»Sie haben komische Anfälle.« Mit diesem Satz fing im April des vergangenen Jahres alles an. Ich saß auf dem Plastikstuhl im Sprechzimmer meiner neuen Neurologin und dachte, dass ich mir nicht von einer Ärztin sagen lassen musste, dass meine Anfälle komisch waren. Das wusste ich schon selbst.
Seit meinem zwölften Lebensjahr kenne ich meine Anfälle. Komisch ist in der Tat das treffende Wort für sie: Sie beginnen ganz plötzlich, mit Schwindel und Herzrasen, ich verliere das Bewusstsein und meine Muskeln verkrampfen sich. Ich weiß nicht wie oft ich »hatte wieder einen epileptischen Anfall« an meine Mutter schrieb. Epilepsie. Das war seit dem Jahr 2004 die Diagnose. Eine Krankheit, von der etwa eine halbe Million Deutsche betroffen sind und wegen der ich immer wechselnde Medikamente nahm. Dann, nach etwa fünfzehn Jahren und über zwanzig großen Anfällen, saß ich auf besagtem Plastikstuhl und verstand, dass die Neurologin ihren Satz keineswegs als Beleidigung gemeint hatte. Sie stellte die Diagnose Epilepsie in Frage. Sie rettete mir wahrscheinlich das Leben.
Ein paar Wochen später lag ich für weitere Untersuchungen in einem Berliner Krankenhausbett und wurde von von etwa den folgenden Worten eines Kardiologen aus dem Schlaf geweckt: »Sie haben eine genetische Herzrhythmusstörung. Sie hatten unglaubliches Glück! Lebt Ihre Familie noch? Sind Sie sicher? Kein Problem, wir machen eine OP. Wollen Sie einen subkutanen Defibrillator? Haben Sie letzte Nacht das Spiel Real Madrid gegen Juventus Turin gesehen?«
Gerne würde ich die lückenhafte Erinnerung auf die Tatsache schieben, dass ich noch nicht ganz wach war. Vermutlich stand ich jedoch unter Schock. Der Arzt sagte mir, dass meine Anfälle nicht epileptisch waren, sondern von einer Herzrhythmusstörung ausgelöst wurden, die mich über kurz oder lang vermutlich das Leben gekostet hätte. Nicht mehr das Gehirn sollte mein Problem sein – sondern das Herz. Ausgerechnet das Herz. Organ des Lebens und der Liebe. Das Herz. Immer wieder kommt meines aus dem Takt, schlägt viel zu schnell, kann mein Gehirn nicht mehr mit genug Sauerstoff versorgen und lässt meinen Körper krampfen.
Die Diagnose brachte eine große Frage mit sich. Ich stellte sie Ärzten. Ich sprach mit meinem Freund. Und ich tat das, was meine Oma immer tut: Ich fragte Google.
Google, wie wahrscheinlich ist es, dass ich noch lebe?
Google antwortete mit vielem, das ich nicht verstand. Mit Videos über junge, tote Frauen. Mit Statistiken. Das Magazin Ärzteblatt gab mir schließlich eine Rechenaufgabe mit auf den Weg, die mir noch immer nicht aus dem Kopf geht: Wenn jemand eine unbehandelte Herzrhythmusstörung hat, die binnen fünf Jahren etwa die Hälfte der Betroffenen tötet: Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Person ihren 27. Geburtstag feiern darf?
Ich bin 27. Schließt man Epilepsie als Ursache aus, habe ich laut meinen Akten fünfundzwanzig Ohnmachten (sogenannte Synkopen) überlebt und keine passende Behandlung erhalten. Fünfundzwanzig mal bin ich knapp dem plötzlichen Herztod entgangen, hat sich mein Herz wieder gefangen, hat sich irgendetwas in mir entschieden, dass es weiterleben möchte. Statistisch gesehen ein unglaubliches Glück.
