Eine glänzende Idee?

Die Erforschung der Kernfusion ist ein Irrsinn: Sie geht nur mühsam voran und kostet Milliarden. Aber jeder Cent lohnt sich, denn sie könnte uns vom Öl befreien. Hans Magnus Enzensberger über die perfekte Energiequelle.

I

An heißen Sommertagen kann es vorkommen, dass den Spaziergängern in den Isarauen nördlich von München der Klimawandel einfällt, von dem immerzu in den Zeitungen die Rede ist, oder der berüchtigte Treibhauseffekt, auch wenn sie bei ihrem Ausflug mehr als 34 Grad im Schatten kaum riskieren. Vermutlich ahnen sie nicht, dass im selben Moment, ein paar Fußminuten weiter, in einem unauffälligen Gebäude fünf Sekunden lang eine überirdische Hitze herrscht, nämlich mehr als hundert Millionen Grad Celsius – eine Temperatur, bei der jedes Material auf diesem Planeten verdampft. Das geschieht in einer monströsen Maschine namens ASDEX Upgrade im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik bei Garching. Es ist die größte Fusionsanlage Deutschlands. Sie wurde 1991 in Betrieb genommen, aber fertig wird sie vermutlich nie werden; denn die Experimente, die sie ermöglicht, dienen nicht zuletzt ihrer eigenen Optimierung. Der Besucher, der die Flusslandschaft mit der Technosphäre vertauscht hat, kann auf einem Monitor verfolgen, was in der Maschine geschieht. Der Kamerablick ins Innere der Anlage zeigt ein Höllenfeuer. Was dort geschieht, ist eine Kernfusion. Die etwa siebenhundert Menschen, die hier seit Jahrzehnten an diesem Projekt arbeiten, haben sich viel vorgenommen. Ihr Fernziel ist es, gemeinsam mit anderen Forschern und Ingenieuren auf vier Kontinenten, nach einer endgültigen Lösung der Energieprobleme zu suchen, mit denen die Menschheit zu kämpfen hat. Falls es gelingen wird, auf der Basis der Kernfusion ökonomisch konkurrenzfähige Kraftwerke zu bauen, so hätte das unabsehbare politische und ökologische Folgen.

Die Abhängigkeit von Öl und Gas schwände dahin und mit ihr die Erpressbarkeit der Industrieländer durch Russland und die instabilen Staaten des Orients. Anders als existierende Atomkraftwerke, die mit der Kernspaltung arbeiten, kämen solche Fusionsanlagen ohne den hochradioaktiven Brennstoff Uran-238 aus; das Risiko einer Kernschmelze wäre ausgeschlossen, und die Probleme der Endlagerung des strahlenden Mülls auf ein Minimum reduziert. Dazu kommt, dass ein Fusionskraftwerk keine Treibhausgase in die Atmosphäre abgeben wird.
Ob es den Forschern gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen, weiß heute noch niemand mit Bestimmtheit zu sagen, aber an der Hingabe, mit der sie sich dieser Aufgabe widmen, ist kein Zweifel möglich.

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(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Stockholmer Zeremonie ist ihm nur deshalb erspart geblieben, weil es keinen Nobelpreis für Astronomie gibt.)

II

Princeton ist die idyllischste unter den amerikanischen Elite-Universitäten. Man zeigt den Besuchern, wo Albert Einstein und Thomas Mann gewohnt haben, der eine in einem bescheidenen Holzhaus, der andere in einer herrschaftlichen Villa. Auf dem kleinen Friedhof an der Greenview Avenue liegen die Gräber von Einstein und von zweien der größten Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts: Kurt Gödel und John von Neumann. Den Namen von Lyman Spitzer dagegen wird man seltener hören. Er war ein Astrophysiker, der sich mit der interstellaren Materie und mit der Evolution von Sternen beschäftigt hat; außerdem gehen auf seine Arbeiten die Weltraumteleskope zurück. Spitzer hat es noch erlebt, dass sein Geschöpf, das Hubble-Observatorium, nach vierundvierzig Jahren der Entwicklung und des Streits um die Finanzierung, auf seine Umlaufbahn geschossen werden konnte. Die Stockholmer Zeremonie ist ihm nur deshalb erspart geblieben, weil es keinen Nobelpreis für Astronomie gibt.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Gelehrte trug eine Hornbrille, eine hohe Stirnglatze und ein Lächeln, das an die Cheshire Cat aus "Alice im Wunderland" erinnerte.)

III

Im Frühjahr 1957 empfing Lyman Spitzer einen jungen Mann aus Deutschland, der aus bloßer Wissbegierde gekommen war und keine besondere wissenschaftliche Kompetenz vorzuweisen hatte, und zeigte ihm das Laboratorium für Plasmaphysik, das er sechs Jahre zuvor gegründet hatte. Der Gelehrte trug eine Hornbrille, eine hohe Stirnglatze und ein Lächeln, das an die Cheshire Cat aus Alice im Wunderland erinnerte. Er war sich nicht zu schade, dem Gast zu erklären, was ein Plasma ist.

