, ihre Haut blass, ihr Lippenstift glänzt lila. Würde die Pflegerin nicht den Rollstuhl vor dem Grab zum Stehen bringen, wäre es nur eine Vermutung, dies sei Petra Schürmann, die ehemalige Fernsehmoderatorin, die 1956 als bisher einzige Frau Deutschlands zur schönsten der Welt gekürt wurde.
Petra Schürmann kann seit zwei Jahren nicht mehr sprechen, ein Arzt diagnostizierte kurz nach dem Tod ihrer Tochter vor sieben Jahren eine psychoreaktive Sprechstörung aufgrund ihrer Trauer. Seit etwa einem Jahr sitzt sie im Rollstuhl, weil es ihr schwerfällt, sich zu bewegen. Das letzte Interview, das Petra Schürmann der Zeitschrift Bunte gab, führte sie über SMS. Das war im April 2006. Zwei Reporterinnen trugen ihr Fragen vor, und sie tippte die Antworten in ihr Handy. »Es geht mir nicht besonders gut, aber ich habe keine Magersucht, kein Parkinson und auch kein Alzheimer«, ließ sie wissen. Doch auch die Kommunikation über SMS ist heute nicht mehr möglich. Ein Pflegeteam betreut sie 24 Stunden am Tag. Wer heute etwas über Petra Schürmann erfahren möchte, kann sich nicht an sie persönlich wenden. Aber Petra Schürmann sind ein paar Freunde geblieben, die sich um sie kümmern. »Vor einigen Jahren wurde eine Pflegerin entlassen, weil sie Petra schon nachmittags ins Bett gesteckt hatte, um Ruhe zu haben«, sagt eine Freundin der Schürmann-Familie, die ungenannt bleiben möchte. Sie war empört und »zutiefst angewidert«, als sie Petra Schürmann hilflos im Bett vorfand. Mehr will sie nicht sagen, deutet aber an, dass es nicht allein die Trauer um ihre Tochter Alexandra war, die Petra Schürmann pflegebedürftig werden ließ. Konkreter wird sie nicht. Gerüchte besagen, sie litt schon vor dem Tod ihrer Tochter an einer Krankheit. Und über die Jahre habe sich diese Krankheit verschlimmert.
Alexandra Schürmann-Freund starb am 21. Juni 2001 durch einen Geisterfahrer auf der A8 zwischen München und Salzburg. Gerhard Freund, Alexandras Vater, Petra Schürmanns Mann, am 9. August 2008 an Krebs. Nach dem Tod der Tochter schrieben die Zeitungen, Petra Schürmann sei magersüchtig, weil sie angeblich stark abgenommen hatte. Ihr wurde Alkohol- und Tablettensucht unterstellt. Dann war die Rede von einem Schlaganfall, von Parkinson und von Alzheimer. Alle diese Gerüchte dementierte Petra Schürmann per SMS.
Ein paar Tage nach Allerheiligen 2008 besucht Petra Schürmann den Friedhof in Aufkirchen nahe Starnberg. Man kann beobachten, wie sie von einer Pflegerin im Rollstuhl durch den Hintereingang des Friedhofs zum Familiengrab geschoben wird. Der Blick vom Friedhofshügel reicht über den Starnberger See bis hin zu »Petra Polis«, dem Schürmann-Anwesen in Starnberg. Petra Polis hat sie es einst getauft, »Petras Stadt«, »Petras Gemeinde«. Zu Petras Gemeinde gehörten Kollegen vom Bayerischen Rundfunk, Freunde und Bekannte aus der Starnberger und Münchner Gesellschaft, aber vor allem ihre kleine Familie: Alexandra, die Tochter, und Gerhard, der Ehemann. Diese Familie war der Kern der Petra Polis, sie war die Königin dieses Reichs, das in den vergangenen Jahren zuerst die Prinzessin verlor und dann den König.
