Erste an der Bar

In eine Bar geht, wer nicht allein sein will. Oder? Unsere Autorin nicht. Sie liebt die Momente am frühen Abend, in denen der Tresen noch leer ist und völlig offen, was passiert.

Foto: Erli Grünzweil

»Ich mag Bars, kurz nachdem sie aufgemacht haben, am frühen Abend. Wenn die Luft noch kühl und sauber ist und alles glänzt. (…) Ich mag die sauberen Flaschen im Regal, die glitzernden Gläser und die Vorfreude. Ich mag es, dem Barmann dabei zuzusehen, wie er den ersten Drink des Abends mischt, das Glas vor mir abstellt und eine kleine gefaltete Serviette danebenlegt. Ich mag es, langsam zu trinken. Der erste Drink des Abends in einer ruhigen Bar – das ist ein Ding. Alkohol ist wie Liebe, der erste Kuss ist ­Magie, der zweite Intimität, der dritte Routine, und dann ziehst du das Mädchen aus.«

Das ist nicht von mir, das ist von Raymond Chandler, aus The Long Goodbye, seinem besten ­Roman, ich habe mir erlaubt, es zu übersetzen. Wann immer ich gegen siebzehn Uhr vierzig nicht weiß, wohin mit mir, taucht diese Schönheit aus Wörtern und Stil in meinem Kopf auf, und ich denke: Come on, mach dich einfach auf die Socken, sei die Erste in der Bar und gönn dir eine Situation, die nur wenige überhaupt in der Lage sind zu begreifen.

Leute gehen in Bars, um andere Leute zu treffen. Meistens ist das auch mein Wunsch, aber es existiert gleichzeitig eine tiefe Sehnsucht in mir nach einer ganz spezifischen Einsamkeit – einer Art von Frieden, die ich nur finde, wenn ich mit mir ­allein bin, es mir aber an nichts fehlt. Und Essen ist dabei nicht so wichtig.

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Also sitze ich an dieser Theke, der Barmann hat mich um kurz vor achtzehn Uhr reingelassen, er hat den Schlüssel in der Tür für mich umgedreht, weil er das alles schon kennt: meinen leicht verlorenen Blick draußen vor dem Fenster, mein nervös ver­liebtes »Lass mich die Erste sein heute, aber an deinem Tresen«, das Glück in meinen ­Augen, wenn ich es dann bin. Er fragt mich, was ich trinken möchte, ich sage, weil ich so im Privatdetektivin-Modus bin und es jetzt Punkt achtzehn Uhr ist: »Einen Gimlet, bitte.«

Ich bin ­allein mit mir und meiner süßen Einsamkeit, die einen staubigen Schatten wirft in die sauberen Flaschen und die glitzernden Gläser

Der Barmann macht die Musik an, Etta James, I’d Rather Go Blind, live in Montreux 1975, acht Minuten und neun Sekunden, und während Ms James sich ihrem mächtigen Schmerz hingibt, gießt er eine Hälfte Tanqueray No. 10 und eine Hälfte Rose’s Lime Juice für mich zusammen und stellt es auf den Tresen, genau vor meine Nase, während ich ein bisschen zu weit weg bin davon, und Etta James singt die Noten von unten an, und ich nehme das zarte Glas in die linke Hand. In der rechten Hand halte ich eine ­frühe, verbotene Zigarette, und der Barmann verschwindet in der Kulisse, und ich bin ­allein mit mir und meiner süßen Einsamkeit, die einen staubigen Schatten wirft in die sauberen Flaschen und die glitzernden Gläser, und so sitze ich da und träume mir stille Gesellschaft herbei, Schriftstellerin halt, und schon geht in meinem Kopf eine zusätzliche Tür auf.

Ein Typ würde reinkommen, in einem hoffnungslos alt­mo­dischen Anzug, zu weit geschnitten, besonders um die Beine, er würde einen Hut tragen, zu tief ins Gesicht gezogen, aber ­irgendwie würde der Trenchcoat fehlen. Er würde sich neben mich setzen und vielleicht ­»Hallo« sagen.

»Hallo«, würde ich sagen, »aber irgendwie fehlt Ihnen der Trenchcoat.«»Irgendwas fehlt doch immer. Fehlt Ihnen was?«»Hm, die Musik könnte noch etwas trauriger sein, für mein Gefühl.«»Für mein Gefühl«, würde er sagen, »ist das völlig ausreichend so.«


Der Barmann würde – Magie – aus der Kulisse hervortreten, denn er versteht die einsamen Gäste wie niemand sonst. Er würde einen zweiten Gimlet mixen. Zurück in der Wirklichkeit regt sich etwas tief unten in meiner Seele und sagt: Es ist achtzehn Uhr dreiundzwanzig.