»Sie mögen denken«, sagte er, »dass die Materie nur drei Aggregatzustände hat: fest, flüssig und gasförmig. Aber das ist ein Irrtum. Ich will Sie gar nicht mit
so exotischen Dingen wie der ›suprafluiden Phase‹ und dem ›mesomorphen Zustand‹ behelligen; Einstein hat 1924 noch etwas viel Seltsameres vorhergesagt: ein nach ihm und dem indischen Physiker Bose benanntes Kondensat, das aber bisher experimentell noch nicht nachgewiesen werden konnte. Vor Überraschungen können wir, wie Sie sehen, nie sicher sein. Nur das ›Plasma‹ kann ich Ihnen nicht ersparen; denn man schätzt, dass 99 Prozent der sichtbaren Materie im Universum daraus bestehen. Das fängt schon etwa hundert Kilometer über unseren Köpfen an, in der Ionosphäre. Die Sterne und fast die ganze interstellare Materie befinden sich in diesem Zustand. Wenn Sie nicht wissen, was ein Plasma ist, machen Sie sich nichts daraus. Auch der Wissenschaft war es lange unbekannt. Erst 1928 hat der amerikanische Chemiker Irving Langmuir diesen Begriff geprägt. Ein Plasma ist nichts weiter als ein ionisiertes Gas, in dem Sie alle möglichen Partikel und Phänomene finden: Elektronen, positive und negative Ionen, neutrale Atome, neutrale und geladene Moleküle, elektrische und magnetische Felder, Ladungen und Ströme. Diese brodelnde Suppe existiert nur nahe dem absoluten Vakuum, ist elektrisch leitfähig und lässt sich durch Magnetfelder beeinflussen. Wenn Sie eine elektrische Spannung anlegen, entsteht im Plasma ein Strom, der seinerseits ein Magnetfeld erzeugt, das wiederum auf das Plasma einwirkt, sodass es in einen hochfrequenten Schwingungszustand gerät. Können Sie mir so weit folgen? Ja?«

Der Besucher, der nicht einmal ein Tonbandgerät mitgebracht hatte, kritzelte nickend in sein Heft.

»Bei bestimmten Temperaturen leuchtet das Plasma, weil die angeregten Atome oder Moleküle strahlen. Übrigens verdanken wir ihm unser Überleben; denn auch der Kern der Sonne, der ihre Energie liefert, besteht aus diesem Aggregatzustand. Allerdings herrschen dort Temperaturen von rund fünfzehn Millionen Grad. Damit Sie aber nicht glauben, dass nur die Astronomen mit Plasmen zu tun haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht zu Hause irgendwo eine Leuchtstofflampe haben. Nein? Dann schaffen Sie sich eine an, und Sie können beobachten, wie in ihrem Innern ein Plasma leuchtet.«
»Eine ziemlich beunruhigende Vorstellung.«
»Ach was! Ein völlig harmloses Phänomen, denn die Temperatur, die dort herrscht, ist relativ niedrig; es sind einige zehntausend Grad, und auch das nur bei einem kleinen Teil der Elektronen. Das hört sich ziemlich heiß an, werden Sie sagen, der überwiegende Rest im Niederdruckplasma der Lampe bleibt jedoch kalt. Überhaupt enthält die Röhre höchstens ein Milligramm Gas. Sie können also sicher sein, dass Ihre Lampe nie explodieren wird. Ganz anders, wenn Sie sich in den Kopf setzen, es der Sonne nachzumachen. Das ist auf unserem Planeten erstmals am 31. Oktober 1952 auf dem Eniwetok-Atoll im Pazifik geschehen, bei der Explosion der ersten Wasserstoffbombe. Sie machte sich das umgekehrte Prinzip der Hiroshima-Bombe zunutze: statt der Spaltung des Atomkerns die Fusion. An ihrem Beispiel können Sie sehen, welche Energien in einem Plasma stecken können, wenn Sie eine solche Reaktion erreichen. Dazu brauchen Sie aber nicht nur extrem hohe Temperaturen, wie sie in der Sonne herrschen; auch der gewöhnliche Wasserstoff tut es nicht, sondern Sie müssten auch über ein Isotop dieses Elements verfügen. Dafür kommt in erster Linie das Deuterium in Betracht. Dieser schwere Was-serstoff ist in unbegrenzten Mengen in den Weltmeeren vorhanden; es hat den Vorteil, dass es nicht radioaktiv ist. Wenn Sie es dann noch schaffen, es mit schwerem Wasserstoff zu verschmelzen, gewinnen Sie Energie. Sie kennen doch die Einstein’sche Gleichung, die berühmteste physikalische Formel des Jahrhunderts?«
»E = mc2.«
»Richtig. Das bedeutet, dass Sie Masse in Energie umwandeln können. Genau das geschieht bei der Fusion. Ihre Ausgangsstoffe wiegen mehr als ihre Endprodukte, nämlich Helium und freie Neutronen. Die Differenz wird in Energie umgewandelt. Sie werden nichts dagegen haben, dass ich vereinfache?«
»Nein. Im Gegenteil.«
»Jedenfalls haben wir es bei diesem Fusionsprozess mit einer unerschöpflichen Energiequelle zu tun, und ich habe mich gefragt, warum er nur zur Verwüstung unseres Planeten dienen soll. Daher haben wir hier in Princeton den Versuch gemacht, die Kernfusion für zivile Zwecke zu nutzen. Während es bei der Bombe darum geht, ein sehr kleines Volumen extrem zu verdichten und zu erhitzen, sodass es bei der Fusion zur Explosion kommt, kann das bei der zivilen Nutzung nicht geschehen. Denn dabei wird das Plasma nicht verdichtet. Im Gegenteil, es ist sogar extrem dünn, und wir schließen es magnetisch ein. Die Fusion läuft deshalb kontrolliert ab. Die Kunst besteht darin, das Plasma dauerhaft in einem Zustand zu halten, in dem die Teilchen ohne Energieverlust immer wieder aufeinanderstoßen können, bis sie schließlich verschmelzen. Das ist, wie sich herausgestellt hat, ziemlich schwierig. Aber wenn es nicht gelingt, erkaltet das Plasma sofort, die Fusion bricht ab, und es passiert überhaupt nichts. Unser Plasmalabor ist 1951 gegründet worden, damals noch streng geheim unter dem Codenamen ›Project Matterhorn‹, weil das Pentagon die Sache nicht an die große Glocke hängen wollte. Auch Edward Teller war etwas nervös. Sie kennen doch Teller? Nein? Ein guter Physiker, aber ein schwieriger Mensch.«
»Man nennt ihn den ›Vater der Wasserstoffbombe‹«.
»Ja. Ich gebe übrigens gern zu, dass auch ich damals theoretische Berechnungen zur Entwicklung einer solchen Waffe angestellt habe. Wie Sie wissen, haben aber auch die russischen Physiker nicht geschlafen. Die Sowjetunion hat schon ein Jahr nach den USA über die Wasserstoffbombe verfügt. Doch auch zivile Projekte wie die unsrigen zur Nutzung der kontrollierten Fusion sind ungefähr zur gleichen Zeit von Sacharow und Tamm entworfen worden. Unser erstes Fusionsexperiment, der Stellarator A, ist 1952 in Betrieb gegangen. Wenn Sie ihn sehen wollen … Aber Sie werden enttäuscht sein. Er passt auf einen Labortisch. Ich habe damals gedacht, dass wir in vier experimentellen Schritten zu einem funktionierenden Fusionskraftwerk kommen könnten. Leider ist das nicht so einfach. Zurzeit arbeiten wir an einer zweiten, größeren und leistungsfähigeren Anlage. Und ich sage Ihnen ganz offen: Niemand weiß, was dabei herauskommen wird.«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "1955 hatten die Experten vorhergesagt, dass innerhalb von zwanzig Jahren die Energieprobleme der Welt ein für alle Mal gelöst sein würden.")

