Auf den Spuren unseres Denkens (III)

Es ist so weit: Forscher können Gedanken lesen. Sie erkennen mit dem Gehirn-Scanner sogar Gefühle, Absichten und Lügen. Aber das heißt auch: Der Mensch wird immer leichter manipulierbar. Ein Gespräch mit dem Hirnforscher John-Dylan Haynes.

So viel ist klar: Je nach Gedanke sind bestimmte Areale im Gehirn aktiv. Die Entschlüsselung dieser Muster ist allerdings hoch kompliziert.

SZ-Magazin: Herr Haynes, Sie beschäftigen sich mit »Brain Reading«. Können Sie Gedanken anderer Menschen lesen?
John-Dylan Haynes: Wir untersuchen, welche neuronalen Muster im Gehirn mit welchen Gedanken einhergehen. Daraus versuchen wir dann zu entschlüsseln, was eine Person gerade denkt. Das bedeutet aber nicht, dass wir in einem Gehirn lesen können wie in einem Buch.

Was können Sie dann erkennen?
Wenn jemand an ein Haus denkt oder an einen Tisch, können wir das in der Kernspintomografie sehen. Wir können auch einfache Absichten, Erinnerungen und Gefühle erkennen. Noch sind es aber relativ einfache Gedanken.

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Wie machen Sie das?
Ein Proband legt sich in den Kernspintomografen, und wir bitten ihn, an etwas zu denken. Wir messen dann seine Hirnaktivität. Eine MustererkennungsSoftware verarbeitet diese Informationen dann und versucht, die Hirnaktivität einem bestimmten Gedanken zuzuordnen.

Woher wissen Sie, ob Ihr Proband zum Beispiel gerade an einen Hund denkt?

Das ist ein schwieriger Prozess. Wir müssen zunächst lernen, wie sich der entsprechende Gedanke bei der untersuchten Person im Gehirn äußert. Eine Software muss darauf trainiert werden zu erkennen, welches Muster der Hirnaktivität mit welchem Gedanken einhergeht. Damit erstellt man dann eine Datenbank, mit der die Software ein Hirnbild abgleichen kann. Das ist wie bei der biometrischen Gesichtserkennung.

Sieht der Gedanke an einen Hund nicht bei jedem Menschen gleich aus?
Sie ähneln sich, sind aber nicht völlig identisch. Je mehr man sich für die Details der Gedanken interessiert, desto unterschiedlicher werden die Hirnbilder verschiedener Menschen.

Liegt das daran, dass jeder Gedanke in einem bestimmten Areal im Gehirn aktiv wird?

Es gibt Bereiche im Gehirn, die für die Speicherung von Sehinhalten zuständig sind, andere codieren Hörinformationen, und wieder andere speichern Pläne und Vorhaben. Wenn ich jedoch wissen will, welches Bild genau jemand sieht, dann muss ich lernen, subtile Unterschiede in der Musterung dieser Bereiche zu erkennen. Da werden dann die Unterschiede zwischen Personen besonders deutlich. Wir können erkennen, an welche Automarke ein Mensch denkt, oder ob er gerade einen Dackel oder einen Schäferhund vor Augen hat.

Wird es irgendwann eine Art Landkarte des Gehirns geben, auf der die Areale verschiedener Gedanken verzeichnet sind?

Das Gehirn speichert Gedanken nicht an einer einzigen Stelle, sondern an vielen verschiedenen. Es gibt zwar ein charakteristisches Aktivitätsmuster für jeden Gedanken, doch die feuernden Neuronen sind weit verzweigt. Die Gedanken sind räumlich ausgedehnt.

Jeder Mensch besitzt also einen neuronalen Fingerabdruck?
Je genauer wir das neuronale Muster eines Gedankens im Gehirn betrachten, desto größer werden die Unterschiede.

Warum ist das so?
Dafür gibt es verschiedene Erklärungen: Zum einen kann es sein, dass zwei Personen zwar an einen Hund, aber nicht an ein und denselben Hund denken. Jeder Mensch hat andere Assoziationen. Jemand, der von einem Hund einmal gebissen wurde, denkt anders an dieses Tier als ein Haustierbesitzer. Zum anderen ist das Gehirn bei jedem Menschen leicht unterschiedlich gebaut.

