Wegsehen oder petzen?

An der Supermarktkasse beobachtet unsere Leserin, wie die Frau hinter ihr eine Wodkaflasche in ihrem Rollstuhl versteckt – und geht davon aus, dass sie den Alkohol stehlen will. Sollte sie etwas sagen?

Illustration: Serge Bloch

»Als ich an der Supermarktkasse stand, sah ich, dass die Kundin hinter mir (Rollstuhlfahrerin) wenige Produkte auf das Kassenband legte, nicht aber eine Wodkaflasche, die sie noch im Rollstuhl liegen hatte, neben ihren Beinen. Unsere Blicke trafen sich kurz. Ich legte weiter meine Einkäufe auf das ­Band, und als ich noch einmal zu ihr sah, hatte sie die Flasche hinter ihrem Körper versteckt. Es war völlig klar, dass sie die Flasche stehlen will. Was hätte ich tun sollen? Sie ansprechen und somit bloßstellen? Ihr anbieten, dass ich die Flasche zahle? Dem Kassierer Bescheid geben? Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Stehlen einfach akzeptiert wird, habe aber letztendlich nichts gesagt. War das richtig?« Kira K., Münster

Was allerdings auch sein könnte, ist, dass die Wodkaflasche bereits im Besitz der Frau war, als sie in den Supermarkt kam, und dass sie ungern mit dieser gesehen werden wollte, weil es ihr entweder peinlich war, unterwegs Alkohol zu konsumieren und somit möglicherweise als Alkoholikerin abgestempelt zu werden, oder aber, weil sie befürchtete, man könne übersehen haben, dass sie bereits mit der Flasche hereinkam, und nun glauben, dass sie stiehlt. Wir wissen es nicht. Sie wissen es nicht.

Aber nehmen wir einmal an, Sie hätten mit Ihrer Vermutung recht. Hätten Sie sich dann irgendwie verhalten müssen? Ich glaube nicht. Es ist nicht Ihre Pflicht als Supermarktbesucherin, gleichzeitig auch noch Hausdetektivin zu sein. Es liegt in Ihrem eigenen Ermessensspielraum, wie Sie sich in einer solchen Situation verhalten wollen. Wenn Ihnen die Frau sympathisch ist, sagen Sie halt einfach nichts. Eine moralische Verpflichtung, andere bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu denunzieren, gibt es nicht.

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Von Tiktok ausgehend war voriges Jahr die Aktion einer Italienerin ein großer Internet-Hit, die in Venedig hinter mutmaßlichen Taschendieben herlief, diese filmte und mit heiserer Stimme rief: »Attenzione, pickpocket!« Sie wurde dafür auf der ganzen Welt gefeiert. Doch es stellte sich heraus, dass es der Dame dabei wohl nicht nur um die Sicherheit von Touristen ging, sondern auch darum, Roma als Diebe zu brandmarken. Die Frau, die so selbstgerecht für Recht und Ordnung sorgte, ist Mitglied der rechtspopulistischen Partei Lega. Oft hatte sie die von ihr gefilmten Personen nicht beim Stehlen beobachtet, sie erkenne die Diebe auch so, sagte sie der New York Times, dafür habe sie einen sechsten Sinn. Man nennt es auch racial profiling. Das führt natürlich sehr weit weg von Ihrem Fall, zeigt aber, wie unangenehm es sein kann, wenn Bürger sich zu Polizisten aufschwingen. Sie haben auf jeden Fall alles richtig gemacht.