IV

Diese Unterhaltung, die der Besucher aus dem Gedächtnis und aus seinem Notizbuch rekonstruieren muss, liegt genau fünfzig Jahre zurück. Seitdem hat die Fusionsforschung viele Rückschläge erlitten und viele Fortschritte gemacht. 1955 hatten die Experten vorhergesagt, dass innerhalb von zwanzig Jahren die Energieprobleme der Welt ein für alle Mal gelöst sein würden, weil dann ökonomisch konkurrenzfähige Fusionsreaktoren zur Verfügung stünden. Zwei Jahre später gaben die USA ihre Politik der Geheimhaltung auf, und die Medien bemächtigten sich des Themas. Anfang der Neunzigerjahre häuften sich die Erfolgsmeldungen. Princeton verkündete neue Weltrekorde seines Reaktors: von 500 Millionen Grad Temperatur und neun Megawatt Leistung war die Rede.

Allerdings verbrauchte die Anlage weit mehr Energie, als sie liefern konnte.
Der damalige Leiter des Laboratoriums zeigte sich optimistisch: »Wir sind durch fehlende Finanzen, nicht durch Grenzen unseres technischen Know-hows eingeschränkt. Natürlich, auch wenn wir heute zwanzig Milliarden Dollar bekämen, könnten wir morgen noch kein Kraftwerk bauen, aber wir müssten nicht noch zwanzig oder dreißig Jahre warten.« Dabei hatten allein die Amerikaner für ihre Projekte bis 1993 bereits fast neun Milliarden Dollar ausgegeben. Die Pionieranlagen in Princeton mussten schon ein paar Jahre später stillgelegt werden.

Andere Kenner der Problematik waren von vornherein vorsichtiger. Derselbe Teller, der sich für die Fusionsforschung stark gemacht hatte, rechnete bereits mit längeren Zeiträumen, und heute ist von einem kommer-ziellen Betrieb frühestens im Jahre 2050 die Rede. »Wenn überhaupt«, fügen manche Wissenschaftler hinter vorgehaltener Hand hinzu.

Das liegt an den unerwarteten theoretischen und technischen Schwierigkeiten, die sich in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben. Vor allem erwies sich das Plasma als ein äußerst tückisches Medium, das schwer zu beherrschen ist; es ist gewissermaßen das Gegenteil eines Goldbarrens, der träge in einem Tresor vor sich hindämmert und am liebsten gar nicht reagiert. Kein Wunder; denn nicht nur muss dieses Plasma auf mindestens hundert Millionen Grad aufgeheizt und in einen magnetischen Käfig eingeschlossen werden, damit es die Wand des Gefäßes nicht berührt. Es ist auch nicht homogen, sondern im Kern heißer als an seinen Randzonen. Außerdem ist es, den Feldlinien entsprechend, verdrillt, und in seinem Innern fließen starke Ströme. Partikel, die durch die Plasmateilchen aus der Wand gelöst werden, führen zu Verunreinigungen. Schließlich, und vor allem, verhält sich das Plasma, auch ganz abgesehen von solchen Nebenwirkungen, weit kapriziöser, als die ersten Theorien es erwarten ließen. Bei der geringsten Störung kommt es zu Instabilitäten und zum
Zusammenbruch der Reaktion.