Was können Sie noch unter der Kernspintomografie erkennen?
Früher dachte man, das Erkennen von Gedanken werde überhaupt nicht funktionieren. Heute klappt das in Ansätzen schon sehr gut. Visuelle Vorstellungen lassen sich relativ leicht auslesen. Schwieriger wird es aber, wenn wir zum Beispiel versuchen, Absichten aus dem Gehirn zu erkennen.

Sie haben ein Experiment durchgeführt, in dem Probanden Zahlen entweder subtrahieren oder addieren sollten. Konnten Sie ihre Entscheidung erkennen?

In siebzig Prozent der Fälle lagen wir richtig.

In zwanzig Jahren stehen an allen Flughäfen Gehirnscanner. Sie lesen die Gedanken aller Passagiere und erkennen das Vorhaben eines Terroristen, der ein Flugzeug in die Luft sprengen will. Ein realistisches Szenario?
Prinzipiell ist das denkbar, aber ich bin eher skeptisch.

Warum?
Das Vorhaben, ein Flugzeug in die Luft zu sprengen, ist ein sehr komplexer Gedanke. Jeder Passagier am Flughafen hat wahrscheinlich in diesem Moment gerade ein Flugzeug im Kopf. Wie wollen Sie den Gedanken »Hoffentlich will niemand das Flugzeug in die Luft sprengen« von »Ich will das Flugzeug in die Luft sprengen« unterscheiden? Selbst ich als Wissenschaftler glaube nicht, dass das in naher Zukunft möglich sein wird.

»Wir können vorhersagen, welche Automarke ein Mensch kaufen wird.«

Können Sie bei Ihren Experimenten auch feststellen, ob ein Mensch lügt?
Der präfrontale Kortex, ein Bereich gleich hinter der Stirn, ist für Planungen, Verhaltenshemmung und Vorhaben zuständig. Dort kann man eine erhöhte Aktivität feststellen, wenn ein Mensch die Unwahrheit sagt.

Technisch ist es also möglich, mit einem Gehirnscanner die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden?

Dazu gibt es Experimente, in denen Probanden Spielkarten vorgelegt wurden. Die Probanden mussten lügen und sagen, sie hätten die Karten nicht vorher gesehen. Das waren Laborbedingungen, in denen die Menschen entspannt waren. Wir wissen aber nicht, wie genau eine Lüge in einer realistischen Anwendungssituation aussieht. Wir wissen nicht, welchen Einfluss es hat, wenn ein Mensch unter hohem Stress von Polizisten vernommen wird. Wir wissen auch nicht, wie sich Psychopathen verhalten, die beim Lügen keine emotionalen Regungen zeigen.

Wenn Sie einen Schriftsteller untersuchen, der einen fiktiven Roman geschrieben hat – würden Sie diese Gedanken als nicht erlebte identifizieren können?

Es gibt Hinweise darauf, dass das möglich ist. Wahrscheinlich arbeitet der Schriftsteller auch mit Erinnerungen aus seiner Biografie. Eine Art zu lügen ist das Verfälschen von Erinnerungen, das Hinzudichten und Weglassen. Das könnte man theoretisch feststellen, aber meines Wissens hat man das noch nicht genau erforscht.

Nehmen wir zum Beispiel den Verdächtigen des Doppelmords von Krailing bei München, der bisher noch nicht gestanden hat: Wäre es möglich, nach einer Trainingsphase sein Gehirn zu untersuchen und ihn dann einem Lügentest zu unterziehen?
Theoretisch ja. Praktisch glaube ich jedoch, dass es noch lange dauern wird, bis solche Verfahren zuverlässig funktionieren.

Sie sind sehr vorsichtig, wenn es um dieses Thema geht.

Weil in den USA bereits zwei Firmen, Cephos und NoLieMRI, neuronale Lügendetektoren anbieten! Aus meiner Sicht ist dies verfrüht und auf dem derzeitigen Entwicklungsstand unseriös. Zum Glück hat vor einiger Zeit ein Bundesgericht in den USA den Antrag einer Firma abgewiesen, ein solches Gerät als Beweismittel zuzulassen.

Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass mit fortschreitender Technik Lügendetektoren auch bei uns eingesetzt werden.
Richtig. Wir werden uns dann als Gesellschaft die Frage stellen müssen, ob wir das wollen. Ich kann als Wissenschaftler nur darauf hinweisen, was möglich ist und was nicht. Das größte Problem ist, dass man solche Geräte nicht im Labor anwenden möchte, sondern in einer konkreten Situation, bei einem Verhör zum Beispiel. Für diese Fälle gibt es jedoch meines Wissens noch kaum Daten. Bislang sind alle Untersuchungen in Laborsituationen gemacht worden, wo Studenten auf die Frage, ob sie bestimmte Spielkarten schon mal gesehen haben, lügen sollen. Das hat mit der wirklichen Anwendungssituation fast gar nichts zu tun.

Sind Sie für ethische Standards in diesem Forschungsbereich?
Unbedingt. In den nächsten Jahren wird es auf diesem Gebiet große Fortschritte geben. Wir müssen uns fragen: Welche Anforderungen stellen wir an Lügendetektoren oder an das Neuromarketing?

Was bitte ist Neuromarketing?
So bezeichnet man unter anderem eine Methode, die untersucht, welche Reaktion ein Produkt im Gehirn einer Versuchsperson auslöst. Dahinter steckt die Idee, eine Art Verlangen zu erzeugen – das Gehirn soll extrem positiv auf ein Produkt reagieren, ähnlich wie bei Drogen.

Und das funktioniert?

Ja, wir konnten zum Beispiel aus der Hirnaktivität vorhersagen, welche Automarke ein Mensch kaufen wird. Viele der Faktoren, die für den Kauf eines Produkts ausschlaggebend sind, bleiben dem Käufer unbewusst. Über Neuromarketing lassen sich diese Reize aufspüren und nutzen.

Das klingt ziemlich gruselig.
Es gibt bereits Firmen, die so etwas anbieten. Noch ist der Nutzen solcher Tests aber gering. Wenn ich wissen will, welche Produkte jemand mag, ist es immer noch einfacher ihn zu fragen, als ihn in einem Tomografen zu untersuchen. Trotzdem sollten wir uns früh darüber Gedanken machen, auch im Hinblick auf die Lügendetektoren: Angenommen, in ein paar Jahren könnte man mit 99-prozentiger Sicherheit herausfinden, ob eine Person lügt oder nicht – wir kämen in ein ethisches Dilemma. Die Unschuldsvermutung würde dadurch angegriffen werden.

Andererseits könnten diese Geräte auch die Unschuld vieler zu Unrecht Verurteilter beweisen.

Auch das ist ein ethisches Dilemma: Lassen wir solche Mittel vor Gericht nicht zu, geben wir dem Unschuldigen nicht alle Mittel an die Hand, seine Unschuld auch zu beweisen. Das halte ich für ungerecht.

Welche Position sollte die Gesellschaft also zu diesen Techniken einnehmen?
Die vielfältigen Anwendungen der Hirnforschungstechniken für klinische Zwecke sind sicher sinnvoll. Kommerzielle Anwendungen halte ich für sehr fragwürdig. Man muss sich klarmachen, dass diese Techniken die mentale Privatsphäre eines Menschen aufweichen.

Und den Menschen damit manipulierbar machen.
Auch das. Deshalb lautet die Kernfrage: Lassen wir es zu, dass Unternehmen zu kommerziellen Zwecken in die mentale Privatsphäre eindringen? Ich würde sagen: nein. Was Lügendetektoren betrifft, so glaube ich, dass wir nicht umhinkommen, diese Geräte früher oder später zuzulassen – allein um die Rechte der Unschuldigen zu schützen.

John-Dylan Haynes, 40, ist Neurowissenschaftler am Bernstein Center der Charité in Berlin. Er beschäftigt sich vor allem mit der Frage, welche Spuren unsere Gedanken im Gehirn hinterlassen. In seinen Versuchen gelang es Haynes, auch verborgene, unbewusste Absichten von Probanden aus deren Hirnaktivität abzulesen. Deshalb beschäftigt er sich zunehmend mit den ethischen Konsequenzen einer Forschung, die gerade erst am Anfang steht.


Nächster Teil unserer Gesprächsreihe mit bedeutenden Hirnforschern: Eckart Altenmüller über Musik und Intelligenz.

Foto: Katrin Schacke, Porträt: David Ausserhofer