Alles in Ordnung?

In der U-Bahn steht unser Leser einer weinenden 16-Jährigen gegenüber. Statt sie aufzumuntern, schaut er weg – aus Angst, dass sich das Mädchen bedrängt oder bloßgestellt fühlt. Sind seine Bedenken berechtigt?

Illustration: Serge Bloch

»Als ich gestern in der U-Bahn stand, bemerkte ich ein etwa 16-jähriges Mädchen, das sich mit gesenktem Kopf neben die Tür der stehenden U-Bahn lehnte. Ihre Lippen zuckten, der Gesichtsausdruck war traurig. Kurz vor der Abfahrt erschien plötzlich eine Schar lachender Teenager, die etwas in Richtung des Mädchens warfen. Nach der Abfahrt kämpfte das Mädchen sichtlich mit den Tränen, stand verloren und allein da. Ich hatte den Impuls, sie aufzumuntern, ihr etwas Nettes mit auf den Weg zu geben, hatte als alter weißer Mann aber Bedenken, mich ihrer anzunehmen. Was kann man in so einer Situation tun? Schweigen und Wegsehen fühlte und fühlt sich immer noch falsch an.« Michael H., Berlin

Es ist schade, dass die gesellschaftlichen Kämpfe der vergangenen Jahre auch Schäden zwischen den Menschen angerichtet haben. Jetzt haben zwar alle, oder zumindest die Interessierten, ein Bewusstsein dafür, dass stets mitbedacht werden muss, aus welcher Position jemand spricht, was für Privilegien diese Person genoss und dass nicht alle die gleichen Voraussetzungen und Chancen hatten und haben, was natürlich schön und wichtig ist, aber als Begleiterscheinung ging damit einher, dass vieles, was einfach nur nett wäre, versehentlich mit in Verruf geraten ist. Zum Beispiel, was Sie sich versagt ­haben. Nennen wir es eine geschlechter­übergreifende Mitmenschlichkeit.

Andererseits kann es auch ganz genau richtig gewesen sein, sich in der von Ihnen geschilderten Situation zurückzuhalten. Und zwar nicht, weil Sie soundso alt und ein Mann sind. Sondern weil sich nicht jeder Mensch öffentlich trösten lassen will, auch und vielleicht sogar schon gar nicht im ­Alter von 16 Jahren. Außerdem haben Sie, wenn ich das aus der Distanz beurteilen kann, nicht genug davon mitbekommen, was zwischen den Teenagern vorgefallen war, um sich legitimerweise einzumischen.

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Ich versuche, mich in eine 16-Jährige hineinzuversetzen, wie ich ja auch einmal eine war, und es fällt mir schwer, mich von einer älteren Person (gemeint: deutlich älter als ich selbst), die mich da vielleicht trösten oder mir helfen will, nicht bedrängt oder irgendwie bloßgestellt zu fühlen. In diesem Alter ist einem doch eh schon alles peinlich. Dann wiederum: Nur Sie waren bei dieser Situation zugegen. Sie haben nichts gesagt und grämen sich noch heute. Das wird schon einen Grund haben. Falls Sie noch einmal in eine solche Situation kommen: Ein freundliches »Ist alles in Ordnung?« ist bestimmt nicht verboten. Auch nicht aus Ihrer Sprecherposition.