Was das bedeutet, kann man sich klarmachen, wenn man die Turbulenzen in einem ganz gewöhnlichen Wasserlauf betrachtet. Der Vergleich ist nicht so weit hergeholt, wie es scheinen mag; schließlich heißt die einschlägige Theorie Magnetohydrodynamik – und in dieser Bezeichnung steckt immer noch das Wasser. Mathematische Modellrechnungen stoßen schon bei so simplen Vorgängen an ihre Grenzen. Umso schwieriger ist die Simulation von Plasmaprozessen. Sie erfordert einen enormen Rechenaufwand, der den Theoretikern der Vierziger- und Fünfzigerjahre, unter ihnen auch Deutsche wie Bethe, Lüst und Weizsäcker, noch gar nicht zur Verfügung stand. Erst als es Großrechner mit entsprechender Kapazität gab, konnte man die Bündel von nichtlinearen Gleichungen angehen, mit denen solche Prozesse beschrieben werden und die sich nicht analytisch lösen lassen. Mit den schnellsten Computern lassen sich durch nummerische Optimierung wenigstens immer bessere Annäherungswerte erreichen.

Aber Lyman Spitzer ging es damals in Princeton noch gar nicht um die Nutzung der Fusionsenergie, sondern um reine Grundlagenforschung. Das ist, nach fünfzig Jahren, beinahe immer noch so. (Immerhin werden in allen Programmen inzwischen auch umfangreiche Kraftwerksstudien unternommen.) Thomas Klinger, ein deutscher Plasmaforscher, sagt: »Unsere Arbeit gleicht einem Symphonieorchester, das nur für andere Symphoniker spielt, und zwar eine Musik, die nur die Musiker selber verstehen.« Angesichts des Klimawandels wird es aber höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Otto Hahn und Fritz Straßmann ist die erste Kernspaltung der Welt, man schrieb das Jahr 1938, auf einem simplen Holztisch gelungen.)

V

Die experimentellen Probleme mit der Kernfusion haben, ebenso wie die schließlich erzielten Erfolge, dazu geführt, dass die Versuchsanlagen mit jedem Schritt größer und aufwendiger wurden. Was man Big Science nennt, hat schon immer klein angefangen. Otto Hahn und Fritz Straßmann ist die erste Kernspaltung der Welt, man schrieb das Jahr 1938, auf einem simplen Holztisch gelungen, mit einer Versuchsanlage, die aussieht, als wäre sie von einem Radioamateur gebastelt worden. Dagegen beschäftigte das Manhattan Project in der Wüste von New Mexico und in Oak Ridge, Tennessee, sechs Jahre später Zehntausende von Wissenschaftlern und Technikern und verfügte über ein Milliardenbudget. Auch Lyman Spitzers erste Fusionsexperimente hatten, wie gesagt, auf einem Labortisch Platz, während heutige Anlagen immer größere Dimensionen annehmen. Unter anderem liegt das daran, dass die Größe des Plasmas eine entscheidende Größe ist. Das leuchtet ein; denn wie bei jedem Körper, sagen wir, bei einem Ball, den man aufbläst, wächst das Volumen weit schneller als die Oberfläche. So auch beim Plasma, das sich im Reaktor befindet. Bei den deutschen Anlagen werden Plasmavolumina von bis zu dreißig Kubikmetern erreicht; das genügt noch nicht, um einen Überschuss an Energie zu erzeugen. Ein Fusionskraftwerk wird das Zehn- bis Zwanzigfache erfordern. Schon deshalb also werden immer größere Anlagen benötigt.

Es hat sich bald gezeigt, dass keine einzelne Nation mehr in der Lage war, die explodierenden Kosten zu tragen. (Eine ähnliche Entwicklung in der Partikelphysik hat 1954 zu der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens CERN bei Genf geführt, an dem heute zwanzig Nationen teilnehmen.) In der Fusionsforschung entstand eine erste europäische Kooperation 1983: das Großexperiment JET, das im englischen Culham angesiedelt wurde. Kleinere Anlagen arbeiten in Russland, Japan, Indien, Südkorea, Australien, in China, in der Ukraine und in den USA. Im Juni 2005 beschloss die Europäische Union gemeinsam mit sechs von diesen Partnern den Bau einer Fusionsanlage, die zum ersten Mal mehr Energie liefern soll, als sie verbraucht.

Sie soll in Cadarache in der Provence entstehen und 2016 in Betrieb gehen. Die veranschlagten Kosten liegen bei etwa fünf Milliarden Euro. Weil sie nicht der Energiegewinnung, sondern der Grundlagenforschung dienen wird, trägt sie den Namen ITER, was so viel bedeutet wie »der Weg«. Erst ihr geplanter, aber noch nicht beschlossener Nachfolger namens DEMO soll dann zu einem Fusionskraftwerk aufgerüstet werden. Das wird nicht unter acht Milliarden zu haben sein. Solche Summen hören sich erschreckend an, aber man wird vielleicht daran er-
innern dürfen, dass die Folgen der Rinderseuche BSE mit fünf Milliarden zu Buche schlugen, und dass allein die deutschen Subventionen für die Windenergie pro Jahr rund zwei Milliarden Euro kosten.