So unglaublich, dass ich seit der Diagnose immer lachen musste, wenn ich darüber sprach. Das fing schon am ersten Abend nach der Diagnose an. Mein Freund, meine beste Freundin und meine Cousine besuchten mich in meinem Krankenhauszimmer und wir lachten und lachten und lachten. Als ich einen Tag später das Krankenhaus verlassen durfte, regnete es und wir öffneten trotzdem das Verdeck des geliehenen Cabrios und rasten mit der Musik auf voller Lautstärke über die Autobahn. Ich weiß noch wie wir das Auto beim Tempelhofer Feld stehenließen, über die Landebahn des stillgelegten Flughafens rannten und ich mir dachte wie schön die Welt sei. Wir waren wie betrunken von der Tatsache, dass ich trotz der Zeitbombe in meiner Brust noch lebte. Völlig überdreht. Mit der Zeit legte sich diese Trunkenheit, doch ein Lachen blieb, wenn ich Freunden von den offiziellen Überlebenschancen des Syndroms erzählte und nicht begreifen konnte, wie ich so viele Synkopen überleben konnte.
Mein Körper lag außerhalb meiner Kontrolle und ich spürte, wie mich mein rasendes Herz in die Schwärze, in das Rauschen in meinen Ohren, in die Bewusstlosigkeit zog
Was hieß das schließlich schon: »Ich hätte tot sein können«? Der Tod fühlte sich so abstrakt an – ich kannte ihn nur vom Hören-Sagen. Von den anderen. Von den Alten. Das hatte ja noch nichts mit mir zu tun. Nichts mit dem Leben in den Zwanzigern. Oder eben doch? Sollten wir uns nicht gerade dann, wenn wir das Glück haben, noch am Leben zu sein, mit der Möglichkeit – nein, der Sicherheit – unseres eigenen Todes auseinandersetzen? Diese Frage trug ich mit mir herum, stellte sie ein paar Freunden und bekam meistens eine betroffene Mine und ein stummes Kopfnicken zurück.
Es ist schwer über etwas zu sprechen, mit dem wir kaum Erfahrung haben – denn in der Gesellschaft haben wir den Tod größtenteils ausgeklammert. Wer ihn sehen will, muss sich fast anstrengen. Er ist hinter den hohen Mauern der Friedhöfe und in den Krankenhäusern. In Letzteren stirbt etwa die Hälfte aller Menschen in Deutschland, obwohl sich laut einer Studie des Hospiz- und Palliativverbands (DHPV) nur etwa vier Prozent aller Deutschen ihren Tod im Krankenhaus vorstellen. »Institutionalisierung des Sterbens« nennt der Soziologe Reimer Gronemeyer das Phänomen, das seiner Meinung nach zu unserer Entfremdung vom Tod beiträgt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wir wollen nicht über den Tod nachdenken, ihn hinauszögern, verhindern. Für Letzteres entwickeln sich immer neue Ansätze: Die Biotechnologie versucht, uns zu medizinisch »amortalen« Menschen zu machen, wie es der Historiker Yuval Noah Harari in seinem Bestseller Homo Deus nennt. Im Silicon Valley will die Firma Nectome die digitale Unsterblichkeit ermöglichen, indem sie Gehirne konserviert und in die Cloud läd. Zumindest die Konservierung funktioniert bereits.
Das Reden über den Tod war also schwierig. Darum lachte ich und das Leben lief weiter. Ich ließ mir einen Defibrillator direkt über dem Herzen einsetzen, machte einen genetischen Test, ging zur Arbeit und genoss den Sommer.
Dann kam der Tag, an dem mir mein Defibrillator offiziell das Leben rettete. Die Narbe von der OP war verheilt und mein großer Rucksack für den Sommerurlaub gepackt. Ich wollte pünktlich aufstehen, um vor dem Abflug noch ein paar Erledigungen machen zu können, und hatte mir deshalb einen Wecker gestellt. Als der Wecker am Morgen klingelte, schreckte ich aus dem Schlaf und drückte auf den »Snooze«-Knopf. Dann bemerkte ich, dass etwas nicht stimmte. Mein Herz raste. Ich lag still im Bett und mein Herz fühlte sich an als würde ich gerade einen 100-Meter-Sprint machen. Beruhigen. Ich musste mich beruhigen. Alles war okay. Es war nur der Wecker. Während ich versuchte mir das zu sagen, wusste ich bereits, dass es zu spät war. So ist es immer: Ich versuche dagegen anzukämpfen, meinem eigenen Körper zu sagen, dass alles okay ist. Dass ich in meinem Bett liege. Dass ich das nicht will, was gleich passieren wird. Doch wie immer hatte ich auch dieses Mal keine Chance. Mein Körper lag außerhalb meiner Kontrolle und ich spürte, wie mich mein rasendes Herz in die Schwärze, in das Rauschen in meinen Ohren, in die Bewusstlosigkeit zog.