Petra Schürmann ist 21 Jahre alt, als sie 1956 in London zur »Miss World« gewählt wird. Ihre Eltern, gebürtige Rheinländer, streng katholisch, halten eine »Miss« anfangs für so etwas Ähnliches wie eine Stripperin oder eine Hure. Als Familie Schürmann nach der Wahl zur Miss World zusammen in die Kirche geht, schimpft der Priester von der Kanzel herab: »Man stellt seinen christlichen Leib nicht zur Schau! Im Übrigen – nur die Mutter Gottes, Maria, war schön.«
Die Fünfzigerjahre in der alten Bundesrepublik sind kein Paradies für Freigeister. Petra Schürmann studiert damals am Philosophischen Seminar der Universität Bonn. Frauen sieht man auf den Treppen und Fluren des Seminars selten – und wenn, handelt es sich meist um Sekretärinnen. Den Muff der alten Bundesrepublik bekommt Schürmann auch von ihren Kommilitonen zu spüren: Wer sich im Badeanzug auf dem Laufsteg zeigt, hat an der Uni nichts verloren, rufen sie ihr hinterher.
Schürmann zieht nach München, schläft wochenlang auf dem Röntgenstuhl in der Zahnarztpraxis ihres Onkels, weil sie keine Wohnung findet. Kommilitonen beschreiben sie als »fröhlich, aber auch sehr ehrgeizig und diszipliniert«. Nach dem Studium und einer begonnenen, aber nie beendeten Dissertation über den »Begriff der Wahrhaftigkeit bei Nietzsche«, kommt 1967 ihre Tochter Alexandra Maria zur Welt, Gerhard Freund, der Vater, ist damals noch mit der Schauspielerin Marianne Koch verheiratet.
Schürmann zieht das Kind zunächst allein groß, hält den Vater ihres Kindes geheim. Wieder muss sie im tiefkatholischen Oberbayern Häme und Spott ertragen: Unverheiratet ein Kind in die Welt zu setzen und den Vater zu verheimlichen ist damals etwa so selten wie eine deutsche Miss World. Sie fürchtet auch um ihren Job als Ansagerin beim Bayerischen Rundfunk. Nachbarn und Kollegen tuscheln hinter ihrem Rücken. Aber diesmal hat sie eine Verbündete, ihre Tochter. In dieser Zeit wächst vermutlich auch die spätere Fixierung der beiden aufeinander. »Petra hat ihre Tochter nie aus den Augen gelassen«, sagt die Freundin. »Als Alexandra älter wurde, waren die beiden wie ein seelenverwandtes Paar.«
Nach der Scheidung von Marianne Koch heirateten Gerhard Freund und Petra Schürmann im Jahr 1973. Schürmann schafft beim Bayerischen Rundfunk bald den Sprung von der Ansagerin zur Moderatorin. Populär wird sie Anfang der Achtzigerjahre mit dem WDR-Nachmittagsprogramm MM Montags-Markt, sie moderiert Das Verkehrsgericht tagt und ab 1985 vor allem Unterhaltungsshows und Galas. Mehr als 600 Sendungen mit Petra Schürmann finden sich in den Archiven von ARD und ZDF.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite)
Als ihre Tochter starb, erhielt sie rund 5000 Briefe von Menschen, die ihr Beileid bekunden oder Trost spenden wollten. Manchmal liest sie auch heute noch in diesen Briefen, sagt die Freundin. Auf der Einfahrt, gleich hinter dem schmiedeeisernen Tor mit den Lettern »Petra Polis«, zeigt der Asphalt ein paar Risse. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Draußen ist es ruhig wie auf einem Friedhof. Die weiblichen Steinskulpturen im Garten tragen grüne Längsstreifen vom jahrelangem Regen; in der offenen Garage steht ein dunkelblaues Mercedes Cabrio. Die Kulisse erinnert an die Anfangssequenz eines Derrick-Krimis. Petra Schürmann sitze oft im Wohnzimmer und schaue fern, sagt die Freundin. »Am liebsten die Sendungen, die sie selbst moderiert hat – oder alte Krimis.«
Nach dem Tod der Tochter stand monatelang ein Fernglas auf dem Balkon, damit Petra Schürmann immer das Grab ihrer Tochter auf dem Aufkirchener Friedhof sehen konnte. Das Fernglas hatte sie einst gekauft, um gemeinsam mit der halbwüchsigen Alexandra in die Sterne zu schauen. Doch mit dem Tod Alexandras verwandelte sich das Fernglas in ein Instrument, um in die Vergangenheit zu blicken.