Eine technische Zivilisation, die sich hohe Zukunftsinvestitionen ohne gesicherte Rendite leistet, legt eine Risikobereitschaft an den Tag, die kein kommerzielles Unternehmen auf sich nehmen würde. Deshalb hängt die Fusionsforschung ganz von öffentlichen Geldern ab, während die Industrie passt und abwartet. Das hat allerdings auch einen unschätzbaren Vorteil. Seitdem die Militärs das Interesse an ihr weitgehend verloren haben, tauschen die Wissenschaftler aus der ganzen Welt ungehindert ihre Ergebnisse aus. Betriebsgeheimnisse, wie sie die Energiekonzerne
hüten, gibt es nicht. Die Spielregeln heißen: Transparenz und Kooperation.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Wort wie Kernfusion weckt sofort Ängste, und das ist angesichts der gewohnheitsmäßigen Lügen, die von der Nuklearindustrie verbreitet werden, kein Wunder.)

VI

Der wichtigste deutsche Partner dieser Großprojekte ist das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching. Werner Heisenberg, der ein Optimist war, hat es 1960 als GmbH gegründet; 1971 hat dann die Max-Planck-Gesellschaft die Regie übernommen. Heute beherbergt ein weitläufiger Campus im Norden von München die etwa siebenhundert Mitarbeiter dieses Forschungszentrums – unauffällige, funktionale Gebäude, denen man nicht ansieht, was dort geschieht. Nun weckt ein Wort wie Kernfusion sofort Ängste, und das ist angesichts der Existenz von Atomwaffen und der gewohnheitsmäßigen Lügen, die von der Nuklearindustrie verbreitet werden, kein Wunder. Deshalb sei zur Beruhigung der Gemüter gesagt, dass die deutschen Plasmaphysiker nicht mit radioaktivem Material arbeiten. Ihre Experimente begnügen sich mit reinem Wasserstoff.

Geleitet wird das Ganze von einem Engländer, der seit Jahrzehnten in Deutschland arbeitet und vorzüglich Deutsch spricht. Alexander Bradshaw hat als
Chemiker Bahnbrechendes in der Ober­flächenphysik geleistet. Heute gehört er zur raren Spezies der international gesuchten Wissenschaftsorganisatoren, Menschen, die sich um den Aufbau, die Finanzierung und die politische Absicherung solcher Einrichtungen kümmern. Dutzende von Partnerinstitutionen von Kalifornien bis Japan zu koordinieren, das ist allein schon eine anspruchsvolle Aufgabe.

Professor Bradshaw ist ein 63-jähriger Wissenschaftler, der sich für mehr oder weniger ahnungslose Besucher ebenso viel Zeit nimmt wie fünfzig Jahre zuvor Lyman Spitzer. Überhaupt entsprechen erfolgreiche Forscher selten dem Klischee vom weltfremden Gelehrten; in aller Regel sind sie überraschend ge-
duldig und geben, wo sie einen aufmerksamen Zuhörer vermuten, nicht ungern Auskunft über ihre Arbeit. Das ist insofern eine Gratwanderung, weil die Sprache der Physiker nicht jedermann versteht. Schön, wie sie sich Mühe geben, ihren Jargon für uns ins Deutsche zu übersetzen! Während unsereiner nur mit hausbackenen Temperaturen umgeht, die sich am Thermometer ablesen lassen, rechnen die Wissenschaftler mit einem Maß, das zugleich die Masse, die Energie und die Temperatur beschreibt: mit einer Größe, die sie Elektronenvolt nennen; aber sie sind gutmütig genug, um sie in unsere vertrauten Cel­siusgrade umzurechnen.

Bradshaws Reich, der Garchinger Campus, könnte mit seinen vielen weißen Gebäuden aus den Sechzigerjahren ebenso gut das Hauptquartier einer Versicherung oder einer Behörde beherbergen. Das Institut hat jedoch seit 1994 eine zweite Adresse in Greifswald, wo vierhundert weitere Mitarbeiter arbeiten. Zwischen den beiden Zweigen des IPP herrscht eine klare Arbeitsteilung. Wer sie verstehen möchte, muss sich allerdings, auch wenn’s schwerfällt, auf die beiden technischen Prinzipien einlassen, die eine kontrollierte Kernfusion ermöglichen.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die ganze Anlage ist achthundert Tonnen schwer; das Plasma dagegen ist unvorstellbar verdünnt.)

VII

Die Vorliebe der Naturwissenschaftler für Akronyme ist gewöhnungsbedürftig. Solche Abkürzungen gleichen einem Code, der sich nicht ohne Weiteres erschließt. Unter JET verstehen sie kein Flugzeug, sondern den Joint European Torus. ITER steht für den »Internationalen Thermonuklearen Experimentellen Reaktor«, und die Garchinger Versuchsanlage ASDEX Upgrade, die bisher größte in Deutschland, dient dem
»Axial-Symmetrischen Divertor-Experiment«. Was das genau bedeutet, wollen wir so genau vielleicht gar nicht wissen. Doch es kommt noch schlimmer: Es handelt sich nämlich bei dieser Maschine um einen sogenannten Tokamak. Das ist Russisch und bedeutet »Toroidale Kammer in Magnetischen Spulen« (Katuschka ist das russische
Wort für Spule).