Christopher Hitchens schrieb in seinem posthum veröffentlichten Buch Endlich: Mein Sterben: »Ich habe keinen Körper, ich bin ein Körper«. Dieser Moment, dieses Hinabgesogen-Werden in das, was mein Körper tut, dieses völlige Aufgeben jeglicher Kontrolle – das bestätigt es mir jedes Mal. Die Kontrolle, die ich glaube zu haben, ist nur Schein. Ich bin meinem Körper ausgeliefert – denn ich bin er.
Dann, irgendwann, kamen auch an diesem Tag meine starren Arme, Beine und Augen zurück. Das rhythmische Rauschen in meinen Ohren war noch immer da und ich spürte einen Schmerz in der Brust. Ich stand auf, nahm meinen Rucksack und fuhr in die Klinik. Dort wurde der Speicher des Defibrillators von dem Kardiologen ausgelesen, der ihn mir im April eingesetzt hatte. Sichtlich berührt und in seinen Freizeitklamotten – er war trotz eines Urlaubstags zu mir gekommen – zeigte er mir auf einer gezackten Linie den Moment, an dem mein Defibrillator mein außer Kontrolle geratenes Herz mit einem elektrischen Schock gestoppt und wieder neu gestartet hatte. Was ohne den Defibrillator passiert wäre, weiß ich nicht. Mehrere Menschen drängten sich in dem kleinen Besprechungsraum, betrachteten die gezackten Linien meines Herzens und fragten mich, ob ich nicht zur nächsten Konferenz kommen wollte, wo sie meinen Fall einem Fachpublikum vorstellen wollten. Eine so lange Zeit der Fehldiagnose und des Überlebens war schließlich nicht normal. Irgendwann stand ich mit meinem großen Reiserucksack wieder draußen vor dem Krankenhaus und machte mich auf den Weg zum Flughafen. Ich würde mir meinen Urlaub nicht nehmen lassen, nur weil ich heute fast gestorben war. Im Bus schrieb ich einem Freund, was passiert war. Zurück kamen nur zwei Smileys: Eines mit aufgerissenen Augen und ein zwinkerndes.
Im Urlaub hatte ich viel Zeit, über die Reaktionen meiner Bekannten und auch über meine eigenen Erwartungen nachzudenken. Irgendwann fiel mir etwas auf: Wenn ich über das Geschehene sprach, war es aus Sicht der »glücklichen Überlebenden«, der ihre Sterblichkeit und zugleich ihre Lebendigkeit bewusst geworden war. Was mein engstes Umfeld allerdings hörte, war die Nachricht, dass sie fast einen geliebten Menschen verloren hätten. Das sind in der Tat zwei sehr unterschiedliche Gesprächsthemen. Ich verstand, dass das Thema »Tod« ein dreigeteiltes Paket ist. Es besteht aus dem Sterben, aus der Trauer und aus dem Tot-sein selbst. Ersteres ist der Prozess vor dem Tod, der unter Umständen schmerzvoll sein kann, Zweiteres betrifft den Tod geliebter Menschen und Letzteres ist das, womit ich mich seit meiner Diagnose mehr und mehr zu beschäftigen begann: Meine jederzeit mögliche Nicht-Existenz auf dieser Welt – meine Sterblichkeit und das, was sie für mein Leben bedeutet. Anders gesagt: Was passiert nach dem Tod und was heißt es für mein Leben, wenn die Antwort auf diese Frage schlicht das unreligiöse »Nichts« ist?
