Es gibt unsterbliche Allüren des Menschseins, die Krieg und Frieden überdauern. Ärger um Parkplätze zum Beispiel. Finde mal einen Parkplatz im Zentrum von Kiew. Ich war vergangenen Sommer für eine Recherche dort. Schien die Sonne, waren die Leute draußen, Luftalarm hin oder her. Die Frauen trugen Sommerkleider, die Männer Shorts, und sie fluchten, wenn sie keinen Parkplatz fanden. Oleksiy, der Übersetzer, mit dem ich unterwegs war, fluchte auch. Wir gurkten durch die engen Straßen, bis unser Fotograf Mykhaylo uns in einen kleinen Hinterhof navigierte. Eine Freundin von ihm offerierte einen Parkplatz. Natalka gehört ein Buchladen, nur wenige Minuten vom Goldenen Tor entfernt. Wir parkten auf dem einzigen Parkplatz und gingen auf einen Plausch mit der Chefin rein, die prompt erzählte, sie habe um diesen einzigen Parkplatz mit einem Sexshop gerungen. »So siegt der Geist über den Körper!«, rief Natalka.
»Zbirka« heißt ihr Laden, was so viel bedeutet wie »Sammlung«. Natalka sammelt Erinnerungen. Es gibt keine Fiktion hier, ihre Geschichten sind Tatsachen: Sachbücher, Fotobände, Magazine, historische Werke, viel über ukrainische Kultur und den russischen Angriffskrieg. Für viele Menschen hier sind Bücher eine Waffe, um mit der Situation umzugehen, erzählte Natalka. Manche wollen so die Geschichte besser verstehen, andere wollen sich mit Geschichten ablenken. Die Leute suchen nach Antworten. Warum begann der Krieg? Was ist die Ukraine? Wie sind wir hierhergekommen – und was machen wir jetzt?
Natalka diente selbst anderthalb Jahre lang im Militär, auch zur Zeit des russischen Überfalls noch. Der Buchladen war ihr Traum. Seit ihrem Studium war der Traum gewachsen, mehr als zehn Jahre lang. Sie hatte auch schon einen Businessplan. Nur der Anstoß, es endlich zu tun, fehlte. Als sie den Dienst quittierte, fragte sie sich: Soll ich mir jetzt einen 3er-BMW kaufen? Oder einen Buchladen aufmachen? Sie entschied sich für Letzteres. Was auch an den mangelnden Parkplätzen lag, wie sie sagt.
Ich dachte noch lange über Natalka nach. Ich fragte mich, ob sie ihrem Traum auch ohne den Krieg nachgegangen wäre. Hätte sie ihren Laden schon früher eröffnet? Oder vielleicht gar nicht? Wir alle tragen Wünsche im Herzen, oft genug bleiben sie dort. Ja, ja, manchmal liegt’s an den Kindern, die da sind, oder am Geld, das nicht da ist, aber wenn wir ehrlich sind: An der Zeit liegt es nicht. Liegt es nie. Haben wir massig. Man nehme allein die Zeit, die wir eingespart haben, wenn man »LG« in der E-Mail schreibt statt »Liebe Grüße«.
Später am Tag saßen wir in einem Lokal und sprachen lang über ernste Themen wie Raketen und Stromausfälle und die Frage, ob Chicken Kiev mit Cordon bleu vergleichbar ist (ich fand ja, die anderen nein). Dabei trank ich auf Empfehlung meiner Kollegen ein kühles Glas Kompot. Wie für das deutsche Kompott (mit Doppel-T) werden für diesen Trunk Früchte gekocht, in diesem Fall rote Beeren, und kalt serviert, normalerweise ohne Alkohol. In Osteuropa ist es ein beliebtes Sommergetränk, das wie ein Kindheitstraum aus dem Freibad schmeckt, den man in vielen alten Fernsehwerbungen ausgemalt hat.
Wenn ich heute, fast ein Jahr später, gerade mal nicht weiß, was ich will, denke ich an diese Begegnung. Natalka hat mittlerweile einen zweiten kleinen Laden. Aber es muss ja nicht gleich der große Traum sein, um sich selbst etwas Gutes zu tun. Den besten Tipp dazu gab Agent Dale Cooper in der Serie Twin Peaks. Zum Sheriff des verschlafenen Städtchens sagte er: »Ich verrate dir ein kleines Geheimnis. Jeden Tag, einmal am Tag – mach dir selbst ein Geschenk. Plan es nicht, warte nicht darauf. Lass es einfach geschehen.«