Es tut ihm leid

Justin Bieber steht in halb Europa auf Platz 1, schon klar. Viel interessanter ist sein neues Musikvideo, das an ein altes Meisterwerk von Bob Dylan erinnert.


Oh. Wow. Bitte unbedingt mal dieses Video ansehen! Schon klar, Justin Bieber, oje, bitten fangen wir diese Diskussion jetzt nicht an. Aber sein Hit Sorry steht auf Platz 1 in den USA, Kanada, Irland, Spanien, Portugal, in der Türkei und den Niederlanden. In Deutschland hält sich das Lied seit Wochen auf den obersten Plätzen, einen Nerv trifft er also. Viel wichtiger aber ist das Video, es hat den Spitzenplatz völlig verdient. Ein kleines Kunstwerk, ein Video, bei dem man immer wieder kurz kichern muss, wie gut da alles aufgeht.

Zu sehen ist ein Mädchen, traurig, erst zuhause, dann unterwegs. Und während sie umhergeht, kurz am Computer sitzt, auf die Straße tritt, ist im Bild ständig die jeweils gesungene Zeile des Songtexts zu lesen. Mal steht der Text auf einem zerknitterten Stück Papier, mal auf einer Glastür, mal an einer Hauswand. Mal schreibt das Mädchen ihn selbst, mal taucht er einfach auf. Und dann wird alles auf eine Art surrealistisch, dass René Magritte seine Freude dran gehabt hätte: Das Mädchen nimmt Teile der Umgebung in die Hand, faltet sie, deckt weitere Textteile auf.

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Das ist nicht völlig neu, aber ein perfekt gemachtes, faszinierendes Vexierspiel. Und natürlich eine hübsche Verneigung vor der Tradition des »Lyric Videos«. Angefangen hat das in den 60er Jahren mit Bob Dylans berühmtem »Subterranean Homesick Blues« (falls jemand noch ein früheres Beispiel weiß, bitte gern melden!), da stand Dylan auf der Straße mit einem Stoß beschriebener Blätter und ließ sie einzeln im richtigen Tempo ein zu Boden fallen, sodass immer die gerade gesungenen Worte im Bild waren. Seitdem wird der Trick immer wieder aufgegriffen (siehe unten).

Das Großartige an Lyric Videos ist, dass den zwei Ebenen Ton und Bild noch eine dritte hinzugefügt wird: Es gibt, simpel gesagt, nicht nur was zu hören und zu schauen, sondern auch was zu lesen. Und das ist viel mehr als nur ein Effekt, denn wo normale Popvideos oft nur vorbeiplätschern, hält das Lyric Video den Zuschauer am Kragen, bringt ihn dazu, sich zu konzentrieren, dranzubleiben, dem Inhalt zu folgen.

Dass im Fall von »Sorry« der Sänger selbst nicht in Erscheinung tritt, mag für manche ein willkommener Nebeneffekt sein. Vor allem aber funktionieren richtig gut gemachte Lyric Videos wie ein eigenes künstlerisches Genre, das einen immer wieder zum staunen bringt, wie elegant sich Schrift im bewegten Bild einsetzen lässt.

Erinnert an den Vorspann des französischen Films „Delikatessen" (ja, auch mal wieder ansehen!)
Wer kauft das? Muss man gar nicht.
Was dem Video gut tun würde Weniger Lied.

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Und weils so Spaß macht, hier eine Auswahl der schönsten Beispiele zwischen Dylan und Bieber:

1. Justice: »DVNO«. Ein Neonflirren aus ständig neu entstehenden Firmenlogos.

2. Lushlife: »Magnolia«. Sehr hübsche Low-Key-Variante: Hier sind die Schlagwörter aus Pappe nachgebaut, die Musiker tragen sie als Helme.

3. Death Cab for Cutie: »Little Bribes«. Lyrik für Romantiker: Die Textteile tauchen in Alltagssituationen auf als Teig in der Pfanne, als verwaschene Buchstaben im Sand.

4. Cardiknox: »Technicolour Dreaming«. Buchstaben und Wörter montiert zu grauenhaften 70er-Jahre-Postern, Horror-Filmplakaten, Werbungen. Großartig scheußlich!

5. Alex Mofa Gang: »Die Reise zum Mittelmaß der Erde«. Vor zwei Wochen erst erschienen, Punkpop aus Deutschland - mit einem sehr netten Video, in dem der Text am Arbeitstisch entsteht, unablässig neu geschrieben, gebastelt, collagiert von eiligen Händen im Zeitraffer.

 
6. Jay-Z: »Hello Brooklyn«. Quasi die Apple-Werbefilm-Version der Idee, hier steht die Schrift immer einen Hauch zu elegant im Bild.

Jay Z - "Hello Brooklyn" from Greg Solenström on Vimeo.