Einmal sagte ich zu einem Kollegen: »Ich finde, wir müssen uns alle mehr mit unserer eigenen Sterblichkeit beschäftigten.« Er sagte daraufhin nur: »Muss ich das wirklich, Nina?«
Mir war klar, dass ich mich dieser letzten Frage stellen wollte. Ich konnte nicht anders. Mein wiederholtes Überleben kam mir wie ein Geschenk vor, eine Einladung zur Reflektion über mein Leben. Ich sprach mit Freunden und versuchte ihnen zu erklären, dass ich nicht über das Sterben und auch nicht über meinen Tod reden wollte. Ich wollte über die Sterblichkeit sprechen. Über das Glück, nicht nur auf der Welt zu sein, sondern noch immer auf der Welt zu sein. Die Gespräche liefen mal gut, mal weniger gut. Einmal sagte ich zu einem Kollegen: »Ich finde, wir müssen uns alle mehr mit unserer eigenen Sterblichkeit beschäftigten.« Er sagte daraufhin nur: »Muss ich das wirklich, Nina?« Damit war das Gespräch beendet. Berechtigt war seine Frage aber natürlich.
Was macht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod mit uns? Bringt sie uns überhaupt etwas? In der Psychologie gibt es eine Theorie zu diesem Thema namens »Terror Management Theorie«. Sie besagt, grob zusammengefasst, dass die Erinnerung an unsere Sterblichkeit eine Angst in uns Menschen auslöst, die wir versuchen zu überwinden, indem wir uns noch intensiver an unsere Weltsicht klammern. Im Angesicht des Todes werden religiöse Menschen also noch religiöser, Konservative noch konservativer und Liberale noch liberaler. Diese Festigung unserer Weltanschauung gibt uns ein höheres Selbstwertgefühl und zugleich die Sicherheit, dass nach unserem Tod schon alles in den von uns erwarteten Bahnen weiterlaufen wird – eine scheinbare Kontrolle über die Zeit nach unserem Tod.
Das klingt so als wäre es nicht sehr sinnvoll, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Braucht die Welt wirklich mehr Menschen mit einer verfestigten Weltanschauung?
Anfangs spürte auch ich die Angst, die die »Terror Management Theorie« beschreibt. Ich trauerte um meine jugendliche Naivität – meinen Glauben, dass das Leben schon so weitergehen würde und das Thema Tod ein Thema für alte Menschen sei. Doch dann passierte etwas anderes. Denn wenn man die Möglichkeit bekommt zu sagen »ich hätte sterben können«, bleibt die Tatsache, dass man eben nicht gestorben ist. Eine Dankbarkeit entstand in mir, eine neue Wertschätzung des Lebens. Klingt nach nervigen Kalendersprüchen? Carpe Diem. Lebe den Moment. Nicht die Tage in deinem Leben zählen, sondern das Leben in deinen Tagen. Es gibt diese Sprüche zu Hauf – und vielleicht auch aus gutem Grund. Manchmal steckt in den simplen Dingen (in diesem Fall im Abreisskalender auf dem Gäste-WC meiner Tante) mehr Wahrheit als man glauben möchte. Je mehr ich über die Un-Selbstverständlichkeit meines Lebens nachdachte, desto entspannter wurde ich: Dinge, die mich gewöhnlich unter Druck gesetzt hatten, erschienen mir nicht mehr so wichtig und ich begann darüber nachzudenken, was ich wirklich vom Leben wollte – und was eben nicht. Ich begann auch, Sichtweisen und Verhalten anderer Menschen, die mich früher genervt hatten, entspannter zu sehen.
Eine ähnliche Veränderung hat der niederländische Kardiologe Pim van Lommel in einer Langzeitstudie an Menschen mit Nahtoderfahrungen beobachtet: »Wir sahen in ihnen ein größeres Interesse an Spiritualität und Fragen nach dem Sinn des Lebens sowie eine größere Akzeptanz und Liebe zu sich selbst in Kombination mit einem Gefühl der Einheit mit anderen und mit der Natur.« Christopher Hitchens Formel »Ich = Körper« würde van Lommel vermutlich nicht unterschreiben. Er hinterfragt die in der Wissenschaft verbreitete Auffassung, dass das Bewusstsein mit dem Ende der Gehirnaktivität verschwindet und fordert eine größere Auseinandersetzung mit der Möglichkeit eines Bewusstseins nach dem Tod: »Die derzeitige materialistische Sicht auf die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist für ein angemessenes Verständnis der Nahtoderfahrung zu eingeschränkt. Wir brauchen einen neuen ›postmaterialistischen‹ Ansatz in der Wissenschaft«. Ich selbst kann mich an keine klassische Nahtoderfahrung erinnern. Doch allein die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und die Akzeptanz derselben scheinen eine erhöhte Toleranz und Zufriedenheit mit sich zu bringen. Bei Menschen im letzten Lebensabschnitt hat der Volksmund dafür sogar ein Wort: Altersmilde.