Wie sehr muss Petra Schürmann der Schmerz über den Verlust ihrer Tochter getroffen haben, dass es ihr die Sprache verschlug? Patricia Riekel, Chefin der Zeitschrift Bunte, schrieb kurz nach Gerhard Freunds Tod im August 2008: »Der Kummer trennt Petra Schürmann von der Welt wie eine Amputation. Die Bilder der letzten Jahre zeigen eine in sich zusammengesunkene Frau, erstarrt in Trauer. Ihr Schicksal bewegt uns, weil ihr Leben mal als Blaupause für alle jene diente, die nach Glück und Erfolg strebten. {...} Das Schicksal hat ihr alles geschenkt und auch alles wieder genommen.« Aber der Verlust der Sprache und ihrer motorischen Fähigkeiten sind nicht nur dem Schicksal geschuldet. »Petra ist krank«, sagt die Freundin.
Der Kreis der Schürmann-Freunde ist geschrumpft, seit sie sich nicht mehr mitteilen kann. Vielleicht eine Handvoll Menschen besuchen sie noch regelmäßig. Da ist etwa Anselm Bilgri, der ehemalige Prior des Klosters Andechs, der im Juni 2001 die Hochzeit von Alexandra und ihrem Verlobten Ralph Schmid vorbereiten sollte und im selben Monat Alex-andras Beerdigung leiten musste. »An dem Tag vor dem Unfall war Alexandra mit ihrem Bräutigam Ralph bei mir, um die Hochzeit zu besprechen, die einen Monat später hätte stattfinden sollen. Nachmittags um fünf haben die beiden sich fröhlich von mir verabschiedet, und am nächsten Tag ruft mich Petras Freundin Ursula Prinzessin von Bayern an und erzählt mir von dem Unfall.«
Im Polizeibericht steht, dass am 21. Juni um 8 Uhr 45 der Geisterfahrer Tobias B. aus Rosenheim mit seinem Mercedes frontal in den VW Passat von Alexandra Freund raste. Man geht davon aus, dass die 34-Jährige noch im selben Moment starb. Es war der Moment, der Petra Schürmanns Leben zertrümmerte. Sie stand damals im Wohnzimmer, eine Tasse Tee in der Hand. Vielleicht machte sie sich gerade Gedanken darüber, dass eigentlich sie für die Moderation in der Nähe von Rosenheim vorgesehen und Alexandra nur eingesprungen war, weil es ihr selbst nicht gut ging. Das Radio lief, von einem Unfall auf der A8 war die Rede, und Petra Schürmann fühlte, dass etwas Schreckliches passiert war.
Ursula Prinzessin von Bayern, Alexandras Firmpatin, ist seit mehr als vierzig Jahren Petra Schürmanns engste Freundin. Sie sagt nicht »Petra«, wenn sie von ihrer engsten Freundin redet, sondern nennt sie immer »Frau Schürmann«. Aus Respekt.
»Frau Schürmann hat vor dem Unfall Alexandras sehr oft von ihr geträumt. Immer denselben Traum: Beide gehen spazieren, das Kind läuft vor, plötzlich tut sich ein Abgrund auf, und das Püppchen steht auf der anderen Seite und ruft: ›Mami, hilf mir doch! Hilf mir doch!‹ Aber Frau Schürmann kann ihr nicht helfen. Die pure Ohnmacht. Nach dem Unfall hat Frau Schürmann diesen Traum nie wieder geträumt. Sie hatte immer ein tiefes Unbehagen, dass dieser Traum eines Tages wahr werden würde – und als der Tag kam, hat er sie mit all der Wucht davongefegt, wie ein Herbstblatt im Sturm. Die Wunde, die der Tod Alexandras in ihr Leben gerissen hat, ist so tief, die wird nie heilen. Püppchen war ihr Leben.«
Vier Tage nach dem Unfall sagt Petra Schürmann der Süddeutschen Zeitung: »Ich werde nie mehr dieselbe sein. Aber eine tragische Figur werde ich auch nicht werden.«
Doch für Petra Schürmann beginnt mit dem 21. Juni 2001 ein anderes Leben. Auf dem sonnigen Königreich Petra Polis liegt seitdem ein Schatten. Auf die Frage, ob sie ihrer Tochter am liebsten in den Tod gefolgt wäre, antwortet Schürmann noch im Jahr 2003: »Ja! Aber da war immer die große Angst, sie nicht zu treffen. Selbstmord ist doch eine Todsünde. Dann wäre Alexandra im Himmel und ich nicht.« Für Petra Schürmann wird dieses christliche Bekenntnis zum wichtigsten Bestandteil ihres neuen Lebens. Der Trost, den sie im Glauben an ein Wiedersehen im Jenseits findet, klammert sie ans Leben.
