Ich würde mir jetzt am liebsten eine Guten-Morgen-Zigarette drehen. Aber unmöglich. Ich könnte den Tabak niemals ins Papier rollen. Kurz nach dem Aufstehen fühlen sich meine Finger an, als hätte ich sie in ein Gefrierfach gesteckt oder als wären sie mir über Nacht heimlich amputiert worden. Kein gutes Zeichen. Auch meine Lippen zittern. Gar kein gutes Zeichen. Es war verdammt kalt heute Nacht. Ich schätze mal: minus fünf Grad. Wer im Winter unter der Brücke schläft, kann die Temperaturen einschätzen. Bei plusminus null zittern nur die Lippen. Wenn's nachts noch kälter war, kann ich morgens auch meine Hände nicht beruhigen. Dann sehe ich aus wie ein Heroinsüchtiger auf Entzug.
Vielleicht dreht mir ja Niko eine Zigarette. Niko ist mein Kumpel und erst gestern wieder aus dem Knast raus. Zwei warme Mahlzeiten am Tag, ein beheiztes Zimmer. Der würde am liebsten gleich wieder rein. Vielleicht wäre das Gefängnis auch was für mich, um mal wieder in einem warmen Bett zu schlafen. Denn manchmal krieg ich richtige Angst: Was, wenn ich die Zitterei heute nicht unter Kontrolle bringe? Ich lebe seit mehr als zehn Jahren unter der Brücke, im Sommer wie im Winter. Kurz nach der Wende habe ich meinen Job als Maschinenschlosser in Erfurt verloren. Ich konnte meine Wohnung nicht mehr bezahlen und landete auf der Straße. Meine Ehe ging in die Brüche. Meine Tochter und meinen Sohn habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Meine Kinder sind inzwischen 18 und 21. Ich werde dieses Jahr fünfzig. Ich habe in den letzten Jahren viele kennen gelernt, die so wie ich unter der Münchner Reichenbachbrücke übernachten oder eine Brücke weiter, der Wittelsbacher. Unter beiden Brücken pennen ja zehn oder zwölf Leute. Fast keiner hat noch Kontakt zu seiner Familie. Ich bin damals aus Erfurt weg, weil ich es dort nicht mehr ausgehalten habe. Außerdem wollte ich mir schon immer mal die Seen in der Umgebung von München anschauen.
Es gibt einen Wittelsbacher, den hab ich hier seit Jahren nicht mehr gesehen. Es heißt...na ja...Ich will nicht lügen, aber im Winter 1997 sind mehr als vierzig Obdachlose in Deutschland erfroren. Vierzig! Ob der Wittelsbacher einer davon war, kann ich nicht schwören. Ich weiß nur noch, dass ich damals immer zu mir selbst gesagt habe: Gerd, jetzt musst du aufpassen!
Damals, im Winter 1997, bin ich zum ersten und letzten Mal in ein Obdachlosenheim. Dort hat es zwar gestunken, aber das war nicht der Grund, warum ich gleich wieder weg bin: Man hat mir dort gleich am ersten Morgen meinen warmen Schlafsack geklaut, in dem ich geschlafen habe wie ein Baby. Heute habe ich einen neuen. Der ist zwar ziemlich zerrissen und das ist scheußlich bei der Kälte. Wer unter der Brücke schläft und nur die Isar zum Waschen hat, überlegt es sich gut, ob er tat-sächlich durch den Schnee in den Fluss steigt. Aber ich halte durch, keine Angst. Ich habe ja im Winter so viele Klamotten übereinander an, die würden einen ganzen Kleiderschrank füllen: mehrere Pullover und T-Shirts, zwei Hosen, drei, vier Paar Socken, darüber noch einen Mantel. Mich würde interessieren: Was denken Sie eigentlich, wenn Sie so jemanden wie mich im Januar auf der Straße sehen?
Manche halten mich ja für dümmer, als ich bin. Sie reden in Hauptwörtern und ohne Verb, neigen ihren Kopf immer ein bisschen zur Seite wie bei einem kleinen Kind. Andere würdigen mich keines Blickes und staksen an mir vorbei. Mir ist das eigentlich egal.
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Mein Leben spielt sich unter der Brücke ab. Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Niemand kann das. Manchmal spreche ich nachts mit der Kälte und verfluche sie. Durch die Klamotten zieht der feuchte Wind immer tiefer rein. Der Dauerfrost beißt sich im Körper fest. Ich schlafe kaum. Dann schaut man schon mal zu den Wohnungen rauf und überlegt sich, wie schön so ein Leben im Warmen sein könnte. Wie schön es wäre, wenn einem mal jemand die Wange streichelt.
Es ist ja nicht so, dass ich mir gern eine Flasche nach der anderen schnappe. Nur: Ohne Alkohol wäre das alles unerträglich. Der Alk trübt meine Sinne, ich lächle der Kälte dann entgegen.
Früher bei der Arbeit haben wir in den Mittagspausen immer über Fußball geredet und waren uns einig, dass guter Fußball zu 90 Prozent mit dem Kopf gespielt wird und nur zu zehn Prozent mit den Füßen. Wenn Sie mich fragen, wie ich es schaffe, diesen Winter zu überstehen, sage ich: Das ist zu 90 Prozent Kopfsache, nur zu zehn Prozent Sache der Kleidung. Viele blicken das nicht und machen sich zu einem gefügigen Sklaven, der alles erträgt. Auch das Peinlichste: So ein Sklave hat ja keinen eigenen Antrieb, um aus dem Schlafsack zu krabbeln und aufzustehen, kein Ehrgefühl, um sich gegen das warme Wasser zu stemmen, das aus ihm fließt. Verstehen Sie?
Jeder normale Mensch denkt zum Beispiel an Weihnachten oder an den Christkindlmarkt, wenn im September der Glühwein zum ersten Mal in den Supermarktregalen steht. Ich dagegen denke: Der Sommer ist vorbei. Ab jetzt musst du dir Gedanken machen, wie du über den Winter kommst, Gerd. Ab September gibt's dann morgens eben kein kaltes Bier mehr, sondern etwas Warmes zu trinken. Wir haben immer ein paar Glühweinflaschen in der Nähe unseres Lagerfeuers, das Tag und Nacht unter der Brücke brennt. Der Glühwein ist dann schön warm, wenn sich morgens alle ums Feuer setzen. Eigentlich ist hier kein Feuer erlaubt, steht auf dem Schild da drüben. Aber bei uns Reichen- und Wittelsbachern drückt die Polizei ein Auge zu.
Damit ich nachts müde werde und beide Augen für ein paar Stunden schließen kann, schalte ich meinen tragbaren Fernseher ein. Der kriegt zwar nur ARD rein, aber letztens habe ich Rocky V gesehen. Der fängt so an: Rocky sitzt in einer kahlen, klirrekalten Umkleidekabine. Er friert und weint. Seine Hände zittern so stark wie meine morgens. Er landet zunächst in der Gosse, kämpft sich aber wieder hoch. Mit unbändigem Lebensmut und der Liebe zu seiner Familie. Vielleicht gelingt mir das ja auch, irgendwann.
Gerd R.