Wenn man sich also der eigenen Sterblichkeit stellt – und zwar wirklich –, kann man die von der »Terror Management Theorie« beschriebenen Auswirkungen überwinden und ein positives Verhältnis zum Tod finden, das nach meiner Erfahrung auch zu einem erfüllteren und glücklicheren Leben führt. Denn aus der Frage »Wie will ich leben, wenn mein Leben jederzeit vorbei sein kann?« folgten für mich einige Schritte, die ich ohne diese Frage vermutlich nie gemacht hätte.
Diesen Artikel zu schreiben zum Beispiel. Im Alter von vierzehn Jahren veröffentlichte ich einen Roman, verlor das Schreiben dann jedoch wieder aus den Augen. »Schreiben ist brotlose Kunst«, hatte meine Oma einmal zu der Teenager-Version meiner selbst gesagt. Neulich entschied ich, dass mir dieser Satz lange genug im Kopf herumgespukt war. Und wenn sich das Schreiben wirklich als brotlos herausstellen sollte – das Brot würde ich schon irgendwie anders auf den Teller kriegen. Ich nahm das Buch, das ich als Kind geschrieben hatte, aus dem Regal und stellte es auf meinen Esstisch. Dort steht es jetzt und erinnert mich daran, was ich als Kind schon einmal geschafft habe: etwas einfach zu machen und fertig zu bringen. Ohne darüber nachzudenken, dass es nicht gut genug sein könnte. Dass ich vielleicht doch lieber sinnvollere Sachen mit meiner Zeit anstellen sollte. Ich weiß jetzt, dass ich mir einiges von meinem Kindheits-Ich abschauen kann und arbeite mehrmals in der Woche an meinen Schreibprojekten. Zeit, die ich mir aktiv beschaffe: Ich habe jetzt eine Achtzig-Prozent-Stelle und dieses Jahr bereits zwei Monate unbezahlten Urlaub genommen.
Denn das ist es, was mich die Erfahrung, fünfundzwanzig Mal einem plötzlichen Herztod entgangen zu sein, gelehrt hat: Ich weiß eigentlich schon genau, was ich will. Ich muss es nur machen. Es ist der Unterschied zwischen wissen und verstehen, nehme ich an. Genauso wie ich schon immer wusste, dass ich sterblich bin, wusste ich auch schon immer, dass ich gerne schreibe. Wie oft habe ich gesagt: »Das Leben ist kurz«? Wie oft habe ich im Lebenslauf unter der Rubrik Hobbies »kreatives Schreiben« angegeben? Anscheinend musste ich erst dem Tod nahekommen, damit ich meine Wünsche selbst ernst nehme. Wusste ich nicht schon immer, dass ich Sprachen liebe? Jetzt mache ich einen Online-Italienischkurs und der nächste Urlaub geht in die Toskana. Wusste ich nicht schon immer, dass ich die Natur brauche? Jetzt suchen wir nach einer Wohnung im Grünen. Wusste ich nicht schon immer, dass Freunde wichtig sind? Jetzt habe ich eine wöchentliche Verabredung mit meiner besten Freundin. Wusste ich nicht schon immer, dass ich meinen Freund liebe und Fernbeziehungen scheiße sind? Jetzt ziehen wir zusammen und wollen heiraten.
Klingt banal? Vielleicht. Hier kommen wir vermutlich wieder auf die Kalendersprüche zurück – manchmal ist die Antwort wohl einfacher, als wir denken. Ich bin nicht wie Henry David Thoreau in den Wald gezogen. Ich habe mir nicht wie David Beckham spirituelle Tattoos auf den ganzen Körper stechen lassen. Ich bin nicht wie Elizabeth Gilbert aus Eat, Pray, Love zu einer Weltreise aufgebrochen. Aber ich würde es jederzeit tun, hätte ich das Gefühl, dass es mein Leben lebenswerter machen würde. Und genau das macht den Unterschied.
Leben in Bezug auf den Tod. So nenne ich mein neues Modell. Klingt gruselig, ist aber sehr zu empfehlen.