Ihr Buch Und eine Nacht vergeht wie ein Jahr, das sie im Jahr 2002 über die Beziehung zu ihrer Tochter schrieb, schließt mit den Worten: »Ich liebe dich, Alexandra, und habe eine unstillbare Sehnsucht nach dir. Doch jetzt trennen uns nicht nur zwei Türen voneinander, sondern Lichtjahre. Aber dann, wenn wir uns treffen, ist es wie eine Feierlichkeit.«
Knapp ein halbes Jahr nach dem Tod der Tochter will Petra Schürmann wieder vor die Kamera treten – mit der Talkshow Unter 4 Augen fürs Bayerische Fernsehen. Doch ein paar Wochen vor dem Sendetermin sagt sie ab, sie kann den Schmerz nicht überwinden. Im Oktober 2001 sagt sie der Bunten: »Ich mache mir Vorwürfe, weil vorgesehen war, dass ich im Salzbergwerk drehen sollte. Aber Alexandra hat auf mich eingeredet: ›Mami, du bist überarbeitet! Mach eine Pause!‹ Hätte ich, wie geplant, gedreht, wäre ich zwei Stunden später gefahren. Alexandra brach nur so früh auf, weil sie abends Sendung hatte.«
In den folgenden Jahren zieht sich Petra Schürmann immer öfter allein in Alexandras Zimmer zurück. Nach Alexandras Tod hat die ehemalige Moderatorin mehrere Trauertherapien begonnen, aber nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Zweimal pro Woche geht sie wegen ihrer Sprachprobleme zu einer Logopädin. Wenn Petra Schürmann in Starnberg einkauft, zeigt sie stumm auf die Ware, die sie gern haben möchte. Auf der Straße bleiben Passanten stehen, starren und tuscheln hinter ihrem Rücken.
(Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite)
Auch die Beziehung zwischen ihr und Gerhard Freund leidet unter dem Tod der Tochter, wird distanzierter. Ursula von Bayern sagt: »Gerhard Freund war kein Gefühlsprediger. ›Ich stehe mit Alexandra im Dialog‹, sagte er immer zu Frau Schürmann. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Wenn er sich mit Alexandra in einem Dialog befand, wollte sie mit von der Partie sein. Eine Zeit lang hatten die beiden tatsächlich keinen Zugang zueinander.«
Zu großen Teilen liegt dies auch an Petra Schürmanns Sprachstörung, die sich so weit verschlimmert, dass ihr die Wörter eines Tages vollends wegbleiben. Als Hilfsmittel bedient sich Petra Schürmann eines Mobiltelefons, tippt ihre Gedanken in SMS. »Gerhard Freund liebte sie, weigerte sich aber, ihre Mitteilungen zu lesen. Damit waren ihre Kommunikationsmittel gekappt«, sagt Ursula von Bayern.
Während Petra Schürmann zwischen 2002 und 2005 oft auf Galas eingeladen wurde und sich auf wackeligen Beinen den Fotografen präsentierte, zog sich Gerhard Freund zurück, verließ Petra Polis nur selten. Im Dezember 2006 sagte er: »Wenn man mich fragt, was ich mache, antworte ich: ›wohnen‹. Ich freue mich an den antiken Dingen, die ich jahrelang gesammelt habe. Ich lese viel und schaue begeistert die ›Space Night‹ im Fernsehen.« Es klingt wie das Eingeständnis eines Mannes, der nur noch in Ruhe gelassen werden will, und gipfelt in Schürmanns letztem Interview in der Aussage, die sie ins Handy tippt: »Gerhard ist lebendig tot.«
Zu dieser Zeit, im April 2006, fällt es Petra Schürmann schon schwer, sich zu bewegen. Sie geht kaum noch aus, um nicht immer angestarrt zu werden. Ihre wöchentlichen Besuche beim Friseur im »Bayerischen Hof« stellt sie ein. Für Petra Polis wird ein Pflegeteam engagiert, das für das Paar wäscht, kocht, putzt und einkauft. Wenn Petra Schürmann ans Grab ihrer Tochter will, chauffiert ein Pfleger den Mercedes. Bei Gerhard Freund wird kurz darauf Krebs diagnostiziert. Vor seinem Tod nahm er seine Mundharmonika und spielte Meerstern, ich dich grüße. Es war Alexandras Lieblingslied, es ist Petra Schürmanns Lieblingslied. »Frau Schürmann saß mit großen Augen neben ihm, hielt seine Hand, erkannte die Melodie, und die Tränen kullerten beiden über die Wangen«, sagt Ursula von Bayern.