Genug von diesem Kauderwelsch, das den Forschern so mühelos von den Lippen fließt. Der Tokamak hat jedenfalls die Initialzündung für die kontrollierte Kernfusion geliefert. Erfunden hat ihn nicht Lyman Spitzer in Princeton, sondern es waren Andrej Sacharow, Igor Tamm und Lew Arzimowitsch, die als Erste eine solche Maschine entwickelt haben. Das geschah 1951 in Moskau.

Die Idee ist einleuchtend. Man erzeuge ein Vakuum in einem ringförmigen Behälter, einem Torus, und schließe darin ein Plasma ein. Das ionisierte Gas heize man hinreichend hoch auf, bis die Zündtemperatur erreicht ist, und halte es durch starke Magnetfelder, die Form und Lage des Plasmas regeln, so weit in der Schwebe, dass es die Wände des Behälters nicht berührt; es würde dort sofort abkühlen, und die Heizung würde versagen.

Das hört sich nicht ganz einfach an. Tatsächlich erblickt, wer die dreistöckige Torushalle in Garching betritt – sie ist durch elektronische Schlüssel und durch Drehkreuze gesichert –, ein verwirrendes Ensemble von verschiedenen Aggregaten: die Kühlanlagen, die Magnetspulen, die Mikrowellen-, Strom- und Ionenzyklotronheizung, die Neutralinjektion, die Transformatoren, die Vakuumpumpen und die Messgeräte. Das Plasmagefäß ruht, von außen nicht einsehbar, im Innern eines riesigen Stützgerüstes. Die Maschine arbeitet so gut wie lautlos. Das einzige Geräusch kommt von den Pumpen. Die ganze Anlage ist achthundert Tonnen schwer; das Plasma dagegen ist unvorstellbar verdünnt: Seine Masse beträgt nicht mehr als 0,003 Gramm.

Der »Schuss« Nr. 22460 – ein Ausdruck, der etwas anachronistisch anmutet – wird in diesem Augenblick vorbereitet. Ein Experte versucht dem Besucher zu erklären, worum es geht. Seit Tagen ist das Plasmagefäß leer gepumpt worden, bis ein Hochvakuum von 105 Atmosphären erreicht war. Nun werden die Magnetspulen eingeschaltet, das neutrale Gas wird injiziert und die Mikrowellenheizung wird angefahren. Zur Zündung kommt es dadurch, dass die freien Elektronen beschleunigt werden und die neutralen Teilchen ionisieren: ein lawinenartiger Prozess, der zum Plasmazustand führt. Das ist Routine.

Bei dem augenblicklichen Experiment geht es um den sogenannten Divertor. Diese Komponente soll die äußere Randschicht des Plasmas ablenken und damit die Wärmeisolation verbessern, die Gefäßwände gegen die Teilchen aus dem Plasma abschirmen und Verunreinigungen wie das Helium, die »Asche«, die bei der Fusion entsteht, entfernen. Als Material für die schützenden Platten wird hier Wolfram ausprobiert, das Element mit dem höchsten Schmelzpunkt. Überhaupt wird die Anlage fortwährend nachgerüstet; das ist ja der eigentliche Sinn der experimentellen Arbeit.

Die Torushalle wird vor dem »Schuss« geräumt. Der Kontrollraum mit seinen zweihundert Arbeitsplätzen erinnert an Überwachungszentralen, wie man sie von der Raumfahrt her kennt. Von dort aus kann man nun das kosmische Feuer im Plasmagefäß beobachten. Fast verzögerungsfrei erscheinen die Messergebnisse auf dem Monitor. Der Experte ist erleichtert. Das Experiment scheint gelungen zu sein. Noch am selben Tag sind zwanzig weitere »Schüsse« geplant.

Allerdings hat das Ganze nur fünf Sekunden gedauert. Das liegt daran, dass der Tokamak nur gepulste Reaktionen und keinen Dauerbetrieb erlaubt, weil eines der drei Felder, die in der Maschine wirken, durch eine Transformatorspule erzeugt werden muss, die nicht kontinuierlich arbeitet, weil sie immer wieder von Neuem hochgefahren werden muss. In Garching werden deshalb nur Pulse von maximal zehn Sekunden erreicht. Für eine spätere Nutzung der Fusionsenergie ist das ein gravierender Nachteil.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Auf den ersten Blick sieht jedes Modul aus wie eine Laubsägearbeit von Gigantenkindern.)

VIII

Ein konkurrierendes Bauprinzip, der Stellarator, dessen Name auf seinen Erfinder Lyman Spitzer zurückgeht, vermeidet diese Schwierigkeit. Er wendet, um das launenhafte Plasma zu beherrschen, eine Reihe von andersartigen Tricks an. Das geschieht am zweiten Standort des IPP, in der kleinen Hansestadt Greifswald in Pommern. Sie beherbergt eine angesehene Universität, die schon 1456 gegründet wurde, und seit der Wende hat sie sich zu einem wichtigen Zentrum der medizinischen und physikalischen Forschung entwickelt. Architektonisch ist der Greifswalder Zögling dem Garchinger Campus bereits über den Kopf gewachsen. Der Bau ist großzügig, hell, ja sogar glanzvoll; er wirkt wie ein Paradies für Forscher und Techniker. Der Stellarator, der dort gebaut wird, trägt einen Namen, den man an der Ostsee kaum vermutet; er heißt nämlich WENDELSTEIN 7-X. Das ist eine merkwürdige Reminiszenz an das »Matterhorn-Projekt« aus den Fünfzigerjahren.

Offenbar haben die Erbauer es nach wie vor auf Spitzenleistungen abgesehen. Der Stellarator ist komplexer und teurer als die Garchinger Anlage. Er wird mindestens 300 Millionen Euro kosten. WENDELSTEIN 7-X wird etwa 725 Tonnen wiegen, obwohl das Fusionsplasma, das darin eingeschlossen wird, nur Milligramm schwer ist. Es ist die einzige Maschine in Deutschland, deren Magnetspulen durch Supraleitung gekühlt werden; der Strom fließt also ohne Widerstand, was die Leistung entscheidend erhöht. Auch bei der Plasmaheizung werden neue Wege beschritten. Man setzt hier auf ECRH, eine neu entwickelte Mikrowellenheizung. Die Gefäßwände, auf die zehn Megawatt Leistung einwirken, so viel wie von zehntausend Herdplatten, werden durch Hitzeschilde aus faserverstärktem Kohlenstoff geschützt. Vor allem aber ist dieser Reaktor so ausgelegt, dass er im Dauerbetrieb laufen kann, weil er ohne Transformator auskommt. Das ist ein entscheidender Vorteil.

Der Preis dafür ist eine Technik, für die es kein Vorbild gibt; alle Komponenten mussten am Computer einzeln neu entwickelt werden. Die Anforderungen an die vielen Zulieferer in ganz Europa sind enorm. Die Leute, von denen das Gelingen des Projekts abhängt, sind in dieser Phase weniger die Physiker als die Ingenieure und die Techniker.

In riesigen Montagehallen kann man ihre Arbeit beobachten. Schon das Herzstück der Anlage, der Torus, der das Plasma aufnehmen soll, gleicht keinem Ring mehr; er sieht deformiert aus, so als hätte ein Elefant darauf herumgetrampelt. Sein Querschnitt nimmt dadurch bohnenförmige bis dreieckige Gestalt an. Einen noch abenteuerlicheren Eindruck macht die Form der Magnetspulen. Auf den ersten Blick sieht jedes Modul aus wie eine Laubsägearbeit von Gigantenkindern. Das liegt an der ausgeklügelten Geometrie der Komponenten, die von einer fünffachen Symmetrie bestimmt ist. Und wozu das alles?

Trotz seiner inhärenten Vorteile war der klassische Stellarator, wie Spitzer ihn entwickelt hat, ins Hintertreffen geraten, weil sich die Feldstörungen und Turbulenzen im Plasma als schwer beherrschbar erwiesen. In Greifswald glaubt man diese Probleme theoretisch gelöst zu haben. WENDELSTEIN soll den Beweis dafür erbringen. Jetzt kämpfen die Techniker mit den Mühen der Realisierung: mit
Detailfragen, Lieferschwierigkeiten, Budget-Engpässen. An ihnen liegt es, dass ihre ehrgeizige Maschine erst 2014 in Betrieb gehen wird.

Aber auch in Garching wird weitergeforscht. Der Wettlauf zwischen Stellarator und Tokamak ist noch nicht entschieden, sagt Thomas Klinger, der wissenschaftliche Leiter des WENDELSTEIN-Experiments in Greifswald; er zieht einen Vergleich mit dem Verbrennungsmotor, bei dem ebenfalls zwei verschiedene Prinzipien bis heute erfolgreich miteinander konkurrieren, der Otto- und der Dieselmotor. »Wir versuchen, in beiden Fällen dem Plasma seine Geheimnisse zu entreißen«, sagt Professor Bradshaw in Garching. »Dabei geht es um interne Transportbarrieren, die verhindern, dass Partikel aus dem magnetischen Käfig ausbrechen, sodass das Plasma zu schnell an Energie verliert. Wenn das gelingt, entsteht zudem ein nichtinduktiver Strom, der die Leistung verbessert und die Pulszeit verlängert, was besonders für den Tokamak von Bedeutung wäre, weil damit sein Dauerbetrieb möglich würde.

Schon vor zwanzig Jahren wurde ein solcher selbst organisierender Prozess – wir nennen ihn H-Mode – zum ersten Mal erreicht, aber wir verstehen bis heute noch nicht ganz, wie er entsteht und warum er stabil ist. Jedes Jahr werden fünf neue
Theorien vorgeschlagen, aber bis heute weiß man nur, wie man dahin kommt, aber nicht, was das Plasma wirklich tut.«

Auch heute gibt es also noch genügend viele Unbekannte in dem Kalkül mit der Fusionsenergie. Dass die Forscher solche Wissenslücken einräumen, spricht nur für ihre Seriosität.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Bei der Fusion von 86 Gramm Brennstoffgemisch wird die gleiche Energiemenge frei wie bei der Verbrennung von tausend Tonnen Kohle.)

IX

Die Vorzüge eines Fusionsreaktors sind klar. Der Brennstoff ist in unerschöpflicher Menge verfügbar. Nicht nur Wasserstoff, sondern auch Deuterium ist, anders als fossile Rohstoffe, leicht aus den Weltmeeren zu gewinnen und relativ billig. Auch Lithium, aus dem im Kraftwerk Tritium entsteht, ist weltweit so gut wie überall vorhanden. Der Wirkungsgrad eines solchen Reaktors ist hoch; bei der Fusion von 86 Gramm Brennstoffgemisch wird die gleiche Energiemenge frei wie bei der Verbrennung von tausend Tonnen Kohle.