An Weihnachten 2008 brach Petra Schürmann zu Hause zusammen und wurde auf die Intensivstation des Starnberger Krankenhauses eingeliefert. Ursula von Bayern sagt: »Es geht ihr den Umständen entsprechend wieder gut.« Die Bild-Zeitung zitierte einen anonymen Freund der Familie mit den Worten: »Sie konnte nicht mehr essen. Alle dachten, sie stirbt.« Fragt man jedoch ihre engsten Freunde, zeichnen sie immer noch ein anderes Bild: »Frau Schürmann war immer eine Kämpferin«, sagt Ursula von Bayern.
Der Fernseher in Petra Polis wurde ausgeschaltet. In der Dunkelheit kann man nicht einmal mehr die Umrisse des Hauses erkennen. Morgen früh wird eine Pflegerin Petra Schürmann wecken, sie waschen, frisieren, ankleiden und das Frühstück servieren. Niemand weiß genau, wie viel Petra Schürmann davon noch bewusst mitbekommt. Ein ehemaliger Pfleger sagt, ihre Augen seien starr und leblos. Ursula von Bayern dagegen meint, sie erkenne sofort, wenn sich Frau Schürmann ärgere: »Dann ändert sich ihre Augenfarbe nach Dunkelgrün, obwohl sie eigentlich hellgrüne Augen hat. Das war schon immer so.«
Im Jahr 2005, als Petra Schürmann nicht mehr sprechen und auch nur schlecht gehen kann, entschließt sie sich, noch bei einem letzten Film mitzumachen. Die Journalistin Heidi Kranz erhält vom Bayerischen Fernsehen den Auftrag, ein Porträt Petra Schürmanns zu drehen. Heidi Kranz trifft »einen humorvollen, intelligenten Menschen, der nur nicht mehr reden konnte«.
Über ein Jahr ziehen sich die Dreharbeiten hin, Petra Schürmann stürzt und verletzt sich, will aber unbedingt weitermachen. »Wir haben in dieser Zeit viel gelacht«, sagt Kranz, »zum Beispiel darüber, dass sie ihren Schuh nicht mehr zubinden oder ihre Hose nicht mehr hochziehen konnte. Ihre Händchen waren ja schon ein bisschen steifer.« Der Film zeigt eine lächelnde Petra Schürmann, wie sie einen Stapel Fotoalben aus dem Wohnzimmerschrank nimmt und darin blättert. Alexandra bei der Einschulung, beim Wasserskifahren, in der Hängematte im Garten, mit einem Buch auf dem Bauch, private Videoaufnahmen aus guten Zeiten.
Zum Ende des Films ist ein Interview aus dem Jahr 1982 zu sehen. Schürmann sitzt in ihrem Wohnzimmer und wird vom Interviewer gefragt, ob sie Angst vor dem Alter habe. Sie trägt eine helle Bluse und einen engen, knielangen Rock, neigt den Kopf zur Seite, überlegt; sie ist zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt, sieht aber jünger aus und lächelt, als wäre sie noch Lichtjahre davon entfernt, als alt zu gelten. Sie sagt: »Ich kann nicht sagen, dass mich die Frage unberührt ließe. Aber diese panische Angst von Leuten, die denken: Nun weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen und muss jeden Tag allein frühstücken, das kann ich mir deshalb nicht vorstellen, weil ich mir nicht vorstellen kann, zu nichts mehr nütze zu sein.«
Was sie wohl heute denkt, wenn sie das Grab ihrer Tochter und ihres Mannes besucht? Sie scheint auf den Grabstein zu schauen, als wäre ihre Seele gefroren, sie blickt auf die fünfzig rosa Rosen, die gebündelt davorstehen und auf das Herz aus violetten Veilchen, die im Boden stecken. Fast zehn Minuten lang. Regungslos. Die Hände liegen in Handschuhen auf der dunklen Decke, die ihre Beine wärmt. Die anderen Besucher auf dem Friedhof schauen lang in ihre Richtung. »Wir haben Sie nicht vergessen«, ruft ein älterer Herr winkend. Petra Schürmann zeigt keine Reaktion.
Fotos: dpa, ap