Eine Kernschmelze ist physikalisch ausgeschlossen. Eine Katastrophe wie in Tschernobyl kann es nicht geben, weil nukleare Kettenreaktionen nicht stattfinden. Auch werden, anders als bei anderen Kraftwerken, keinerlei Treibhausgase wie CO2 ausgestoßen. Auch die Strahlungsrisiken halten sich in Grenzen. Während bei der Kernspaltung das radioaktive Uran als Brennstoff dient und im Reaktor hochgiftige Spaltprodukte entstehen, für deren sichere Endlagerung es keine Lösung gibt, braucht ein Fusionskraftwerk nur ein einziges radioaktives Element, das Tritium.

Bei den Forschungsreaktoren in Garching und Greifswald spielt dieser überschwere Wasserstoff noch keine Rolle, weil es dort nicht um die Leistung eines Kraftwerks geht. Um ein »brennendes Plasma« zu erreichen, muss man bei der Fusion jedoch Tritium einsetzen. Dieses Isotop ist radioaktiv, wird aber nach seiner Schadwirkung in die niedrigste Klasse vier eingestuft; seine Strahlung ist zu schwach, als dass sie in den menschlichen Organismus eindringen könnte. Es kann im Reaktor selbst erbrütet werden, indem ein »Blanket« aus angereichertem Lithium-6 mit Fusions-Neutronen beschossen wird. Das soll bei den Großprojekten ITER und DEMO geschehen. Allerdings wird dieses »Teufelszeug« nur in sehr geringen Mengen, nämlich im Grammbereich, angewendet. Im Gegensatz zu anderen Radionukleiden diffundiert es sofort, und seine Halbwertszeit liegt nicht, wie die von Uran-238, bei Milliarden von Jahren. Schon nach 12,3 Jahren hat sich die Zahl der strahlenden Atome halbiert.

Ungefährlich ist das nicht; die bei der Fusion freigesetzten Neutronen werden nämlich die Reaktorwände nach und nach aktivieren, sodass sie im Abstand von fünf bis acht Jahren ausgetauscht werden müssen. Die Aktivität des Abfalls nimmt jedoch rasch ab, nach etwa hundert Jahren auf ein Zehntausendstel des Anfangswertes, sodass die Endlagerung beherrschbar erscheint.

Ganz ohne Risiko ist Energie offensichtlich nicht zu haben. Das erfährt bereits jedes Kind beim Zündeln, und schon Prometheus musste, als er der Menschheit das Feuer brachte, mit gewissen Unannehmlichkeiten rechnen. Nicht anders ist es im Großen, bei dem Versuch, die Glut der Sonne auf der Erde zu entfesseln.

Wann das gelingt, steht dahin. Die Forscher arbeiten beharrlich daran, aber sie sind, was ihre Prognosen betrifft, vorsichtig geworden. Immerhin können sich die Fortschritte sehen lassen, die im Lauf der letzten Jahrzehnte gemacht worden sind. So wurde bei dem europäischen Reaktor JET bereits eine erhebliche Ausbeute erreicht; er kann zwei Drittel der Energie erzeugen, die er zuvor verschlingt. Bei ITER rechnen die Experten mit mindestens der zehnfachen, vielleicht sogar der vierzigfachen Leistung.

Die Hoffnungen der deutschen Forscher richten sich jetzt auf dieses Projekt, dem sie auf vielfache Weise zuarbeiten. An seinem Standort in der Provence ist bisher noch nicht einmal ein Loch zu sehen, nur ein paar Container – und Wildschweine, die durchs Unterholz brechen. Aber die Gelder sind vorhanden und die Pläne weit gediehen.

Angesichts der Chancen, welche die kontrollierte Fusion bietet, mutet es seltsam an, dass diese Option kaum thematisiert wird. Das kann nur daran liegen, dass die Öffentlichkeit sofort panisch reagiert, sobald von Atomen die Rede ist, also von derselben Materie, aus der unser Körper besteht. Sachkenntnisse sind dabei nur hinderlich, und dass das Gelingen des Projekts nicht nur für die Energiepolitik, sondern auch für den Klimaschutz ganz offensichtlich von entscheidender Bedeutung wäre, scheint in der Diskussion kaum eine Rolle zu spielen.

Auch dass Fusionskraftwerke einer globalen Wasserstoffwirtschaft den Durchbruch verschaffen würden, weil sie diesen Brennstoff ohne die energieaufwendige Elektrolyse aufbereiten könnten, lässt Grüne und andere Beden-kenträger kalt.
Es sieht ganz so aus, als gebe es nur zwei langfristige Möglichkeiten, der Energieprobleme der Menschheit Herr zu werden. Der einzige Kandidat, der mit der Fusion konkurrieren kann, ist, vermutlich eher als die Windenergie, die Solartechnik, die bei sinkenden Kosten ebenfalls Chancen hat, die endlichen Brennstoffe zu ersetzen. »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« – so war das alte Lied nicht gemeint; doch welcher von diesen beiden Wegen früher zum Ziel führen wird, das weiß heute niemand.